Im Dorf wird gern getratscht. Man kennt sich ja von Kind an, und den wachen Augen der Nachbarn entgeht nichts. So ist das auch in Bonnard, diesem 400-Seelen-Flecken in Burgund, wo mich familiäre Bande regelmäßig hinführen, mitten hinein in den Tratsch.
Beliebtes Thema sind – wie könnte es in Frankreich anders sein: Paarbeziehungen. Aber nicht im Sinne von „des histoires de cul“, wie man es hier deftig ausdrückt, also schlüpfrigen Bettgeschichten, sondern eher von „co-habitation“ oder „ménage à trois“.
Von unserer Bäckerei habe ich ja schon einmal berichtet und dem Bäcker-Ehepaar Lebreton, das sich in einem selbstquälerischen Prozess auseinander lebte: Sie tagsüber zehn Stunden im Laden, er nachts in der Backstube. Das konnte ja nicht gutgehen. Als er eine Affäre mit einer Fahrerin anfing, die für die Bäckerei vormittags die Tournee fuhr, zündete Madame den Laden an. La catastrophe! Und fürwahr ein ganz heißes Thema im täglichen Dorf-Tratsch, über Monate der Dauerbrenner.
Es dauerte ein Jahr, bis die Bäckerei restauriert und ein neuer Bäcker gefunden war. Tatsächlich haben wir jetzt einen 19jährigen Junggesellen zusammen mit … seinen Eltern.
Die Lebretons hatten eindeutig das bessere Baguette, da sind sich heute aber alle einig. Wo der untreue Bäcker hin ist, habe ich noch nicht rausgekriegt. Madame Lebreton aber lebt inzwischen mit neuem Partner im Nachbardorf, da habe ich die beiden fröhlich vereint auf dem Flohmarkt getroffen.
Nicht weit von der Bäckerei entfernt schwelt ein anderes Ehedrama, nämlich im Haus von Dachdecker Martinet. Wieder ein Ehemann, der beruflich total eingespannt ist, denn Maurice Martinet kann alles, auch Innenausbau und Sanitär. Er ist zwar etwas verschrien als „bricoleur“, aber dafür nicht teuer. Madame Martinet dagegen „est sans occupation“, um es mit den bösen Dorf-Zungen zu übersetzen: Die sitzt nur ´rum.
Was sie auszeichnet: Ihre Frömmigkeit gepaart mit größtmöglicher Nähe zu Priestern, und mit dieser klerikalen Grundveranlagung bringt sie einigen Schwung in ihr einsames Leben. Hatte sie früher den Ehrgeiz, ihre zwei Söhne zu herausragenden Messdienern zu machen (den jüngeren gerne auch zum Priester), so reist sie inzwischen, da die Knaben dem elterlichen Hause entflohen sind, den Pfarrern der Diözese hinterher, - weite Wege! - natürlich nur als omnipräsente Katechetin und rein platonisch.
Da der Haushalt und das Kochen dabei wohl immer mehr zu kurz kommen, sehe ich regelmäßig eine andere Dame im Hause des Dachdeckers aktiv werden, Caroline, die ehemalige Friseurin des Dorfes, unverheiratet. Die hatte ihren Salon aufgegeben, um den dementen Vater zu pflegen, und nach dessen Tod war sie sozusagen frei, um als „Haushälterin“ bei ihrem Jugendfreund Maurice einzusteigen, dem Dachdecker – auch wieder nur rein platonisch.
Kommen wir zu den Brüdern Jojo und Luc Désertenne. Die haben von frühester Jugend an die hübsche Annie von der Post verehrt, und die hübsche Annie hat sich das gerne gefallen lassen, bis ein Dritter aus dem Hauptpostamt in Autun kam und sie den Brüdern wegheiratete. Leider starb der
Mann schon früh, und das Rennen um Annie, die dann mit einem dreijährigen Sohn zurückkam, war damit wieder offen. Nein, so wurde mir erzählt, die Brüder hätten das ohne Blutvergießen hinbekommen, ihre noch einige Jahre andauernde Rivalität. Am Ende war es Jojo, der bei Annie einzog – nicht triumphal und auch nicht mit Trauschein, aber in aller Offenheit. Luc ist auch heute noch, 20 Jahre nach seinem Aus, der zu kurz gekommene Junggeselle.
Ganz anders hat sich der ehemalige Immobilienmakler Simon mit den Frauen arrangiert. Der mittlerweile fast 80jährige, vom Typ her ein bisschen Jean-Paul Belmondo, begegnet mir schon mal morgens, wenn wir im Badesee ein paar Bahnen schwimmen. Nachbarn haben mir - fast mit einer gewissen Bewunderung - erzählt , dass er abwechselnd hier im Dorf bei einer Céline und dann in der Nähe von Paris bei einer Marie lebt. Mit beiden, so wussten sie, hat er je ein Kind, eine mittlerweile über 40jährige Tochter und einen 30jährigen Sohn. Hier bei Céline würde er ziemlich kurz gehalten, da sei er nur Gast, denn das alte Bauernhaus gehörte ihr – er täte da auch keinen Handschlag, nicht mal im Garten, aber in der Nähe von Paris, da sei er der Besitzer von etwas richtig Großem und natürlich der unbestrittene Chef. Von zwei Enkeln hätte er mal erzählt, und da die Tochter auf Martinique lebte, käme er auch weit herum, nein, langweilig wäre sein Leben definitiv nicht – was ihm alle absolut abnehmen würden, auch ich, zumal man mir noch anvertraute, dass dieser Simon auch ganz andere Frauengeschichten gehabt hätte. „Un beau mec,“ bekam ich als Erklärung zu hören, er sei halt auch verdammt gut aussehend.
Natürlich gibt es in Bonnard auch „ordentliche“ Beziehungen. Völlig langweilige, die nichts für den Tratsch oder Gerüchtemarkt hergeben. Baptiste, der „mécano“ zum Beispiel, der die Dorf-Werkstatt betreibt – seine Frau arbeitet jeden Tag bei ihm, entweder gut gelaunt an der Kasse oder freundlich an der Zapfsäule. Da brennt nichts an, denken alle, zumal Baptiste auch Chef der freiwilligen Feuerwehr von Bonnard ist.
Oder das junge Paar, das die Metzgerei übernommen hat. Sie bekommt jetzt das dritte Kind. Ihr Mann und sie beide recht füllig – vielleicht ist so ein stattliches Körpergewicht ja auch Garant für eine stabile Beziehung? Seitensprünge, puhh, viel zu anstrengend...
Allen gemein in diesem dörflichen Miteinander aber ist - egal, ob „ordentlich“ liiert oder in freier Umlaufbahn – eine gewisse Nonchalance. Da muss sich keiner verstecken. Es schreit auch keiner Sodom und Gomorrah oder ruft den Untergang von Sitte und Anstand aus. Okay, es wird geredet. Aber es wird nicht gerichtet, verurteilt und öffentlich hingerichtet. In wessen Namen auch? Die Kirche als Hüterin der Moral ist in Bonnard nicht mehr existent.
Nein, ich erlebe viel Toleranz. Möglicherweise ist es auch Gleichgültigkeit. Jedenfalls passt hier der Ausspruch: In Bonnard lebt man und ….. man lässt leben.
Vielleicht, das sag ich mal, in der nicht ganz unklugen Erkenntnis, dass geglücktes Leben auch ein Stück weit Glücksache ist.