Geisterstunde

Kurzprosa zum Thema Abgrund

von  Ephemere

Sich ansehen und sich unendlich fremd sein. Nicht irgendwie fremd...ungläubig. Unheimlich: ein Gespenst. Das kann nicht ich sein (bitte nicht) --- die Haut, die irgendwie schlaff im Gesicht hängt, als wäre da zuviel Haut und zuwenig Gesicht. Die Falten, die sich viel tiefer eingegraben haben, als das letzte Mal, das ich mir begegnet bin. Die rot angelaufenen Stellen. Eine Mimik, die in meinen Knochen versinkt...wie eine Fratze.

Aufwachen mögen und alles ist gut. Doch da gibt es kein Traum und auch kein Erwachen: fühlen, dass sich eine enorme Schwäche meiner bemächtigt. Eine unbeschreibliche, als ob ich falle. Aus der Realität. Aus mir selbst. Aus allem. Ich bin wach und wenn überhaupt schlafe ich erst ein - falle in einen Schlaf, vor dem ich mich fürchte.

Ich will nicht schlafen, nicht tiefer in diesen Traum (?) sinken. Will geweckt werden! Bin doch schön! Bin doch jung! Gesund und kräftig! Gerade war ich es doch noch, ich weiß es doch, ich kann mich doch nicht so geirrt haben...

Doch wer sollte wecken? Eltern, die das alpträumende Kind sanft an der Schulter rütteln, ihm feuchte Lappen auf die Stirn legen? Gott, der sich plötzlich offenbart und seiner Schöpfung erbarmt? Ich warte...

Ich bin erwachsen, von zu Hause ausgezogen. Und Gott ist tot - oder ungeboren, das ist gleich: Er konnte unsere Erwartungen nie erfüllen - uns erlösen. Kein Weckruf erklingt und der Versuch, zu erwachen, greift ins Leere.

Es wird dunkler. Um mich oder in mir, wer kann das schon sagen. Ich halte mich wach und hoffe, die Wahrheit vergessen zu können, zu übertünchen mit Ablenkung, Zielen, Gesellschaft, Alkohol - das Spiegelbild, den Schock und den Fluchttrieb; diese unerträgliche Müdigkeit ohne Aussicht. Ich wache, bis da nur noch Schwärze sein wird... vielleicht nicht mehr sehen müssen und schließlich doch träumen dürfen. Der Unterschied zwischen Wachen und Schlafen heißt Hoffnung.

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