Aufprall

Roman zum Thema Aggression

von  Mutter

Mit schnellen Schritten gehe ich zu ihm rüber, knie mich hin und berühre ihn an der Schulter. Seine einzige Reaktion ist, sich noch weiter einzurollen. Wie ein Fötus.
„Tiger. Hey, ich bin’s – Luca.“ Ich kann hören, wie Manu hinter mir auftaucht, ihre Anwesenheit an meiner Schulter fühlen. „Hat er schon was gesagt?“, frage ich sie, ohne mich umzudrehen.
„Nein. Er wirkt total katatonisch.“
Vorsichtig streiche ich ihm über die Stirn – er zuckt zurück. Als ich ruhig weitermache, lässt er es geschehen, wehrt sich nicht mehr. „Wo bist du gewesen?“, flüstere ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
Aber er antwortet – so leise, dass ich ihn kaum verstehe. „Ich konnte ihr nicht helfen.“ In seinen Augen bilden sich Tränen, sammeln Kraft, bis sie endlich seine Wangen herunter laufen, um in die Decke zu sickern.
„Was ist passiert, Tiger? Was ist an diesem Morgen geschehen?“
Er hebt etwas den Kopf, sieht mich aus leeren Augen verzweifelt an. Seine Wangen sind eingefallen, er trägt dunkle Ringe unter den Augen und sein Atem riecht furchtbar. Alles an ihm erinnert mich an Verwesung.  „Ich habe versucht, sie zu beschützen. Niemandem etwas von ihr erzählt. Aber es hat nichts genützt.“
„Wie hast du sie beschützen wollen? Was hast du gemacht?“
Er schüttelt resigniert den Kopf, lässt ihn wieder auf das Lager fallen, als fehle ihm jede Kraft. In diesem Moment ist von draußen Motorengeräusch zu hören. „Dirty?“, fragt Manu.
„Ich nehme es an. Gehst du gucken?“ Ich habe mich halb umgedreht, sehe zu ihr hoch. Sie nickt. Schickt ein schwaches Lächeln in meine Richtung. So eins, was gutgemeint ist, aber wenig hilft. Weil man die Hoffnungslosigkeit des anderen spürt. All die Tage hatte ich das Gefühl, Tiger ist der Schlüssel. Ich müsse nur ihn finden, und der ganze Nebel, die Dunkelheit würde verschwinden. Alle Puzzleteile, die unsortiert in meinem Kopf herumschwirren, würden zueinander finden und mit einem Klicken ein Gesamt-Bild ergeben.
Diese Hoffnung zerspringt gerade in tausend Teile. Tiger scheint wenig mehr als ein geistiges und emotionales Wrack – ich bin mir nicht sicher, ob ich eine einzige klare Aussage aus ihm herausbekommen werde.
Ich hocke weiter bei ihm, bis ich Manu und Dirty oben auf der Treppe höre. Stehe auf und gehe ihnen entgegen.
„Hey. Was sagt er?“, fragt Dirty mit besorgter Miene.
„Nichts, leider. Er ist irgendwie komplett weggetreten. Ich habe keine Ahnung, wie man ihn da wieder rausbekommt.“
Dirty nickt und geht rüber zu dem Lager. Manu und ich folgen ihm. Als er den Geruch wahrnimmt, verzieht er angewidert das Gesicht. „Bäh, ist das ekelhaft. Wie lange vegetiert der hier schon rum?“
Weder Manu noch ich machen uns die Mühe, die Frage zu beantworten – ich glaube nicht, dass Dirty wirklich eine erwartet hat. 
Der Franzose hockt sich neben Tiger und versucht ihn anzusprechen. Als der Junge nicht reagiert, schüttelt er ihn an der Schulter. „Hey!“ Seine Bewegungen werden ruppiger.
„Lass das“, versucht Manu einzuschreiten und geht nach vorne.
„Ich glaube nicht, dass das etwas nützt“, sage ich. „Er hat sich irgendwie in seine eigene Welt zurückgezogen.“
Frustriert erhebt sich Dirty und nickt. „Aber er ist der einzige, der uns etwas erzählen kann. Wir brauchen ihn.“
Ich gehe an Manu vorbei, lege ihr sanft die Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Ihr Arm geht legt sich kurz um meine Hüfte, lässt mich wieder los. Ein weiteres Mal gehe ich runter in die Knie zu Tiger, berühre ihn sachte mit den Fingerspitzen an der Schläfe. Diesmal kuschelt er sich in meine Hand, als wolle er die Berührung verstärken. Ich streichle seinen Kopf und rede beruhigend auf ihn ein – ich weiß nicht, was. Irgendwelchen Nonsens. Im Hintergrund nehme ich wahr, wie Dirty sich unruhig hin und her bewegt. Ihm passt das Ganze nicht, das dauert ihm zu lange. Wahrscheinlich würde er am liebsten die Wahrheit aus Tiger herausschütteln – und ich bin nicht mal sicher, ob ich ihn nicht machen lassen würde, wenn ich mir davon Erfolg versprechen würde. Meine Frustration ist mindestens so groß wie seine.
Stattdessen konzentriere ich mich ganz auf Tiger. Lasse mich von meinen Handbewegungen und seinem ruhiger werdenden Atem in einen hypnotischen Sog herunterziehen.
Ich bin nicht sicher, wie viel Zeit vergeht. Zwischendrin höre ich Dirty und Manu flüstern, dann rüber zu den Fenstern gehen, weiter flüstern. Seine Stimme wird manchmal lauter, bis Manu ihn zischend zurechtweist. Scheinbar ohne Auslöser fängt Tiger wieder an zu weinen, schluchzt. Oder er packt meine Hand, presst die Handfläche fest gegen die Seite seines Gesichtes. Als könne ich ihm Halt geben.
