Schach

Erzählung zum Thema Langeweile

von  Quoth

Die Oase und das Flippern mied Herbert, aber für die Schule zu arbeiten, gefiel ihm auch nicht, obgleich es verdammt nötig gewesen wäre, denn die Abiturprüfung rückte immer näher, er hätte eine Charakteristik von Hektor schreiben müssen, aber Hektor war ihm Hekuba, und so beschloss er, nachdem er im Gasthof zum Bären Schachspieler beobachtet hatte und fasziniert war von ihrer schweigenden Versenkung in Abläufe, die er nicht verstand, Schachunterricht bei Herrn Kalkar in der Höllenmühle zu nehmen, einer alten Wassermühle, die in einen Jugendtreff umgewandelt worden war, nachdem sie achtzig Jahre leer gestanden hatte, weil das Getreide aus Wirtschaftlichkeitsgründen in die Dampfmühle neben der Schuhwichsefabrik zum Mahlen gebracht wurde. Das gewaltige alte Räderwerk, die gigantischen Mühlsteine waren immer noch zu besichtigen, aber nun waren Tische in den halbdunklen Arbeitsräumen aufgestellt, und Inspektor Kalkar, beruflich als Ermittler in Betrugsfällen im Polizeipräsidium tätig, führte in das von ihm virtuos beherrschte Schachspiel ein. Wie gut er es beherrschte, war zu ersehen aus seinem Titel als Himmelsteiner Stadtmeister, den er souverän mit acht Siegen gegen seinen Vorgänger erobert hatte – und er begann mit der Eröffnungslehre. Herbert verbiss sich in die Spanische Eröffnung, die ihm auf ähnliche Weise gefiel wie die Sonatine von Ravel: Aus rätselhaften Gründen schien sie seinem Charakter nicht nur zu entsprechen, sondern ihn geradezu abzubilden. Der kühne Läuferzug, der den gegnerischen Springer fesselt, begeisterte ihn, dann mit Hilfe der Rochade und eines unauffälligen Turmzugs dem Schwarzen die Dame abzuluchsen, gelang ihm immer wieder, und als der Exstadtmeister einmal dabei zusah, knurrte er: „Der Junge hat Talent, Kalkar, den merken wir uns!“ – und bald schon saß auch er abends bis in die Puppen im Gasthof zum Bären und rang mit einem alten längst pensionierten einäugigen Studienrat, der einen ganzen Strauß tückischer Züge in petto hatte. Z.B. Herbert spielte den Königsbauern und freute sich auf den Läuferzug, aber der alte Engelbrecht ließ minutenlang seine welke Hand über dem Brett rütteln, und Herbert sah sich plötzlich der Jagdvariante eines Russen namens Aljechin ausgesetzt, von dem Engelbrecht sagte: „Er hat uns auch in schlechten Zeiten die Stange gehalten und sich klar gegen die Verjudung des königlichen Spiels in Stellung gebracht!“, und dabei nahm er das Glasauge heraus, putzte es und drückte es in die Höhle zurück. Im Bären wurde nicht weniger Bier getrunken und geraucht als in der Oase, auch Engelbrecht bot ihm einmal, als es drei Uhr morgens war, sein Bett an, aber Herbert schaffte es mit knapper Not in sein eigenes, nicht ohne, an der wolfschen Villa vorbeikommend, zu sehen, wie der große Blüthner trotz der nachtschlafenen Zeit in einen Speditionslaster gewuchtet wurde. Zu seiner Überraschung entdeckte er, dass sein Vater ebenfalls Schach spielte; in Nowgorod hatten sie Schachfiguren aus Zeitungspapier mit Spucke zusammengepappt, später mehrfach mit anonymen russischen Meistern simultan gespielt, auf einem Zeitungsfoto habe er einen von ihnen erkannt: „Es muss Botwinnik gewesen sein, der jetzige Weltmeister, die Stirnglatze, die starken konkaven Brillengläser. Keine Ahnung, warum er uns beehrte; ich nehme an, er hoffte auf Nuggets, das sind abseitige Zugideen, wie sie nur Amateure hervorbringen.“

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