Lies Oden, mein Sohn, und die Fahrpläne. Umarbeitung eines Gedichts von Enzensberger

Politisches Gedicht zum Thema Macht

von  EkkehartMittelberg

Hans Magnus Enzensberger: ins lesebuch für die oberstufe

lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne:
sie sind genauer. roll die seekarten auf,
eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht.
der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor
schlagen und malen den neinsagern auf die brust
zinken. lern unerkannt gehn, lern mehr als ich:
das viertel wechseln, den paß, das gesicht.
versteh dich auf den kleinen verrat,
die tägliche schmutzige rettung. nützlich
sind die enzykliken zum feueranzünden,
die manifeste: butter einzuwickeln und salz
für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig,
in die lungen der macht zu blasen
den feinen tödlichen staub, gemahlen
von denen, die viel gelernt haben,
die genau sind, von dir.

Erster Druck: 1957

© Hans Magnus Enzensberger

Das obige Gedicht von Hans Magnus Enzensberger beschäftigt und fasziniert mich seit meiner Schulzeit, in der es mir als der Inbegriff der Vernunft erschien. Aber ich denke, dass sich die Zeiten geändert haben und eine veränderte Sicht erfordern.

Ekkehart Mittelberg: Lies Oden, mein Sohn, und die Fahrpläne

Lies und schreib Oden, mein Sohn, denn
nur mit befristeter Flucht in eine Anderswelt ist diese Welt erträglich.
Oden helfen dir, deine Gefühle und Gedanken auszudrücken,
sie zu ordnen und
einen Kompass zu finden, nur für dich.

Lies aber auch die Fahrpläne und roll die Seekarten auf.
Sie sind immer noch genau, aber
meistens genau manipuliert.
Frage nach den Interessen der Verfasser und wohin
sie dich auf die Reise schicken wollen.
Sollten ihre Interessen die deinen sein,
erkundige dich nach alternativen Routen
und entscheide dich dann für deinen Weg.

Sei wachsam.
Du kannst ruhig Lalala singen. Das stärkt den Mut.
Jeden Tag werden Listen ans Tor geschlagen
und täglich malen sie den Neinsagern auf die Brust Zinken.
Es ist egal, in welches Viertel du gehst,
welchen Pass du hast und welche Maske dich tarnt.
Verrat lauert überall,
und wenn du ihn entdeckst,
vergiss die tägliche schmutzige Rettung nicht.

Nützlich sind die Enzykliken zum Feuer anzünden,
die Manifeste Butter einzuwickeln und Salz
für die Wehrlosen.
Aber du solltest sie kennen,
eh du sie so nutzt.
Du hast eine einzige Chance,
die Macht zu brechen:
Dringe unerkannt in ihr Zentrum ein,
studiere ihre Strategie von innen
und zerstöre sie von außen
mit feinem tödlichen Staub.

© Ekkehart Mittelberg, September 2013


Anmerkung von EkkehartMittelberg:

Anmerkung: Als Enzensberger 1957 „Ins Lesebuch für die Oberstufe“ veröffentlichte, wurden die Lyrik-Anthologien von der damals relativ einfältigen Naturlyrik beherrscht. Die Ode war neben Sonetten und Hymnen eine Darstellungsform, die sich zum distanzlosen Lobpreis der Natur anbot, in die sich die Mehrheit der Literaten flüchtete, die sich einer rationalen Auseinandersetzung mit den stagnierenden politischen Verhältnissen verweigerte. Heute werden die erwähnten Darstellungsformen öfter auch zu komplexen kritischen Stellungnahmen genutzt und können nicht mehr so leicht einem Verdikt unterworfen werden, wie es Enzensberger 1957 tat.

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Kommentare zu diesem Text


 toltec-head (09.09.13)
Wir sind in der Tat reich genug, uns mittlerweile eine Luxusausgabe des Enzensberger Gedichts zu leisten. Auch sind wir nicht mehr so verbissen, die armen Alten, die es schwerer hatten, umzuschreiben, ist manchmal schon genug. Ich wünsche mir noch viele Luxusausgaben dieser Art.

