II.
 Inhalt 
IV. 

III.

Erzählung zum Thema Abrechnung

von  Lala

III.

Friederike pflegte Kurts Grab sorgsam. Niemand hätte ihr sowohl in Anzahl ihrer Grabbesuche, der Verweildauer und der Auswahl der Blumen einen Vorwurf machen können. Nein, sie war sich sicher, dass alles pikobello war. Aber als sie mit der Gedichtkarte an seinem Grab stand, zögerte sie, das Sonett in den Kranz zurückzustecken. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, ob sich Kurt je etwas aus Worten gemacht hat? Kurt und Worte? Kurt hatte in der Filterfabrik gearbeitet und Maschinen betreut, die vollautomatisch Kaffeefilter produzierten. Nein, Worte hatte Kurt nie viele gemacht. Zärtlich konnte er zwar sein, aber seine Zärtlichkeit war spärlich und ungerecht verteilt. Piet hatte Friederike eingeladen und nicht Kurt. Es war ihr Sonett, so wie es ihr Ari war und Katze eben zu Kurt gehörte. Ein leichter Schauder ging ihr über den durchgedrückten Rücken, als sie an Katze dachte und wie sie sich von Katze verabschiedet hatte.


Das Tier hatte panische Angst. Die Schwärze der Pupillen füllten die Augen komplett aus. Das Vieh schrie zum Gott erbarm. Aber vor Katze saß nicht Gott sondern Friederike. Die Welt war seltsam. Zur Zeiten der Kinderlandverschickung war Friederike als junges Mädchen auf einem Hühnerhof gelandet und hatte viel gelernt.

Aber die kopflosen Hühner, die wie bescheuert über den Hof rannten, waren nicht das Seltsamste was die kleine Friederike gesehen oder erlebt hatte. Vielleicht waren es die steifgefrorenen Piloten, die in schneebedeckten Äckern steckten oder die Stunden im Kartoffelkeller, eingezwängt zwischen dem Bangen der Lebenden und dem Erbeben der Erde, die unter ihren Füßen, so fest Friederike sie auch in den Boden stemmte, weggezogen werden drohte. Sie überlebte die Bombennacht. Doch als sie danach, als sich der Rauch zu legen begann, wieder ins Elternhaus wollte, musste Friederike lernen, dass es das Haus, ihr Zimmer, ihre Erinnerungen nicht mehr gab. Es gab nichts mehr, außer den paar Habseligkeiten, die ihr Vater noch geborgen hatte. Aber diese Dinge waren herausgerissen worden aus ihrer gewohnten Umgebung und intimen Vertrautheit. Sie verstummten, obwohl sie gerettet worden waren, für immer.

Kurz nach der Zerstörung des Elternhauses saß Friederike im Zug zum Hühnerbauern, dessen Familie als ihre Pflegefamilie vorgesehen war. Diese Erfahrungen, ließen Friederike früh lernen, dass es mächtigere, unbekannte Kräfte gab, die darüber entschieden ob sie leben oder sterben würde, ob die Nadel in der Rille blieb, Musik gespielt oder Schweigen herrschte.

Als Stunden später die Katze im Schuppen ausgeblutet war, stand Friederike auf und verscharrte das Tier. Sie hatte die Katze verbluten lassen, nicht weil sie sich Befriedigung verschaffen wollte, was sie pervers gefunden hätte, sondern um den Mord an Ari zu sühnen.

Ari und Katze waren lange beisammen gewesen. Ari war schon da, als Kurt Katze anschleppte. Nie hatten sie sich gesorgt, ob die Katze Ari angreifen würde, denn Ari wusste sich zu wehren, wenn die Katze zu aufdringlich wurde. Aber dann, als Friederike und Kurt an einem ihrer runden Jubiläen sich gegönnt hatten, länger auszubleiben und zu schwofen, was sowieso selten genug vorkam, obwohl Kurt ein guter Tänzer war, und Friederike beschwor – und Kurt es später bezweifelte – das Bäuerchen von Ari geschlossen zu haben, fanden sie, als sie lachend und gut gelaunt wie lange nicht mehr, die Wohnungstür aufgeschlossen hatten, den einstmals schönen, weißen Nymphensittich Ari mit blutverschmierten Flügeln und verdrehtem Kopf im Flur und Katze kam, so als sei nichts geschehen, mit hocherhobenem Schwanz auf Kurt zu, scharwenzelte um seine Beine und schnurrte, dass es nur so eine Art hatte.

Kurt und Friederike waren alt genug, hatten beide Schlimmeres gesehen, als tote Tiere und Kurt hatte sich in diesem Moment ganz tadellos verhalten. Wenigstens konnten wir erwachsen werden, pflegte Kurt nicht selten, wenn es Rück- und Schicksalsschläge gegeben hatte, zu sagen. Wenigstens konnten wir erwachsen werden, um das alles durchzustehen.

Friederike konnte es nicht nur durchstehen sondern auch warten. Solange, bis Kurt – was selten genug vorkam – zu einer Schulung des Kaffeefiltermaschinenherstellers für eine Woche in ein Nest irgendwo am Neckar musste. Es war vielleicht ein Jahr nach Aris Tod vergangen und am dritten Tage von Kurts Abwesenheit, rief Friederike im Schulungszentrum an und musste Kurt berichten, dass seine Katze seit seiner Abfahrt verschwunden sei und sie befürchte, weil sie doch so anhänglich, dass sie ihm hinterhergelaufen sei und sie sich Vorwürfe mache, nicht besser aufgepasst zu haben.

„Weib“, wollte er Friederike zu harsch beruhigen, machte dann aber eine Pause und sagte zärtlich: „Friede, wenn das Mädchen weg ist, dann wollte sie es so. Bleib ruhig. Wir sind erwachsen. Was immer passiert, wir stehen es durch und jetzt stell Deine Füße wieder auf den Boden. Und? Spürst Du den Boden?“, und ohne abzuwarten, ob seine Frau ihre Füße auf den Boden stellt oder selbigen fühlt, schloss er zufrieden: „Na, siehst Du. Wie sage ich immer: solange wir, nicht den Boden verlieren, kann uns nichts passieren. Wirst sehen: Katze kommt irgendwann wieder.“

Als sie aufgelegt hatte, dachte Friederike: „Das ist mein Kurt: tadel- aber phantasielos.“ Ihre Schuldgefühle, dass sie unter anderem mit Rattengift die Katze verrecken ließ, hatten sich nach dem Gespräch mit Kurt minimiert, denn Kurts Verhältnis zur Katze war erwachsen.


Hätte Kurt Lyrik das Prädikat Erwachsen oder das Prädikat Kinderkram verpasst?, fragte sich Friederike noch immer an seinem Grab stehend. Würde er sich nicht sogar vergackeiert vorkommen, wenn eine „Biene mit Stich“ – wie er Frauen im Allgemeinen gerne nannte, weil er die meisten – bis auf Friederike – für generell unsortiert oder geradezu verquer gehalten hat? „Worte bedeuten Dir doch nichts, Kurt“, flüsterte sie und verstand nicht, warum sie innerlich so aufgewühlt war; ihr Herz bis zum Hals klopfte und sie das Zittern ihres Körper nicht beherrschen konnte? Die Strophen des Sonetts schmückten am Ende des Tages nicht Kurts Grab.

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