Storm ist doch ein Kitschproduzent

Anekdote zum Thema Provokation

von  EkkehartMittelberg

In den achtziger Jahren bewarb ich mich auf die Stelle eines Koordinators.  Dieser hatte dafür zu sorgen, dass die Übergänge von SchülerInnnen einer Gesamtschule auf gymnasiale Oberstufen möglichst gut funktionierten.  Dieses neue Amt wurde vom hessischen Kultusministerium sehr ernst genommen und man schickte drei Schulräte, die mich überprüfen sollten.
Ich musste u. a. eine Unterrichtsstunde in einem 10. Gymnasialschuljahr halten und entschied mich dafür, den Herren eine Sequenz über Storms „Schimmelreiter“  vorzuführen, in der es darum ging, dass Hauke Haien versuchte, den Aberglauben der Dorfbevölkerung zu bekämpfen.
Nach der Unterrichtsstunde meinte einer der Prüfer, sie habe ihm gefallen, aber Storm sei doch ein Kitschier.
Mir war sofort klar, dass der Mann testen wollte, ob ich mit Provokation umgehen könne, also fragte ich kurz entschlossen, ob ich auf seine Feststellung in dem für den Nachmittag angesetzten Kolloquium eingehen könne. Das wurde mir zugesagt.
In der Mittagspause „bewaffnete“ ich mich mit einem fiktiven Interview, das die damalige linke Zeitschrift „Konkret“ mit Theodor Storm führte. Dieses Interview bezog sich vor allem auf das bekannteste Storm-Gedicht “Die Stadt“. Da ich den Text des Interviews nicht mehr habe, zitiere ich aus dem Gedächtnis: “Hallo Herr Storm, hier ist der Freiheitssender Haddemarschen aus Hasselburen. Was macht der Karneval in Husum?“

Theodor Storm
„Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.“

Freiheitssender: „Herr Storm, Sie haben uns wohl falsch verstanden. Wir möchten wissen, was der Fasching in Husum macht?“

Storm:
„Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn’ Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.“

Freiheitssender: „Herr Storm, der Karneval ist wohl nicht Ihr Metier. Dann erzählen Sie uns doch mal, was die Pfeffersäcke in Husum treiben?“

Storm:
„Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.“

Ich breche das Interview hier ab, weil jedem Leser klar wird, dass „Konkret“die Lyrik Storms satirisch auf die Schippe nimmt.
Außerdem hatte ich für die Überprüfung einen Fotoroman mit Bildern aus der Verfilmung von Storms „Immensee“ durch Veit Harlan dabei. Hier ist eine Kurzfassung des Films von Moviepilot:
„Immensee ist ein Film aus dem Jahr 1943 von Veit Harlan mit Kristina Söderbaum, Carl Raddatz und Paul Klinger.
Komplette Handlung und Informationen zu Immensee
Elisabeths große Liebe ist Reinhart, ein angehender Musiker. Gemeinsam verbrachten sie auf Immensee eine glückliche Jugend. Obwohl auch er sie liebt, verlässt er Immensee, um in Hamburg sein Studium aufzunehmen. Lange lässt er nichts von sich hören, bis sie sich auf Immensee wieder sehen. Glücklich über diese Begegnung, besucht Elisabeth ihn in Hamburg, doch das Großstadtleben ihres Geliebten ist ihr fremd, verwirrt und enttäuscht kehrt sie nach Hause zurück. Nun endlich gesteht ihr Erich, der lange auf sie gewartet hat, dass er sie liebt, und als er nach dem Tod des Vaters den Hof erbt, heiraten sie. Elisabeth hält ihm die Treue auch nach seinem Tod. Alle Liebesbezeugungen des jetzt berühmten Dirigenten Reinhart können sie nicht beirren.“
Bei dem Kolloquium am Nachmittag zitierte ich das satirische fiktive Interview und die Zusammenfassung des Films von Veit Harlan und erläuterte,  dass das Interview zwar witzig sei, aber keineswegs Kitsch entlarve, die Rezeption Immensees durch Veit Harlan aber den Kitsch-Verdacht nahelege.  Ich fragte die Herren, ob ich noch eine Quelle zitieren dürfe, die sehr kurz sei. Ich durfte. Die Quelle lautete:
„Er ist ein Meister. Er bleibt.“
Ich kommentierte genüsslich, dieses Zitat stamme von keinem Geringeren als Thomas Mann, dessen Urteil ich mich anschlösse. Die Prüfer grinsten zufrieden und prüften danach meine Kenntnis von Erlassen.

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (24.08.21)
viele hätten gern wie er geschrieben
die es dann vor frust mehr „kritisch“ trieben
sozusagen völlig sekundär
denn mehr gab ja ihr „talent“ nicht her.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.21:
Merci, Henning, so sehe ich es auch.

LG
Ekki

 AZU20 (24.08.21)
Ja, Du warst schon so einer. Gut gemacht. LG

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.08.21:
Merci, Armin. Mit "Konkret" wollten sich die Herren jedenfalls nicht identifizieren.
LG
Ekki

 TassoTuwas (24.08.21)
Hallo Ekki,
das hast du elegant gemeistert, allerdings, nicht ganz ohne Risiko, denn, dass die Herren den Veit Harlan schweigend hingenommen haben erstaunt mich doch.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 24.08.21:
Gracias, Tasso, "Immensee" lag außerhalb der Verdächtigungen Harlans auf nationalsozialistische Ideologie.
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (24.08.21)
Die Vertreter des Literaturbetriebs - von der Schule über die Schreibenden bis zum Feuilleton - mögen es gar nicht, wenn man das sagt, aber sie unterliegen sehr stark ihren Moden. Darum ist es zuweilen interessant, was sie gut finden, was sie kritisieren, muss man aber nicht gleich ernst nehmen.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 24.08.21:
Du hast recht, Trekan. Freilich ist es bitter, wenn man der Betroffene haltloser Kritik ist, wie zum Beispiel Celan durch die Gruppe 47.
Dieter Wal (58)
(24.08.21)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 24.08.21:
Merci, sagen wir so: Der Job verlangte diplomatische Fähigkeiten.
Dieter Wal (58) meinte dazu am 25.08.21:
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 AchterZwerg (25.08.21)
Der Begriff "Kitschier" klingt auffallend gut, trifft allerdings auf Storm und sein hier zitiertes Gedicht so gar nicht zu, das gerade durch die Schlichtheit der Sprache überzeugt.
Am "Immensee" mögen sich die Geister scheiden; die Verfilmungen werden jedoch gern und immer wieder im Fernsehprogramm angeboten, sind also noch immer Quotenbringer.

Jedenfalls: Gut gekontert, Ekki! :)

Liebe Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.08.21:
Merci, Piccola, ich hatte Glück, dass die drei Herren konziliant waren.

Liebe Grüße
Ekki

 indikatrix (25.08.21)
Theodor Storms Liebesgedichte
und die über seine seine Kinder...
entdeckte ich als Jugendliche im Bücherschrank,
damit fing es für mich an.

Liebe Grüße,
Indikatrix

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.08.21:
Grazie, Indi, so ist es vielen ergangen, weil die Leseringe besonders intensiv für Storm warben.

Liebe Grüße
Ekki
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