 AZU20 meinte dazu am 09.09.13:
Da schließe ich mich gerne an. LG

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 09.09.13:
Lieber Tolti, ich freue mich natürlich über dein Lob und danke dir. Aber meine Umarbeitung hätte folgenden Gedanken noch klarer herausarbeiten müssen: Enzensberger, der noch optimistisch in der Tradition der Aufklärung steht, traut cleveren Einzelnen zu, mit genauem Denken Macht zu brechen. Das ist heute meines Erachtens unmöglich, es sei denn, der Einzelne schleicht sich in die Zentren der Macht ein und „swnowdonisiert“ sie von innen. Ich denke darüber nach, wie ich den Schluss noch deutlicher fassen kann.
LG
Ekki

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 09.09.13:
Ich danke auch dir, Armin. Ich habe den Schluss inzwischen verändert.
LG
Ekki
Nimbus (38)
(09.09.13)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 09.09.13:
Vielen Dank für diesen weiterführenden Kommentar, der sich gründlich einlässt, Heike. Du hast mit dem Hinweis auf Egoismus erkannt, dass der, der die Perversion von Macht bekämpft, Gefahr läuft, ihr selbst anheimzufallen.

Zu der Frage, ob sich Intrigen und Machtmissbrauch wirklich geändert haben, meine ich ja. The hidden persuaders (die geheimen Überreder) der Propaganda haben sich bis zur Unkenntlichkeit verfeinert. Frau Merkel (Andere können es nicht so gut wie sie) zeigt uns beispielhaft, wie man das macht. Man entleert seine Aussagen inhaltlich bis auf unverpflichtende Gemeinplätze und gibt mit scheinbar unangreifbaren Leerformeln vor, das Wohl aller im Auge zu haben. In den 50er Jahren war das noch anders. "Keine Experimente" war zwar eine fantasielose Aussage, aber immerhin noch eine, auf die man inhaltlich festgelegt werden konnte.

Der Apho von Oscar Wilde ist mal wieder vom Feinsten.

Liebe Grüße
Ekki
KoKa (45)
(09.09.13)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 09.09.13:
Vielen Dank, Koka. Warum sind die Vater-Sohn-Gespräche aus der Mode gekommen? Mir scheint, dass eine große Zahl von Vätern heute mit Gewalt jung sein will, den Abstand zum Sohn verwischen möchte, nicht mehr als Erziehr, sondern als Kamerad erscheinen will und Kameraden können nicht in der Weise raten, wie der Vater in den beiden Gedichten.
Die Idee mit dem Hänschen klein finde ich originell. Wer heute auszieht, um die Macht das Gruseln zu lehren, ist in der Tat ein Hänschen klein.

 moonlighting (09.09.13)
Ins Lesebuch für die Oberstufe passt in die heutige Zeit.

Sehr gerne gelesen.

LG
Moon

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.13:
Grazie, Moonlighting. Ich hoffe, die Modernisierung ist gelungen.
LG
Ekki

