Polyxena

Essay zum Thema Schönheit/ Schönes

von  Graeculus

Zu den heute noch bekannten großen mythischen Gestalten der Antike gehört Polyxena [gr. Πολυξένη] gewiß nicht. Sie war die Tochter des Königs von Troja, Priamos, und seiner Gattin Hekabe. Nur für eine kurze Szene im Trojanischen Krieg betritt sie die Bühne: Troja ist erobert, die Männer und Knaben sind getötet, die Frauen und Mädchen versklavt und wie die übrige Beute durch Losentscheid auf die Helden der siegreichen Griechen verteilt. Diese  bereiten sich nunmehr auf die Heimreise zu Schiff vor.

Ein aufkommender Sturm stellt sich dieser Absicht in den Weg. Da meldet sich der tote Achilles aus dem Hades und fordert seinen Anteil an der Beute; andernfalls werde das Unwetter dauerhaft die Rückkehr der Griechen verhindern. Was er verlangt, ist ein Menschenopfer zu seinen Ehren, und dieses Opfer müsse Polyxena sein, eine kaum ‚mannbare‘ Jungfrau.

Warum gerade Polyxena? In welcher Beziehung stand er zu ihr? In einer antiken Quelle wird berichtet, er habe sich zu seinen Lebzeiten in Polyxena verliebt – der Griechenheld in eine feindliche Trojanerin! – und sei auf dem Wege zu einem Rendezvous mit ihr von ihren Brüdern Paris Alexander und Deiphobos getötet worden. Wenn wir dieser Version folgen, dann greift hier der Liebhaber aus dem Grabe nach dem Leben der Geliebten.

Polyxena, ein Mädchen, das zu Beginn des Krieges noch ein Kleinkind war, ist weder am Ausbruch des Krieges noch an seinem für die Trojaner unglücklichen Ausgang schuld, und es wird auch nicht behauptet, daß sie den Achill bei ihren Brüdern verraten habe. Aber sie soll mit ihrem Leben bezahlen – zur Verzweiflung ihrer ohnehin vom Schicksal hart getroffenen Mutter Hekabe, die bereits Heimat, Freiheit, Mann und Söhne verloren hat.

Die Griechen beraten über das Verlangen Achills und stimmen – nicht ganz ohne Skrupel wegen der Unschuld Polyxenas und gerührt auch durch ihre Schönheit – dem Menschenopfer zu.
Dieses wird dann durch Neoptolemos, den Sohn Achills, vollzogen. Der Sturm legt sich, die Griechen können die Heimfahrt antreten.

Die Motive und Empfindungen der beteiligten Personen, auch die Dramatik der Opferungsszene haben in der Antike großen Widerhall gefunden; oft taucht die Szene auf Vasenbildern auf, und etliche der größten Autoren der Antike haben sich des Stoffes angenommen.

Zurück geht er auf den Troischen Epenkreis, eine Sammlung von Epen um den Trojanischen Krieg, zu der auch Homers „Ilias“ und „Odyssee“ gehören. Aber nicht bei Homer, sondern in zwei anderen, in nur geringen Bruchstücken erhaltenen Epen muß die Szene vorgekommen sein: den „Kyprien“ und der „Iliupersis“. Was dort berichtet wurde, gibt am besten der spätantike Autor Quintus Smyrnaeus wieder, nämlich in seinem Epos über die Eroberung Trojas, die sog. „Posthomerica“.

Sophokles hat ein Drama „Polyxena“ geschrieben, das verloren ist. Euripides widmet einen großen Teil seines Dramas „Hekabe“ ihrem vergeblichen Kampf um das Leben der Tochter. Bei ihm finden wir eine Szene, in der Polyxena ihre Bereitschaft zu sterben erklärt, aber ihre vorherige Freilassung erbittet: nicht als Sklavin, sondern als Königstochter wolle sie die Unterwelt betreten. Eine junge Dame mit feiner Distinktion.