Plötzlich taucht zu meiner Linken am Fenster ein Schatten auf, verdunkelt den hellen Fleck. Wie in Sirup versuche ich zu verarbeiten, was das bedeutet, was passiert. Bevor ich zu einem Ergebnis komme, taucht der Schatten vor mir auf – türmt sich über mir und Tiger auf. Als nächstes zuckt ein gleißender Schmerz durch meine Rippen, nachdem mich dort ein hammerharter Schlag trifft.
Mit einem Grunzen falle ich in mich zusammen, gefaltet in der Mitte. Der nächste Tritt erwischt mich seitlich am Kopf. Ich kann ihn gerade noch wegdrehen, um nur gestreift zu werden, trotzdem verschwimmt mein Blick. Das modrige Bettenlager dreht sich in einem verschwimmenden Kreisel.
Meine Stirn presst sich gegen den rohen Beton, die Kühle hilft mir kurzzeitig, mich zu erden. Di Orientierung wiederzufinden.
Aber eine Sekunde später erfolgt der nächste Tritt direkt von oben – wieder mit voller Wucht auf den Rippenbogen. Der noch nicht verklungene Schmerz dort flammt erneut hell auf, raubt mir den Atem. Ich habe das Gefühl, als werde ich zertreten. Wie ein Käfer, dem der schützende Panzer platzt. Aber der nächste Tritt, von dem ich erwarte, dass er mir die Lichter löscht, kommt nicht.
Stattdessen höre ich Dirtys Aufschrei und einen dumpfen Zusammenprall. Mühsam versuche ich mich hochzustemmen. Rutsche ab, schramme mir die Handflächen auf dem rauen Betonboden auf. Meine Schulter schmerzt, obwohl ich mich dort an keinen Tritt erinnern kann. Ich rolle mich zur Seite weg und sehe, wie Dirty in geduckter Stellung einem Schwarzhaariger gegenüber steht. Er trägt graue und grüne Militärklamotten, und sein Dreitagebart verdeckt die Narbe an seinem Hals nur ungenügend. Es ist eindeutig der Mann, den der Rezeptionist beschrieben hat. Ich versuche, die Knie unter den Körper zu bekommen, um mich aufzurichten. Ich muss Dirty helfen. An der Peripherie meiner Wahrnehmung bewegt sich Manu – offenbar unentschlossen, ob sie mir, Tiger oder Dirty helfen soll. Mein Magen brennt und mir ist speiübel. Ich versuche, den Würgreflex zu unterdrücken. Dirty tritt nach dem Franzosen – ein harter Kick auf halber Höhe. Mühelos blockt ihn sein Gegner mit dem Unterarm ab, kontert mit einem geraden Fauststoß. Dirty weicht mit dem Oberkörper zurück, pendelt weg. Noch sind die beiden dabei, sich gegenseitig einzuschätzen – die Schwachpunkte des Gegners auszuloten, ihn zu analysieren. Der Söldner springt nach vorne, attackiert. Dirty weicht mit fließendem Bewegungen über den Beton zurück – weicht aus, pariert, kontert.
Mit einem Stöhnen komme ich in die Hocke. Manu ist an meiner Seite, versucht, mich zu stützen. Mir tut alles weh. Als sei ich aus großer Höhe auf den Boden aufgeprallt.
Als ich es endlich schaffe, mich aufzurichten, wird mir klar, dass ich mich beeilen sollte. Der Franzose hat mit einem dreckigen Grinsen ein Kampfmesser hinten aus seinem Gürtel gezogen und das Gleichgewicht so zu seinen Gunsten verschoben.
Dirty ist wachsam – er hat lange genug Kampfsport gemacht, um nicht chancenlos zu sein. Aber ich nehme an, der Legionär hat jahrelange Nahkampf-Erfahrung. 
Mit einer Finte verkürzt er die Distanz zu Dirty, verhindert so, dass der Türsteher seine weiter reichenden Kicks nutzen kann. Sticht Unterhand nach Dirtys Bauch, aber der lenkt den Stich mit einem Hieb seiner Handwurzel auf den Ar des Gegners ab. Packt das Handgelenk. Und sofort zuckt sein Knie hoch, trifft den Ellenbogen des Gegners. Mein eigenes Gesicht verzeiht sich vor Schmerz. Ich kann nachfühlen, wie es ihm gerade gleißend durch den Arm fahren muss.
Der Söldner lässt das Messer fallen, während Dirty ihn weiterhin an der Hand gepackt hält. Mit einem triumphierenden Heulen hämmert ihm Dirty zwei Mal das Knie in die Magengrube. Entlässt ihn immer noch nicht aus seinem eisernen Griff, der dem Söldner fast das Gelenk auskugelt.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 derNeumann (26.08.10)
Guten Tag.
Nachdem ich mich zuvor auf diesem Forum etwas geärgert habe (ich war einige Wochen nicht mehr aktiv und etwas schockiert), habe ich hier doch noch etwas zum Abspannen gefunden.
Der Text gefällt mir, auch wenn da noch ein paar kleine Unebenheiten drin sind. Vielleicht ist es insgesamt auch zu langatmig formuliert oder es wurde zu wenig auf das Streichen unnötiger Formulierungen geachtet. Aber das gehört zur Nach- und Überarbeitung und stört darum meinen ersten Eindruck nicht.
Ein Tipp aber: die wörtliche Rede muss gekürzt werden. Zwar sind hier nicht diese unseligen amerikanischen Monologe, die zu Tode langweilen, aber dennoch ist mir das Gesprochene noch zu lang. Auch kann auf erklärende Zusätze verzichtet werden, das reine gesprochen Wort reicht oftmals. Dadurch kann man mit der wörtlichen Rede Tempo machen.

