Lethe, Fluß des Vergessens

Lyrischer Prosatext zum Thema Verwandlung

von  LotharAtzert

Süß fault und dunkel,
zwischen den Schenkel der Zeit,
des Messweines Kraft.

Schon unmittelbar nach Verlassen des Quellgebiets beginnt die Trübung des Wassers. Der Begriff Erinnerung weist darauf hin, wo sie dem Prinzip nach stattfindet: Innen, am Ort ihrer Befindlichkeit, den Blicken der Menge wie Mehrzahl verborgen.
Das Gegenteil von Erinnerung ist Zerstreuung in die äußere Welt. Sobald das Wasser hervorgesprudelt ist, wird es vom Feuer, dem großen Lebensdurst gejagt, aufgesaugt, getrunken von abermillionen Mündern, Schlünden, Wurzeln, Wind und Wetter, in Flaschen abgefüllt, in Container und Zisternen gesperrt, in Trauben, Gurken, Melonen angereichert, wird zur Stromgewinnung gestaut und dient auf vielerlei Arten der Reinigung von Oberflächen.

Oder es wird zur Kühlung benutzt, in Sommershitze im Schwimmbad, im Atomkraftwerk für Brennstäbe und so weiter. ... nicht zu vergessen das Leitungswasser und die Klospülung. Was also aus der Quelle rein und gesammelt hervortritt, wir danach in alle Richtungen und Zahlen zerstreut, so daß nur das Wenigste davon auf direktem Weg - als Flußwasser - ins Meer der Sammlung zurück gelangt.

Wasser sucht immer nach dem tiefsten Punkt, wie Feuer nach Höhe. Und in ihrem Spiel erschaffen sie den Wind, der das erhitzte Wasser als Wolken um die Erde be-wegt. Doch nicht nur das. Auch in den Körpern der Lebenden findet derselbe Vorgang in Entsprechungen statt, so daß nirgendwo jemals Stillstand herrscht.
Entscheidend ist immer das Verhältnis von Feuer zu Wasser, oder: Begierde und Empfindung, was ja die seelischen Entsprechungen sind. Es muß immer ein Gegensatz sein, um sich selbst darin zu erkennen. Feuer verbrennt seine Nahrung und was als Rauch aufsteigt, sind außer Asche (Erde) die sich verflüchtigenden Wasserreste.

Man wird mir wohl beipflichten müssen, daß sich in der Alltagshektik kaum jemand dieser Abläufe noch bewußt ist. Triebe trüben das Erinnerungsvermögen. Der Nahrungstrieb, der Geschlechtstrieb. ... Der moderne Mensch hat sogar weitestgehend den Ur-Trieb der Selbsterhaltung verdrängt, daß man nämlich töten muß, um das eigene Dasein zu fristen. Darauf einmal angesprochen, wird meistens wissenschaftlich plausibilisiert, Tiere und Pflanzen seien zum essen da. Für uns, an üppiger Tafel.

Essen und Vergessen, Der Trieb und das Trübe entstammen nicht zufällig der gleichen Sprachwurzel ... Nahrung, Nähe, Naturtrüb ... Man hat, nach Verlassen der Herkunft, den natürlichen Fluß des Vergessens selbst vergessen, um wissenschaftlicherseits einen "Alzheimer" draus machen zu können: Herkunftsvergessender Doktor erforscht das Vergessen und benennt sein "Entdecken" zum Zeichen der gelungenen Bildzerstörung nach sich selbst - das nenne ich einen akademischen Treppenwitz.
Wer seiner Herkunft nicht in Dankbarkeit gedenkt - warum sollte diese ihm mit Wohlwollen begegnen? Nicht, daß der Quell-Archetyp von uns Halbgebildeten Dankbarkeit auf Moralistenart einforderte, sondern die Dankbarkeit macht den Verehrenden dem verehrten Objekt immer ähnlicher und so ist sie zugleich die Medizin vor dem Vergessen. Da es sich jedoch um eine Empfindung handelt, kann sie nicht von außer "verordnet" werden - man muß die Dankbarkeit in sich - bei sich selbst - finden, oder gegebenenfalls ohne Erinnerung in der Gesellschaft leben und sterben.

Mnemosyne und Lethe werden als Schwestern angesehen. Was nicht weiter verwundert. Was nicht geschieht, was das Bewußtsein (der einen) nicht abspeichern kann, kann (die andere) nicht vergessen und so ist die reaktive Lethe immer in Abhängigkeit ihrer Schwester, dem sprudelnden Anbeginnswissen. Ebenso dieses auch von ihr, da, wie gesagt, alles Wasser ewig zur Quelle zurückkehrt, wie von dort wieder zurück zum Ozean. Was immer der Lebenden Durst löscht, entzieht sich ihnen schon kurz danach wieder. Ewiger Kreislauf, das Wandern durch Sphären - Versammeln, Verdichten, Verduften ...

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Kommentare zu diesem Text

Pocahontas (54)
(23.11.13)
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 LotharAtzert meinte dazu am 24.11.13:
Die Verschmutzung des Wassers - es ist leider in allem so, wie Du schreibst, liebe Sigrun.
Es gibt jedoch zur selben Zeit noch eine andere Welt, von der Christus zum Beispiel spricht: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt": - das Reich des Erwirkten.
Davon sprach auch der Dichter Friedrich Hölderlin: "Es ereignet sich aber das Wahre und mit diesem wird es sich wenden." - oder noch eindeutlicher:
"An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind."
Mit jedem Gedanken und jeder Tat bauen wir daran, um nach Tilgung aller Schulden in der ursprünglichen Heimat zu wirken.
Es gehört mit zur verderbten Welt, solches Denken als Aberglaube oder Esoterik abzuschmettern. In vorsokratischen Zeiten verstand man noch das "Erkenne dich selbst - werde, der du bist."
Ich danke Dir für soviel Aufmerksamkeit. Mit dem dritten und wichtigsten Teil, den neun Musen nämlich, wirds noch 2-3 Tage dauern.

LG
Lothar
Festil (59)
(12.08.16)
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 LotharAtzert antwortete darauf am 13.08.16:
In der Reclam-Übersetzung sagt Laotse "Wasser ist nahe des Weges." - mir hat das genügt, um den Sinn zu begreifen: wenn man seinen Weg durch alle Stationen verfolgt, ergreift einen eine ahnende Ehrfurcht.
Das mit dem Bad und dem Innendruck der Augen ist bemerkenswert. In meinem Aktivitätswahn dusche ich meistens lieber, aber Danke, daß Du es sagst, ich sollte mal wieder ... zumal die Sehkraft nicht mehr, wie früher ist.
"Einst träumte Tschuang Tschu, er sei ein Schmetterling ..." - kennst Du. ...
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