Vergil erwähnt die Geschichte in seiner „Aeneis“, Ovid ausführlich in seinen „Metamorphosen“. Der jüngere Seneca, der außer erbaulichen Moralschriften auch eine Reihe von Dramen verfaßt hat, stellt uns in „Die Trojanerinnen“ ein spezielle Version vor, derzufolge Helena, die nach dem Kriegsausgang zwischen den Stühlen bzw. ihren zwei Männern steht, Polyxena gefügig macht durch die Vorspiegelung, es handele sich nicht um ein Opfer, sondern um eine ehrenvolle Ehe mit Neoptolemos. Philostratos schließlich deutet das Ereignis als einen freiwilligen Opfertod (Suizid) zu Ehren ihres toten Geliebten um.

Was an dieser Randepisode in der Antike so viel Aufmerksamkeit gefunden hat, hat auch in der späteren Literatur- und sogar Musikgeschichte viele Künstler inspiriert: Hans Sachs („Die Zerstörung der Stadt Troja durch die Griechen“), P. C. Hoofts („Achilles en Polyxena“), Corneille („La mort d‘ Achille“), Goethe (in seiner Fragment gebliebenen „Achilleis“ sollte Achills Liebe zu Polyxene im Mittelpunkt stehen), weiterhin bei vielen anderen Autoren bis etwa um 1900 - zuletzt bei W. Fischer („Königin Hekabe“). Sie alle deuten und gestalten das Beziehungsgeflecht zwischen Hekabe, Paris Alexander, Achill, Polyxene und Neoptolemos, und jeder etwas anders. Mehrfach war im 17. und 18. Jahrhundert dies auch der Stoff, aus dem man Opern machte: mit Titeln wie „Achille et Polixène“.

Und heute? Ist das tragische Ende dieses schönen mythischen Mädchens vergessen? Oder hat unser für Frauenschicksale aufgeschlossenes Zeitalter es nur noch nicht entdeckt?

Bei der Wiederentdeckung kann ein Tier helfen. Einen außerordentlich schönen, farbenprächtigen, in Süd- und Südosteuropa beheimateten Schmetterling hat man nach ihr benannt: Zerynthia Polixena, auch Osterluzeifalter genannt.

Stellen wir uns also vor, wie eine schriftstellerisch begabte Frau der Gegenwart an einem Ort Griechenlands in einem Park sitzt und ein faszinierend bunter Schmetterling an ihr vorbeifliegt. Oh, denkt sie, wie heißt denn der?
So könnte es anfangen.

Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Mondscheinsonate.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (12.04.21)
Hallo Graeculus, wundervoll poetisch, deine Idee mit dem Schmetterling, Der Plot von Polyxena eignet sich in mehrfacher Weise, um antike Definitionen des Tragischen zu erfüllen. Die Griechen müssen die Drohung Achills aus der Unterwelt ernst nehmen, haben also keine andere Wahl. als die Unausweichlichkeit der Tragik zu erfüllen. Die Tragik der Hekabe hast du selbst schon dargestellt. Ferner haben wir noch die Tragik der Polyxena, die, kaum erblüht, aus ihrem Leben gerissen wird, und schließlich die Tragik des Neoptolemos, der, seinem Vater gehorchend, sich am Leben der jungen schönen Polyxena vergreifen muss.
Ein hervorragender Text mit einer superben Anregung.
Ekki

 Bergmann meinte dazu am 12.04.21:
Ich denke, Polyxena ist kein tragfähiger Stoff für eine Tragödie mit einer (aristotelischen) Katharsis, Polyxenas Leben hat mit Tragik nichts zu tun - auch kein geeigneter Stoff für ein modernes Drama, es sei denn, Elfriede Jelinek würde den Regisseuren einen Textblock hinwerfen, doch hätte das mit dem Mythos kaum noch Berührung.
Polyxena und der Schmetterling hätte vielleicht die Eignung für lyrische Prosa - nur geriete das auch eher recht altmodisch.

 Graeculus antwortete darauf am 12.04.21:
Ob der Stoff zu altmodisch ist, das wage ich bei meinen Präferenzen (meiner Voreingenommenheit für die Antike) kaum zu berurteilen.

Polyxenas Schicksal ist traurig, nicht unbedingt tragisch. Immerhin ist sie eine (ich denke doch) interessante Frauenfigur.

