2008 Paula (2)

Kurzgeschichte zum Thema Vergangenheit

von  Hartmut

Sie nehmen in Olbia den Mietwagen, fahren aber nicht zu den Stränden, sondern ins Landesinnere der Insel. Sie waren schon oft auf Sardinien, damals vor vielen Jahren als Studenten, dann mit den Kindern, jetzt im Ruhestand.
Am späten Nachmittag kommen sie in Lula, einem Bergdorf unterhalb des Monte Albo, an. Es gibt kein Hotel hier, nur eine Pension, die Besitzerin spricht deutsch. Seine Frau ist müde und möchte sich erst mal zurückziehen. So geht er, etwas aufgekratzt, durch das Dorf, lässt sich treiben, findet eine Via Rosa Luxemburg, eine Piazza Karl Marx umgeben von ärmlichen Häusern und die Marxstraße, eine Sackgasse. Gegenüber der Kirche gibt es die Bar „Europa“. Nebenan sitzen alte Männer, nicht an den Tischen, sondern auf einer niedrigen Steinmauer. Er geht vorbei, nickt ihnen zu, setzt sich an einen Tisch und bestellt ein Glas Rotwein. Ein alter, verbeulter Fiat Panda hält, ein paar Sätze werden gewechselt, der defekte Auspuff nervt. Die Tür der gegenüberliegenden Kirche geht auf, und eine Erscheinung in Weiß tritt heraus. Eine Frau, tief verschleiert, geht gebeugt die Treppe hinunter, überquert die Straße, die Männer schauen ihr nicht nach. Wahrscheinlich ein alltägliches Bild. Eine junge Frau mit Strohhut geht in die Bar und kauft eine Flasche Wasser.
Nach dem Abendessen zieht es ihn wieder dorthin, seine Frau möchte lesen. Der Platz der alten Männer ist leer, auch die Tische vor dem Lokal. Dafür hört man in Innern die Stimmen junger Leute, Musik. Es ist schon dunkel, als er die Toilette sucht und fast mit der jungen Frau vom Nachmittag zusammen stößt. „Entschuldigung“, murmelt er. „Willkommen in einem kommunistischen Dorf“, sagt sie und lächelt. „Im Reiseführer steht anarchistisch“, entgegnet er, „ein Unterschied.“  „Für Sie, aber nicht für mich.“ „Paula, viene da noi“, rufen die jungen Leute. „Gibt es auch eine Proudhonstraße hier?“, fragt er noch, bevor sie geht. Sie hält inne, schaut ihn mit ihren graugrünen Augen an. „Sie kennen Proudhon?“  „Eigentum ist Diebstahl, ihre schöne Korallenkette.“  „Pah, Sie haben ihn nicht verstanden“, und geht.

Er gehört zu ihnen, abgetragene Cordhosen und Jacketts, gebeugt und gebrechlich, nicht mehr zu gebrauchen. Sie warten auf den Tod.
Kurz vor der Reise wurde er zur Verabschiedung seines damaligen Chefs eingeladen. Zwei Jahre war er nicht mehr in seiner alten Firma. „Wir kaufen jetzt die Komponenten in China, bauen sie hier zusammen und machen mehr Umsatz mit weniger Leuten“, sagte er, wohl wissend, dass er an der Konstruktion der Komponenten maßgeblich beteiligt war.

Er spürt den Wein, möchte gehen. Plötzlich steht sie wieder neben ihm. „Die alten Männer von heute Nachmittag waren einmal Landarbeiter und Hirten, keine Folklore, harte Arbeit, damit das Landesinnere der Insel bewohnbar bleibt. Jetzt bekommen sie Almosen aus Rom. In ihrer Zeit sind einige unten an der Küste wahnsinnig reich geworden, nichts möchten sie abgeben, nein, ihre Gier hat noch zugenommen.“  „Sagen Sie mir bitte, wer ist für ihr Deutsch verantwortlich?“, fragt er. „Meine Mutter stammt aus Dresden. Ja, ich weiß, etwas Italienisch, etwas Sächsisch. Nach der Wende war es ihre erste große Reise, sie ist hier geblieben, auch wegen der Wendehälse. Sie hat noch immer den Traum.“  „Der Mensch ist für den Kommunismus nicht geschaffen, zu bösartig, zu egozentrisch, zu intelligent, zu habgierig.“ Er spürt den Wein, verliebt sich in ihre Sprache. „Proudhon war ein Idealist, natürlich waren damals die Verhältnisse schlimm, eine Philosophie des Elends.“  „Und heute?“, fragt sie. „Die Menschheit kann nur überleben, wenn sie sich ändert: nicht Gier, sondern Solidarität.“ Er steht auf, sie stellt sich etwas auf die Zehenspitzen und flüstert ihm zu: „Gute Nacht, caro sognatore.“

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