Am Anfang war das Wort

Erzählung zum Thema Gefangen

von  Quoth

Das war nun eine sehr merkwürdige Geschichte, die Emil mir da auftischte. Er war plötzlich in unserer Familie aufgetaucht, meine Mutter hatte geweint und gesagt: „Man kann über Konrad Adenauer sagen, was man will, aber er hat sich nach Moskau getraut und hat die Gefangenen losgeeist.“ Und sie befahl uns, ihn Vati zu nennen und ihm vorm Ins-Bett-Gehen die stachlige Backe zu küssen und ihm „Gute Nacht!“ zu sagen. Sehr redselig war er zunächst nicht, auf die Frage, wie es in Russland war, sagte er: „Kalt!“ Er war dick geworden, hatte Wasser in den Füßen, die kaum in die riesigen Filzstiefel passten. Aber als er hörte, dass das Museum eine Abteilung für Funde aus der Slawenzeit eingerichtet hatte, war er wie elektrisiert, bewarb sich und wurde deren Kustos. Das war ihm gelungen, weil er in Russland Ausgrabungen geleitet hatte, und zwar in Nowgorod. „Ich hatte doch ein paar Semester Geschichte studiert, bevor ich eingezogen wurde, und das Bergwerk, in dem wir arbeiten mussten, naja, ich weiß nicht, ob ich es überlebt hätte. Und dann wurde uns eines Morgens beim Antreten gesagt, in Nowgorod brauchten sie welche zum Ausgraben. Da meldeten sich natürlich alle, aber es wurden nur fünf genommen, darunter auch ich, weil ich gesagt habe, ich hätte Geschichte studiert. Die Kommunisten hatten scheinbar die Verbindung zur Vergangenheit gekappt, als sie die Zarenfamilie liquidiert haben, aber in Wirklichkeit waren sie scharf auf Tradition und Geschichte wie Nachbars Lumpi, und so buddelten wir in Nowgorod alte Hausfundamente aus, und als ich an einem eine griechische Inschrift fand, waren sie total begeistert, weil das bewies, dass schon die Altrussen im Mittelalter gebildete Leute waren, und ich wurde zum Grabungsleiter befördert und bekam täglich einen Teller Borschtsch, der hat mir das Leben gerettet, denn die anderen starben wie die Fliegen, z.B. auch mein bester Kumpel aus dem Rheinland. Wir waren in einem früheren Hotel untergebracht, da stand ein Klavier mit kaputten Tasten, auf dem spielte er gern, am liebsten 'Für Elise' von Beethoven, er sagte, es erinnere ihn an eine Geliebte, der er ein Kind gemacht habe und von der er nicht wisse, wie es mit ihr weiter gegangen sei. Er wurde immer klappriger und hohläugiger, aber er führte das nicht auf die magere Kost, sondern auf seine Schuldgefühle zurück, und als er wieder mal 'Für Elise' anstimmte auf dem verstimmten Klavier mit den kaputten Tasten, fiel er tot vom Stuhl. Und soll ich dir was sagen? Die griechische Inschrift habe ich in das Fundament gekratzt, ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ Λόγος, das hatte ich aus dem Religionsunterricht behalten.“

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (76)
(06.06.21)
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 Quoth meinte dazu am 06.06.21:
Kein Problem, Graeculus, und vielen Dank. Quoth
Graeculus (76) antwortete darauf am 06.06.21:
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 AchterZwerg (07.06.21)
Bildreich und gleichsam mit "russischer Seele" geschrieben.
Und super pointiert, finnisch. :)

 Quoth schrieb daraufhin am 07.06.21:
Hat die Dostojewski-Lektüre vielleicht doch Spuren hinterlassen! vielen Dank, AchterZwerg!

Antwort geändert am 07.06.2021 um 12:53 Uhr

 Lluviagata (07.06.21)
Hallo Quoth,

eine Geschichte mit Seele hast du hier erzählt. Jede dieser Blüthner-Fortsetzungen kann gut für sich stehen, das Klavier an sich zieht sich wie ein roter Faden hindurch.
Hätten die Russen bemerkt, dass dies ein Bibel-Zitat ist, oh oh ...

Liebe Grüße
Llu ♥.

 Quoth äußerte darauf am 07.06.21:
Selbst beinharte Kommunisten der damaligen Zeit dürften kaum geglaubt haben, Lluviagata, dass die Russen schon im Mittelalter Atheisten waren! Herzlichen Dank für Empfehlung mit Kommentar und Lieblingstext! Quoth
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