Ich glaube, die beiden anderen Erwähnungen Ekkeharts gehen etwas weiter in Richtung auf das unschuldige Schuldigwerden, das in vielen antiken Tragödien (nicht in allen!) eine so große Rolle spielt: einerseits die Griechen, die, wollen sie endlich in die Heimat gelangen, einen Befehl ausführen müssen, der vielen von ihnen zuwider ist (und sie schuldig macht), andererseits Neoptolemos, der einen Befehl seines Vaters befolgen muß, der ihn zum Verbrecher werden läßt - zum Verbrecher an einer jungen Frau, die er - nach manchen Überlieferungssträngen - sogar liebt.

Bei allem Respekt für Aristoteles: er ist ein Theoretiker, der einem Schema folgt; einem Stoff, den sowohl Sophokles als auch Euripides und sogar Goethe für dramentauglich hielten, möchte ich diese Qualität nicht absprechen.

Seneca präsentiert uns sogar einen Schluß ("obduxit statim saevusque totum sanguinem tumulus bibit"), der an einen Horroroman erinnert: ein gierig das Blut aufsaugendes, wildes Grab ...

 Bergmann schrieb daraufhin am 12.04.21:
Nichts gegen Versuche - sie haben ihren dramen- und theatergeschichtlichen Wert.
Wenn Goethe - oder Thomas Mann - einen Polyxena-Roman geschrieben hätte, das hätte mich neugierig gemacht, schon deswegen, wie sie Achill und seine Totenstimme interpretiert hätten.
Deinen Essay finde ich interessanter als Polyxena.

 Graeculus äußerte darauf am 12.04.21:
Polyxena steht in der Gefahr, einen Frauentyp zu verkörpern, über den Baudelaire schrieb: "Was kümmert's mich, ob du klug bist? / Sei schön und sei traurig!"
Sie ist halt noch ein Mädchen. Lediglich bei Euripides ist sie etwas mehr: eine selbstbewußte junge Adlige (s.o.).

Was die Dramatiker aber fasziniert hat, ist die erwähnte Konstellation: Hekabe (Mutter, Witwe, versklavt) - Polyxena (Tochter) - Paris (Bruder) - Achill (Feind, Liebhaber, Vater, tot) - Neoptolemos (Sohn, Liebhaber?) - Helena (Rivalin). Daraus lassen sich komplexe Beziehungs- und Handlungsstrukturen machen.

Es ist besonders schade, daß gerade die Version des Sophokles (des Meisters überhaupt im griechischen Darma) nicht erhalten ist. Unter den wenigen überlieferten Fragmenten ragt eines hervor, eine Äußerung der Seele des toten Achill:
ἀκτὰς ἀπαίωνάς τε καὶ μελαμβαθεῖς
λιποῦσα λίμνης ἦλθον, ἄρσενας χοὰς
Ἀχέροντος ὀξυπλῆγας ἠχούσας γόους.

Die Küsten des Gewässers, schwarz und tief, wo nie
Gesang ertönt, verließ ich, kam von Acherons
gewaltiger Strömung, die von schrillen Klagen hallt.
Das klingt unheimlich wie jedes Erscheinen eines Geistes. Eine Rekonstruktion der Beziehungsstruktur ist damit freilich nicht möglich.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 13.04.21:
Ich bin nicht sicher, dass sich der fantasievolle Sophokles allein auf die aristotelische Definition von Tragik festlegen ließ.. Für mich ist der Stoff tragikfähig, aus moderner Sicht sogar wahnsinnig interessant, weil sich hier ja nicht ein Einzelner , wie zum Beispiel Ödipus oder Antigone zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden muss, von denen er/sie mit ihrer Wahl unausweichlich eine verletzt, sondern ein Kollektiv, die Griechen, die der Dramatiker mit unterschiedlichen Stimmen zu Worte kommen lassen kann, die aber gleichgültig , wie sie im Detail argumentieren, an der Tatsache nicht vorbei kommen, dass Polyxena ein unschuldiges Opfer ihres Selbsterhaltungstriebs ist.
Jetzt habe ich von den unterschiedlichen Möglichkeiten der Tragik nur eine diskutiert´, freilich die wohl Wichtigste.

