Aufziehmoment

Kurzprosa zum Thema Betrachtung

von  Moja

Soeben fährt ein Mopedfahrer an mir vorbei. Den habe ich doch schon mal gesehen! Ich sehe ihn immerzu. Er ist der Fahrer von vorhin und auch der von gestern und vorgestern. Aber nein, er ist es nicht! Und auch ich bin nicht die von gestern und vorgestern. Da, eben fährt er schon wieder an mir vorbei. Er trägt eine dunkelblaue Jacke und einen hellen Helm. Alle Mopedfahrer tragen dunkelblaue Jacken und einen Helm, der aussieht wie ein Bauarbeiterhelm. Die Helme der Fahrer sind Tarnkappen, die ihre Augen beinahe verdecken. So verlieren sie ihr eigenes Gesicht und ähneln einander in den Gesichtern. Jeder von ihnen wird zum anderen. Wie in einer Endlosschleife knattert neben mir der immer gleiche Fahrer die abschüssige Straße hinunter. Er taucht jedes Mal auf, wenn ich zur Seite in den Garten des Altersheimes schaue und die alte Frau im schwarzen Kleid sehe, die mit gekrümmtem Rücken langsam auf den Eingang ihres weißen Hauses zugeht, und nicht voran zu kommen scheint.

Immer ist es ein anderer Tag, eine andere Zeit – und doch scheint mir der Moment stets derselbe zu sein, der welcher war, welcher ist, alles ist dasselbe. Schon rattert er nochmals neben mir die Straße hinunter in seiner dunklen aufgeblähten Jacke. Aber welcher von ihnen ist er? Und wer ist welcher? Und was ist mit mir? Ich blicke nach links, die Frau nähert sich erneut der Veranda ihres Hauses. Ist sie dieselbe von vorhin? Sie scheint noch keinen Schritt weiter gekommen zu sein. Wie sollte sie auch? Wo doch der Mopedfahrer zum dritten Mal auftaucht und ihren Weg, meinen Blick, das ganze Bild einfach mit Getöse abschneidet.

So sind die Tage hier: Echos, die sich übereinanderlegen, bis ich weitergehe und die geschlossene Sequenz aufhebe. Alle Erinnerungen scheinen letztendlich eine Erinnerung zu sein. Hoppla, kommt da nicht schon wieder einer in blauer Jacke und Helm? Er fährt direkt auf mich zu, doch diesmal aus der Gegenrichtung. Hinter seinem Sitz ist eine rote Box, Correio, steht darauf. Er ist der Postbote und fährt seine Botschaften bis zur Klippe am Leuchtturm aus. Ihm begegne ich das erste Mal. Nur die Alte im schwarzen Kleid kann das nicht wissen und geht gebeugt immer noch auf ihr Haus zu. Doch diesmal lasse ich sie ankommen, ich drehe mich nicht nach ihr um, biege um die Ecke und laufe geradeaus die schmale Altstadtgasse entlang.

Da sehe ich von weitem eine Bewegung, die ich schon kenne, viele Male sah, als befände ich mich in einer dauernden Gegenwart. Eine kleine Frau tritt aus der Galerie, streckt ihre Arme hoch und hängt bunt bemalte Keramikteller neben die Ladentür wie ein Aufziehvogel. Habe ich sie in meiner Fantasie aufgezogen und den Schlüssel fortgeworfen? Ich gehe schnell weiter, vielleicht hört sie dann auf mit dieser unsinnigen Bewegung.

Während ich diese Erinnerungen aufschreibe, laufe ich in meiner Fantasie denselben Weg hinunter in die Altstadt. An der Stelle vor dem Altersheim fährt neben mir der Mopedfahrer vorbei. Schon sehe ich die Alte im Garten, gleich werde ich um die Ecke biegen und aus der Galerie wird die kleine Portugiesin treten und Keramikteller aufhängen. Ich bin in meiner Erinnerung an dem magnetischen Moment angekommen und spule ihn endlos ab, bin dort und hier am Schreibtisch, aber jetzt trinke ich einen Kaffee.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (23.01.19)
Zu Ende hin zu verplappert, da würde ich kürzen.

Die erste Hälfte habe ich gerne gelesen.

 Moja meinte dazu am 24.01.19:
Danke, Dieter, Du hast einen guten Blick!
Grüße, monika
Trainee (71)
(23.01.19)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 23.01.19:
Ich schließe mich selten an, aber hier tue ich es gerne, weil der Kommentar so plausibel ist.
LG an Moja und Trainee

 Moja schrieb daraufhin am 24.01.19:
Hallo Trainee und Ekki,

grüße Euch fröhlich murmelnd zurück!

Wenn es soweit ist mit der Demenz, werde ich mich hoffentlich an diesen Moment erinnern - und einfach schnell weiter gehen, wer weiß?

Besten Dank,
Monika

 GastIltis (23.01.19)
Liebe Monika, du musst die Aufziehvorrichtung ölen. Irgendwann ist aus dem Moped- ein Motorradfahrer geworden. Solltest du den Schlüssel fortgeworfen haben, macht es natürlich keinen Sinn.
Liebe Grüße von Gil.

 Moja äußerte darauf am 24.01.19:
Unerhört, die Figuren haben sich inzwischen verselbständigt und machen, was sie wollen. Stell Dir das mal vor, Gil! Zum Glück fand ich den Schlüssel...
Erheitert, Monika

 Perry (23.01.19)
Hallo Monika,
auch mir gefällt dieses Hin und Herwechseln zwischen Traum und Realität oder vielleicht sogar eines Traumes im Traum sehr gut.
Konstrultiv würde ich allerdings zu einer stärkeren Verdichtung raten, da sich die Bildwiederholungen spätestens beim 4. Mal abnutzen (Mopedfahrer 4x, alte Frau 4x und kleine Frau 2x ).
LG
Manfred

 Moja ergänzte dazu am 24.01.19:
Danke für den Hinweis, Manfred, hab' s versucht!
Lieben Gruß, Monika

Antwort geändert am 24.01.2019 um 12:17 Uhr
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