Wenn das Schicksal Anlauf nimmt ....

Erzählung zum Thema Lebenszeiten

von  Bluebird

Illustration zum Text
(von Bluebird)
Am Montagmorgen trat ich offiziell mein Gemeindepraktikum an. Da Pastor G. erst zwei Tage später von seiner Dienstreise zurückkehren würde, versuchte ich mich im Gemeindebüro etwas nützlich zu machen. Bis zum Mittag erledigte ich kleine Schreib- und Kopierarbeiten, dann ging ich in der nahegelegenen Fachhochschule etwas essen.
   
Als ich von der Mittagspause zurück ins Büro kam, sagte die Gemeindesekretärin: "Könntest du nachher mal bei Schwester Edermann vorbeischauen. Sie wohnt am Ende des Ganges und braucht wohl Hilfe. Sie ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden." 
  Froh über etwas Abwechslung machte ich sogleich auf den Weg und stand wenig später vor ihrer Haustüre. Ich schellte. Nach etwa zehn Sekunden vernahm ich von innen langsame  Schritte  und dann eine ältere Frauenstimme: "Wer ist da?" "Der Bibelschulpraktikant!" antwortete ich.
   Die Kette wurde gelöst und die Türe geöffnet. Eine etwa 75-jährige Frau mit schlohweißen Haaren und einem Augenverband stand vor mir.
   "Ja, kommen Sie rein! Ich habe sie schon erwartet." Sie drehte sich um und ging langsam, auf ihren Gehstock gestützt, ins Innere der Wohnung.

"Nehmen Sie Platz", sagte sie, als wir im Wohnzimmer angelangt waren. "Vielleicht wundern sie sich über den Augenverband. Ich habe gerade eine Augenoperation hinter mir. Grüner Star, wissen Sie."  Ich nahm am Tisch Platz.
  "Möchten Sie etwas trinken?", fragte sie. "Nein danke", entgegnete ich. "Frau Edermann, Wie kann ich Ihnen helfen?" "Ach, junger Mann", sagte sie, "ich habe kein Geld mehr im Hause. Könnten Sie mich zur Bank begleiten?"
  Einen Moment war ich sprachlos. Das kann doch nicht ihr Ernst sein, dachte ich. "Blind" und gehbehindert, gerade aus dem Krankenhaus entlassen will sie in die Stadt fahren?
  "Schwester Edermann", sagte ich, "wollen Sie sich das wirklich antun? In Ihrem jetzigen Zustand nach draußen gehen? Ich mache Ihnen einen Vorschlag, erteilen Sie mir eine Bankvollmacht. Dann fahre ich alleine zur Bank und Sie ersparen sich die Strapazen." "Aber ich kenne Sie doch gar nicht!" protestierte sie leicht vorwurfsvoll.
 
Vielleicht hätte ich an dieser Stelle einfach nachgeben sollen, aber ich insistierte auf der Bankvollmacht. 
  Schließlich sah sie ein, dass in ihrem Zustand eine Fahrt in die Stadt mit der Straßenbahn sehr beschwerlich werden würde und dass ich ja immerhin ein der Gemeinde bekannter Bibelschüler war. Also jemand, der sie wohl kaum betrügen oder beklauen würde.
  "Na prima", sagte ich, "Sie werden sehen, alles geht glatt über die Bühne. Wie viel Geld soll ich denn abheben?" "1000 DM!", entgegnete sie. "So viel?", fragte ich erstaunt nach. "Ja nun", sagte sie, "ich muss die Miete bezahlen, und essen und trinken will ich ja auch."
   "Aha", sagte ich.  Vermutlich wollte sie einfach etwas Bargeld in der Wohnung haben, aber das ging mich ja auch nichts an. "Gut, Schwester Edermann, dann fahr ich jetzt mal los." 

   Ich war schon fast an der Türe, als sie mir nachrief: "Warten Sie mal, Herr v.B.! Mir ist noch etwas eingefallen." Ich blieb stehen, während sie langsam auf ihren Gehstock gestützt herankam.
  "Könnten Sie mir auf dem Rückweg aus dem Supermarkt noch eine Packung Frischmilch mitbringen?", fragte sie. "Klar", entgegnete ich, "Kein Problem! Bis nachher!"
  "Aber passen Sie um Himmels willen gut auf das Geld auf. Hier sind viele Diebe unterwegs!" Ich lächelte und sagte beschwichtigend: "Schwester Edermann, machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ihr Geld ist bei mir in guten Händen. Da wird nichts wegkommen."
   Schmunzelnd über soviel weltfremde Besorgnis verließ ich die Wohnung. Wie hätte ich auch ahnen können, dass das Schicksal gerade Anlauf genommen hatte.


Anmerkung von Bluebird:

Bremen 1988

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