 Graeculus meinte dazu am 13.04.21:
Ich stimme Dir zu, lieber Ekkehart. Gerade bei Sophokles ist der Fall interessant. Man hat festgestellt, daß er in seinen erhaltenen Dramen (bei denen man es nachprüfen kann) immer eine Person und ihr Dilemma in den Mittelpunkt gestellt hat - mit Ausnahme seines letzten Werkes, der "Philoktet", in dem es eine Dreier-Konstellation gibt: Philoktet, Odysseus, Neoptolemos.

Nun vermute ich - mit Dir -, daß dies auch in der "Polyxena" der Fall war, obgleich man es aus den wenigen erhaltenen Bruchstücken nicht nachweisen kann. Aber die Gesamtsituation spricht dafür: der Stoff ist nicht das Drama nur eines einzelnen.

 Quoth (13.04.21)
Hallo, Graeculus, ja, eine bezaubernde Frauengestalt – erstaunlich, dass Edgar Allan Poe sich ihrer nicht angenommen hat, da für ihn doch der Tod eines jungen Mädchens das geeignetste Thema der Poesie war! Zugleich ist Polyxena der Schlüssel zu einem der am besten und erfolgreichsten verschleierten Geheimnisse des trojanischen Sagenkreises: zum Tod des Achill, für den ein (von Apollo gelenkter) Parispfeil verantwortlich gemacht wird. Aber hat Paris ihn verschossen? Gab es nicht, seit den Troern die Verliebtheit Achills in die jüngste Priamostochter bekannt war, etwas viel Besseres als Achill zu töten – nämlich ihn zu verlocken, mitsamt seiner Myrmidonen die Seite zu wechseln? Und war die Feindseligkeit gegenüber Troja nicht bei Achill ohnehin zusammengebrochen, seit er mit Priamos um den toten Hektor geweint hatte? Hätte er den verhassten Atriden Agamemnon und Menelaos nicht liebend gern den Streich gespielt, von ihrer Fahne zu gehen und zu den Troern überzulaufen? Auch die Griechen waren nicht blind und erkannten, dass ein Seitenwechsel des verliebten Achill eine tödliche Gefahr darstellte. Achill musste sterben, aber wer sollte, wollte und konnte zu seinem Mörder werden? Nur derjenige, der sich erst in der Odyssee im Kampf gegen die Freier Penelopes als meisterhafter Bogenschütze erweist – und zwar mit dem Bogen, der viel zu groß ist, als dass er ihn nach Troja hätte mitnehmen können. Und niemand durfte erfahren, dass er den Pfeil verschossen hatte, weshalb es ein Parispfeil sein musste – um die Vergeltungswut der Griechen gegen Troja zu lenken. Verschossene Parispfeile, die ihr Ziel verfehlt hatten, lagen zu Dutzenden auf dem Blachfeld herum. Agamemnon und Ajax der Lokrer, der seinen Bogen auslieh, waren die einzigen Mitwisser. Und so fiel Achill von der Hand desselben Mannes, der ihn einst mit einer List aus seinem Versteck in den Krieg gelockt hatte. Aber das bemäntelt die Sage – und Goethe gab die Achilleis auf, weil er dem Umsturz des Überlieferten, der sich ihm aufdrängte, nicht gewachsen war. Danke für die Anregung! Quoth

 Graeculus meinte dazu am 13.04.21:
Ha, eine waschechte Verschwörungstheorie um den Tod des Achill! Und ja, zuzutrauen wäre es dem Schlitzohr Odysseus.
Daraus ergibt sich dann die Herausforderung für die Philologen, entweder die alten Texte neu zu interpretieren oder dazu passende alte Texte neu zu finden. Der Schriftsteller hat es da leichter: er macht sich an die kreative Arbeit.

Im Ernst: Sollte es eine Liebesbeziehung zwischen Achill und Polyxena gegeben haben, wäre das Agamamenon & Co. als hochbedenklich erschienen.

 Quoth meinte dazu am 13.04.21:
Ein Liebhaber, der noch aus dem Grabe nach der Geliebten greift, muss sinnlos verliebt und dadurch eine furchtbare Gefahr gewesen sein ...
Diese "Verschwörungstheorie", wie Du sie nennst, verfolgt mich seit meiner Schulzeit, es spricht so verdammt viel dafür! Denke nur daran, wie tückisch er Palamedes erledigte! Egal - Quoth

 Graeculus meinte dazu am 13.04.21:
Darf ich Deine Theorie einmal - mit Quellenangabe, versteht sich - in unserem Altgriechischforum vorstellen?

https://www.albertmartin.de/altgriechisch/

Vielleicht gibt es eine Resonanz oder gar eine Diskussion dazu.