Jetzt versuche ich mal den Anfang des Romans zu finden.
es grüßt: der Neumann

 Mutter meinte dazu am 27.08.10:
N'abend ... :)
Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Und ja, Überarbeitung, Straffung und Kürzung steht auf jeden Fall noch an.

Das mit den Zusätzen zur wörtlichen Rede - hmmm, ich fürchte, das fällt mir nicht leicht. Ich finde wörtliche Rede oft zu nackt, wenn si zu sehr alleine steht. Aber ich schaue mir das noch mal an und gucke, ob es nicht der einen oder andere Stütze weniger bedarf.

Nochmals Danke - konstruktive Kritik bekommt man hier ja nicht so oft.

M.

 derNeumann antwortete darauf am 01.09.10:
Guten Tag.
Vielleicht macht es die Mischung aus Nacktheit und Angezogensein. Oder es kommt auf den Platz an, auf den Ort, auf die "Umgebung". Bei einer Kindstaufe ist ein Bikini unangebracht, aber im Sommerurlaub am Strand mag der Skianzug falsch sein.
Mal mit und mal ohne die erklärenden Zusätze zur wörtlichen Rede? Ohne wird der Lesefluss schneller, mit langsamer. Würde der Inhalt nun als die Fahrstrecke metaphert, so würden die Kurven ein Verlangsamen erfordern, damit der Fahrer/Leser in der Spur bleibt und nicht herausgeschleudert wird. Aber ab der Mitte der Kurve muss Gas gegeben werden und auch die langen, geraden und vielleicht langweiligen Strecken brauchen Tempo.
Die wörtliche Rede ist das Gaspedal des Schreibers.
es grüßt: der Neumann
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram