Vilma

Erzählung zum Thema Vergangenheit

von  Quoth

Was für ein süßer und strebsamer, freundlicher Junge Herbert war! Aber neuerdings entzieht er sich zunehmend unserer Kontrolle, kommt nach Hause, wann er will, gibt sein Taschengeld für Bier und Zigaretten aus und musste wegen einer unaussprechlichen Krankheit nun sogar zum Arzt … Wir Eisenpflichts erfreuten uns bis dato in Himmelstein eines makellosen Rufs, aber der ist nun dahin, denn wenn ich auch an Dr. Noors ärztlicher Verschwiegenheit nicht den geringsten Zweifel hege – Herbert sagt, das Wartezimmer sei gestopft voll gewesen, er sei mit vollem Namen aufgerufen worden, und Eisenpflicht ist nun mal kein Allerweltsname; Frau Flöl, zu der ich wegen eines Strumpfgürtels musste, fragte schon ganz beiläufig und hinterhältig, ob es Herbert wieder besser gehe. Er sei gar nicht krank gewesen, wie sie darauf komme? Sie benannte eine Dame, wenn man sie Dame nennen kann, denn sie steht in der Oase hinter der Theke, mir blieb nur, mit den Schultern zu zucken. Aber schlimmer ist noch, dass er nun mit allen anderen seines Jahrgangs in diesen Film getrieben wurde. Ich begreife nicht, dass man den 16Jährigen einen Film zumutet, der uns Deutschen wieder mal alles Böse in die Schuhe schiebt. Herbert ist völlig durch den Wind, seit er diesen Film gesehen hat, der natürlich aus Frankreich kommt, dort hat man uns schon immer gehasst. Er läuft treppauf, treppab, auf den Boden, in den Keller, durchwühlt alle Schränke, ich frage ihn, was er sucht, er sagt: „Das Kissen, das ich hatte, als ich drei war!“ Warum er das suche, frage ich ihn, und er sagt: „Weil ich glaube, dass ich Recht hatte! Erinnerst du dich nicht mehr, wie ich schrie, als ich entdeckte, dass Haare darin waren?“ Das fiel mir wieder ein, ja, es war schrecklich, was für einen Terz Herbert machte, immer zeigte er mit spitzem Fingerchen auf das Haar, das aus der Ritze des Kissens quoll, und schrie und schrie und war gar nicht wieder zu beruhigen. Ich konnte ihm tausendmal sagen, dass es Rosshaar sei, vielleicht kannte er das Wort Ross noch nicht, er hatte ein Steckenpferd, ich hätte Pferdehaar sagen sollen, er wollte partout seinen Kopf nicht wieder darauflegen, und da habe ich ihm ein anderes gegeben, und das Rosshaarkissen habe ich ausrangiert, ich glaube, es ist in den Müll gewandert, das sage ich Herbert, und Herbert sagt, er sei sicher, dass es Menschenhaar gewesen sei, er habe in dem Film einen Berg von Haar gesehen, das man den Frauen abgeschnitten habe, bevor sie ins Gas getrieben wurden, zwar nur in Schwarzweiß, nach seiner Erinnerung sei das Haar in dem Kissen brünett und es sei Menschenhaar gewesen, da sei er sich ganz sicher, deshalb habe er sich davor so geekelt, und es sei jammerschade, dass ich dies Beweisstück vernichtet hätte. Der Junge entgleitet mir, was soll ich bloß tun? Emil beruhigt mich und sagt, wir müssten uns den Realitäten stellen, aber bestimmte Realitäten, wenn es denn welche sind, lasse ich nicht an mich heran.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (16.07.21)
Zur Stärkung dieser "vorbildlichen" Erziehung empfiehlt sich vielleicht ein Sommerlager der JA (Jungen Alternative) ...
Und ruck-zuck bettet der Knabe sich gern wieder dahin, wohin man ihn legt.

Gut erzählt und in der angedeuteten Verschwiegenheitstaktik nachvollziehbar.

 Quoth meinte dazu am 16.07.21:
Als Herbert Drei war, nannte sich die JA noch HJ ... Ist es Verschwiegenheits- oder Verdrängungstaktik? Im Ergebnis sind beide wohl ähnlich.
Danke! Gruß Quoth

 Willibald (18.07.21)
Mir sind noch gut die schwirrenden Stimmen im Gedächtnis aus der Zeit von "Nacht und Nebel" (Resnais), der Serie "Holocaust", Spielbergs "Schindlers Liste" und natürlich Lanzmann mit "Shoah". Lanzmann hatte auf archivierte Bilder verzichtet. Bei Kempowski "Im Block"/"Ein Kapitel für sich" gibt es eine geschilderte Vorführung eines KZ-Dokumentarfilms und eine stoisch abweisende Reaktion der Zuschauer.

Narrative bewegen sehr. Gerade auch die, welche anskizzieren und Leerstellen bauen. Auch solche, in denen Gegenstände zu Erzählern werden, wie in den schritlichen "Flügelintarsien".

Kommentar geändert am 18.07.2021 um 16:14 Uhr

 Quoth antwortete darauf am 19.07.21:
Vielen Dank, Willibald. Ja, "Nacht und Nebel" war in den 50ern eine Zeitenwende.
Danke auch für den Begriff "Flügelintarsien".
Gruß Quoth

 Willibald schrieb daraufhin am 19.07.21:
Soweit ich weiss gab es erhebliches Sperrfeuer gegen den Film, in der BRD und in der DDR. Schulaufführung?

 Quoth äußerte darauf am 19.07.21:
Nicht ganz. Alle Schüler ab 16 wurden vom neuen Direktor angewiesen, sich den Film im lokalen Kino anzuschauen - gingen als lustige Heranwachsende hinein, kamen um Jahre gealtert wieder heraus.

 Willibald ergänzte dazu am 19.07.21:
Gratias.
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