 Quoth meinte dazu am 14.04.21:
Ja, gern! Interessant, ob sich außer mir noch jemand dafür erwärmen kann.
Ein Seitenwechsel Achills wird ja gleichsam vorbereitet und fundiert durch seine fehlende Loyalität gegenüber den Griechen. Kalt lächelnd schaut er zu, wie sie scharenweise von den Troern, vor allem von Hektor niedergemäht werden (Zorn des Achill - auch wegen einer Frau, der Briseis)! Erst als der Tod von Patroklos ihm ein persönliches Motiv liefert, greift er ein. Das Kriegsziel, dem "gehörnten" Menelaos die Ehefrau zurückzugewinnen, ist ihm völlig wurscht.
Und meine Theorie zeigt Odysseus als den, der er ist: Den eigentlichen Architekten des Krieges - der ihn auch, als er aus dem Ruder zu laufen droht, wieder auf Kurs bringt. Der Tod Achills ist für die Griechen ein schwerer Verlust - aber sein Seitenwechsel wäre die Niederlage gewesen.
Warum wurde das verhüllt und bemäntelt? Weil es sowohl Achill (Verräter), als auch Odysseus (Meuchelmörder) moralisch zu sehr herabgesetzt hätte. Gruß Quoth

 Graeculus meinte dazu am 14.04.21:
Meinen herzlichen Dank für Deine anregende Theorie und Deine Zustimmung zu ihrer Veröffentlichung im Altgriechischforum, die ich nunmehr vorgenommen habe:

https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=7379

Dort habe ich übrigens auch sämtliche Quellen zum Polyxena-Mythos vorgestellt: Πολυξένη # 1-7.

Und natürlich kannst Du Dich dort auch direkt einbringen - zu diesem Thema oder einem anderen; eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

 Quoth meinte dazu am 14.04.21:
Militärisch gesehen, ist Achilleus von Anfang an der typische unsichere Kantonist.

 Graeculus meinte dazu am 14.04.21:
Das stimmt auf jeden Fall. Er hat sich ja sogar als Mädchen verkleidet, um nicht für diesen Krieg rekrutiert zu werden, weil die Prognosen/Orakel ihm einen frühen Tod vorhersagten.
Aber auch Odysseus mußte überlistet (!) werden, damit er am Krieg teilnahm.

 Quoth meinte dazu am 15.04.21:
Odysseus war gerade Vater geworden und wollte den kleinen Telemach heranwachsen sehen. Das verstehe ich sehr gut! Das Motiv Achills (wenn man von Orakeln und Göttinnen absieht) ist schwerer zu verstehen. Ich bringe es mit dem frauenfeindlichen Kriegsziel in Verbindung: Nicht nur Helena, sondern allen Ehefrauen der (damaligen) Welt sollte gezeigt werden, dass sie treu zu bleiben haben, selbst wenn ihr Mann sie vernachlässigt und sie sich in einen anderen verlieben.

 Graeculus meinte dazu am 15.04.21:
Möglich ist's, doch entfernt es sich nach meinem Eindruck sehr weit von der Textgrundlage. Hier ist der Bericht in der "Bibliotheké" (III 174) des Pseudo-Apollodor:
Als Achilleus neun Jahre alt geworden war, sagte Kalchas, daß Troja ohne ihn nicht eingenommen werden könne; Thetis aber wußte voraus, daß er im Feldzug umkommen müsse, verbarg ihn deshalb in Frauenkleidern wie eine Jungfrau und vertraute ihn dem Lykomedes an. Dort also wuchs er auf und schlief mit der Tochter des Lykomedes, Deïdameia. So wurde ihm der Sohn Pyrrhos geboren, der wiederum später Neoptolemos genannt wurde. Odysseus aber suchte den Achilleus, der bei Lykomedes verraten wurde, und fand ihn, indem er eine Trompete blasen ließ [σάλπιγγι χρησάμενος εὗρε]. Auf diese Weise kam Achilleus nach Troia.
Die Sorge einer Mutter um ihr Kind ist ja kein unplausibles Motiv.