 Didi.Costaire (09.09.13)
Hallo Ekki,
über Macht und Ohnmacht nachzudenken ist heute nicht minder aktuell als vor über fünfzig Jahren, und Manipulation seitens der Mächtigen ist noch ausgefeilter als damals. Beim den Oden ist wahrscheinlich die Frage, ob man die Anderswelt wieder verlassen mag, wenn man erst einmal dort eingetaucht ist, andererseits wird ohne Schöngeisiges auch nichts Gutes entstehen können.
Bei einigen Begriffen und Bildern wie ans Tor geschlagene Listen, Zinken auf der Brust, Enzykliken oder offenbar loser Butter würde ich noch über Aktualisierungen nachdenken, insgesamt bietest du mit deiner Neu-Interpretation eine interessante Diskussionsgrundlage.
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.13:
Merci, Didi. Ja, eine Diskussionsgrundlage wollte ich mit meiner Umarbeitung bieten, nichts Abgeschlossenes. Das wäre bei dem Thema "Macht", die ihre Maske ständig den neuen Gegebenheiten anpasst, auch nicht möglich.
Liebe Grüße
Ekki
Pocahontas (54)
(09.09.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.13:
Liebe Sigrun, du triffst den Kern beider Gedichte, vor allem in deiner Zusammenfassung: "in Anbetracht unterschiedlicher zeitpolitischer Impulse."
Eine offene Frage ist, an wen Enzensbergers LyrIch mit dem Rat an den Sohn gedacht hat, sich unauffällig zu machen. Ich denke dabei weniger an einen buckelnden schmierigen Ganoven, sondern an den braven Soldaten Schwejk, der sich unterwürfig gibt, um zu überleben, und dem zuzutrauen ist, dass er sich aufrichtet, wenn er die Gelegenheit zum Befreiungsschlag findet. Das führt uns zu der Frage, ob Macht heute überhaupt noch individualisiert bekämpft werden kann. Ich denke, im Prinzip "nein". Aber es gibt das Gegenbeispiel des Undercover-Agent Snowdon, der im eigenen Auftrag, soweit man bis jetzt weiß, als Individuum eine Weltmacht herausfordert. Er wäre freilich verloren, wenn nicht eine andere Weltmacht ihn schützen würde.
Mille grazie und liebe Grüße
Ekki
wa Bash (47)
(09.09.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.13:
Vielen Dank, wa Bash. Zunächst wollte ich mich auch an die außerst knappe Form Enzensbergers halten, die mir gefällt. Das gelang mir deshalb nicht, weil die Erklärungen, die mein Vater dem Sohn gibt, zu komplex sind und ich sie nicht durch zu starke Reduktion versimpeln wollte. Ich habe Glück, dass du so tolerant bist und meinen Stil als Geschmackssache bezeichnest.
LG
Ekki
Steyk (61)
(09.09.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.13:
Gracias, Stefan. Ich habe darüber nachgedacht, welche beiden Gedichten gemeinsame Aussage vielleicht bleibt: Wer mit tumber Gewalt gegen Macht anrennt, wird zermalmt. Der Rebell/Revolutionär hat nur eine Chance, und die liegt in dem feinen tödlichen Staub überlegenen strategischen
Denkens.
Liebe Grüße
Ekki

 loslosch (09.09.13)
im thread fand ich "snowdonisiert". ein wort von dir! somit hast du der umarbeitung doch noch modedernität verliehen.

nach lektüre einer interpretation im netz meine ich: starke leistung des damals 27-jährigen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.13:
Vielen Dank, Lothar. Mir war bei der Umarbeitung zweierlei wichtig: 1. die Fahrpläne nicht gegen die Oden auszuspielen und 2. nach den Erfolgschancen eines genauen Denkers zu fragen, der heute als Individuum gegen Macht antritt, die sich mit zunehmender Raffinesse ihrer Methoden gegen Angriffe Einzelner (Snowdon sehe ich als Ausnahme) fast perfekt abschottet.
Ob mein Gedicht modern wirkt? Moden sind einem schnellen Wandel unterworfen. Deshalb war mir daran noch nie viel gelegen. Wichtig ist mir, mit meinem Gedicht Denkanstöße zu geben und das scheint zu funktionieren.
Enzensbergers Gedicht halte ich wie du für eine sehr starke Leistung. Deshalb hat es mich ja inspiriert.
LancealostDream (49)
(09.09.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.09.13:
Merci, Lance, im ersten Moment dachte ich: Facebook und Enzensbergers sowie Mittelbergs Gedicht. Wo ist der Zusammenhang? Dann fiel der Groschen. Der Sohn wird ja zum Außenseiter erzogen. Wenn du aber mit den Wölfen heulst, bist du für Machthaber brauchbar.
Immer ein Vergnügen, deine Kommentare zu lesen.
LG
Ekki
Schrybyr† (67)
(11.09.13)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.09.13:
Welch stimmige Ergänzung und welch kluger Kommentar!
Grazie especiale
Ekki
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