Der Zettel

Erzählung zum Thema Vergangenheit

von  Quoth

Zu Karla Janssen in den Unterricht zu gehen, war für mich wie nach Hause kommen. So ein Elternhaus hatte ich mir immer gewünscht  – die Bücher, der Flügel, das Porträt der Großeltern – und Karla Janssen selber, die Sinn, Geborgenheit und Schönheit in Musik und Kunst, Wahrheit in Philosophie und Literatur verheißend und verkörpernd unter all dem residierte, sich kümmerlich genug mit Klavier- und Flötenunterricht und Orgelspielen auf verschiedenen Dörfern durchschlug und darüber hinaus noch ein Zimmer an Frau Pokraka, eine alte Flüchtlingsfrau, vermietet hatte, die mit nichts als ihrer Kaffeemühle im Arm aus Masuren in Himmelstein angekommen war.
„Ja, es ist richtig,“ sagte Karla Janssen, als ich sie nach ihrer Heimkehr aus dem Hospital auf den Zettel unter den Saiten aufmerksam machte, „es ist richtig, diesen Flügel haben die Vorbesitzer bei Adolf Levi in Hamburg gekauft und von ihm stimmen lassen. Sie waren auch jüdisch und haben ihn zum Verkauf angeboten, weil sie nach Palästina auswandern und die Reichsfluchtsteuer von dem Erlös bezahlen wollten. Das ist ein trauriges Kapitel, auf das ich nicht gern zu sprechen komme, denn haben wir damals nicht von der Not dieser zu Unrecht nur wegen ihrer Rasse vertriebenen Menschen profitiert?“ Sie tupfte sich die wässernden Augen mit dem Batisttaschentuch, das sie immer bei sich trug, und zeigte mir das in die Ecke eingestickte Monogramm: F.W. „Ja, wir haben ihnen nicht nur den Blüthner, sondern auch einen Großteil ihrer Wäsche, ihres Geschirrs und Mobiliars abgekauft. Sie wollten es ja so, waren glücklich, in meinen Eltern finanzkräftige Abnehmer gefunden zu haben, die den geforderten Preis nicht zu drücken suchten. Natürlich: haben wir ihnen für den Flügel höchstens ein Zehntel seines wahren Wertes bezahlt, dasselbe gilt für diese Couch mit dem Ledaschwan und den dazu gehörigen Tisch und die Stühle. Wir haben uns in bester Absicht, ihre durch staatliche Verfolgung verursachte Not nutzend, bereichert. Meinen Eltern schwante dann, dass es nicht mit rechten Dingen zuging. Sie waren absolut nicht antijüdisch eingestellt, im Gegenteil: Der Anwalt meines Vaters war jüdisch, unser Hausarzt war jüdisch, und die Lieblingsmusik meiner Mutter war das 1. Violinkonzert von Bruch, bei dessen Ertönen sie förmlich dahinschmolz … Das Angebot der Wolfs, uns ihr Haus zu verkaufen, nahmen wir nicht an, zumal mein Vater, Architekt, sich selbst eins bauen wollte. Die Wolf-Villa wurde vom Staat erworben, und als sich die Hausbaupläne meiner Eltern am ausbrechenden Krieg zerschlugen, erwarben wir sie, irgendein Regierungsrat spielte den Verkäufer … Ich weiß, wie sehr du es genießt, zu mir zu kommen, weil dir alles so bieder, brav und traditionell bürgerlich erscheint. Ja, das ist es, aber es ist eine vergiftete Bürgerlichkeit, denn die Wolfs, die sie aufgebaut haben, haben kein Schiff nach Palästina bekommen, dafür aber eines nach Kuba, du hast bestimmt von der St. Louis gehört, – aber als sie dort ankamen, wollte man nichts von ihnen wissen und hat sie zurückgeschickt, ihre Spur verliert sich …“ Sie hielt plötzlich inne, sog die Luft durch die Nase ein. „Himmel!“, rief sie. „Frau Pokraka hat wieder die Bratkartoffeln auf dem Herd vergessen … Das ist nun schon das dritte Mal in dieser Woche! Herbert, wir reden ein andermal weiter über Vergangenes, das nicht vergehen will. Den Telemann hast du schon wunderbar drauf; da wird Manfred sich anstrengen müssen! Grüß deine Mutter!“

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (24.04.21)
Hallo Quoth,
gleich der erste Abschnitt, der, ich sags mal auf meine Art, ein Monstersatz ist, nimmt mich gefangen, da ich mich selbst als Kind immer in fremden Wohnungen wohler fühlte als zu Hause, Meine Eltern waren Arbeiter, meine Mutter ein Flüchtlingskind, mein Vater in Dresden ausgebombt, sie konnten sich kein Klavier oder Ähnliches leisten, obwohl die Musik zu ihrem Leben gehörte. Selbst die kleine Wohnung hätte so ein edles Stück, selbst ein schmales Klavier, niemals beherbergen können. Mein Vater behalf sich irgendwann mit einer Musiktruhe mit Spulentonband, für die er lange und heimlich gespart hatte. Ich selbst hätte liebend gern Klavier spielen gelernt, aber wie sollte das gehen.

Schon zu Anfang deiner Erzählung hatte ich die leise Ahnung, dass es darauf hinaus läuft, dass der Flügel sich als ein sogenanntes Stück "Beutekunst" erweisen wird. Dieses Verhalten der Frau des Hauses ist bezeichnend für den Menschen in Kriegszeiten und danach.

Liebe Grüße
Llu ♥

 Quoth meinte dazu am 24.04.21:
Hallo Lluviagata, vielen Dank, dass Du Deiner Empfehlung auch noch einen Kommentar beigefügt hast. Viele Empfehlungen bekommt man, ohne genau zu wissen warum; kann nicht auch etwas als Negativbeispiel empfohlen werden?
Ja, manchmal sprudelt so ein Monstersatz aus mir heraus, aber Du scheinst ihn mir verziehen zu haben.
Die Opfer ideologischer Gewaltpolitik werden förmlich überbelichtet, die stillen Nutznießer bleiben meist im Schatten.
Gruß Quoth
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