Am ausführlichsten ist hierzu die "Achilleis" des Statius.

Interessantes Gespräch, übrigens!

 Graeculus meinte dazu am 15.04.21:
P.S.: Unter "Achill als Mädchen" findest Du auch hierzu die einschlägigen Quellen im Altgriechischforum.

 Quoth meinte dazu am 15.04.21:
Gehörte Achilleus eigentlich auch zu den Freiern Helenas, die den von Odysseus vorgeschlagenen Beistandspakt geschworen hatten, auf dem der ganze "Feldzug" (Seezug wäre richtiger) beruhte? M.E. kann er nicht dabei gewesen sein und war deshalb auch nicht verpflichtet, Menelaos beizustehen. Aber chronologische Exaktheit ist nicht unbedingt die Stärke von Sagen ...

 Graeculus meinte dazu am 16.04.21:
Damit werde ich mich einmal näher befassen, also mit den Mythen um Helena. Dazu komme ich allerdings erst in der kommenden Woche.
Hesiod berichtet über die Freier in seinem Frauenkatalog, wobei schon der erste Blick zeigt, daß Achilleus nicht zu ihnen gehört.
Aber Helenas ganze Geschichte ist interessant.
Das Ergebnis meiner Recherche werde ich dann im Altgriechischforum, das Du inzwischen ja kennst, vorstellen.

Da die Griechen zwar zu Schiff nach Troja gekommen sind, dort aber keine Seeschlachten geschlagen, sondern zehn Jahre zu Lande gekämpft und die Stadt belagert haben, kann man, so meine ich, doch von einem Feldzug sprechen.

 Quoth meinte dazu am 16.04.21:
Du: "Interessantes Gespräch, übrigens!" Finde ich auch! Mein Vater konnte den Anfang der Odyssee auf Altgriechisch noch auswendig. Ich bin auf Schwabs Sagen des klassischen Altertums herabgesunken. Aber Cäsars Gallischen Krieg immerhin hab ich mit Wörterbuch im Bett gelesen! Gruß Quoth

 Graeculus meinte dazu am 16.04.21:
Den Anfang der "Odyssee" mußten auch wir, mußte vermutlich man an einem altsprachlichen Gymnasium auswendig lernen. Warum diesen und nicht den der "Ilias" habe ich nicht verstanden.
Den Anfang von Caesars Gallischem Krieg, den natürlich auch.
Immerhin hat Dir Dein Vater, wenn auch nicht die Griechischkenntnisse, so doch die Liebe zur Antike 'vererbt'. Es freut mich, hier auf so jemanden zu stoßen, wie Du Dir das kaum vorstellen kannst.
Wie tief das bei mir geht, kannst Du daran erkennen, daß ich mich seit nunmehr 12 Jahren darum bemühe, das Altgriechischforum lebendig zu erhalten.

 Quoth meinte dazu am 17.04.21:
Besonders interessieren würde mich die Quelle für den Mythos von der ägyptischen Helena. Nach diesem Mythos hat der trojanische Krieg um ein Phantom stattgefunden, vergleichbar den Massenvernichtungswaffen im Irakkrieg.

 Graeculus meinte dazu am 17.04.21:
Diese sog. Eidolon-Theorie geht auf ein Fragment des Stesichoros zurück und wird in einer Variante von Herodot (II 113-116) wiedergegeben: Helena in Ägypten. Stesichoros ist schwer zu finden. Anfang der kommenden Woche werde ich mich damit befassen und das Ergebnis dann im Griechischforum vorstellen.

Schönes Thema!

 Graeculus meinte dazu am 17.04.21:
Von Stesichoros sind nur ganz wenige Fragmente erhalten. Aber es gibt einen Artikel über ihn im byzantinischen Suda-Lexikon. Die Byzantiner des 10. Jhdts. verfügten noch über Quellen, die uns nicht mehr zugänglich sind.

 Graeculus meinte dazu am 22.04.21:
Was ich über Stesichoros und sein Helena-Eidolon gefunden habe, habe ich jetzt im Griechischforum vorgestellt.
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