Viele, die am heutigen Sonntag in Paris den Friedhof Montparnasse besuchen, werden ein Metro-Ticket dabei haben. Denn sie besuchen den „Poinconneur des Lilas“, jenen unsterblichen Metrobeamten, der im Dunkeln der Station Porte des Lilas die Tickets lochte – tausende Löcher jeden Tag in die achtlos hingehaltenen Fahrkarten. Und dieser Poinconneur träumte da unten tatsächlich von der Sonne Miamis…. Und er hätte jetzt sozusagen Geburtstag.
Denn synonym mit diesem Metro-Helden ist der Star des Friedhofs, jener Sänger, der 1959 mit besagtem Chanson sein Debüt feiern konnte: Serge Gainsbourg.
Der Sohn ukrainischer Einwanderer - am 2.4. 1928 als Lucien Ginsburg geboren - hatte als Maler und Musiklehrer begonnen, bevor er sich als Autor und Songschreiber einen Namen machte. Boris Vian ermutigte ihn, auch selber zu singen.
In Deutschland und der ganzen Welt bekannt wurde Gainsbourg, als er 1969 im Duett mit Jane Birkin „Je t´aime… moi non plus“ sang – das Stöhnen zweier Liebender wurde als großer Skandal empfunden und das Lied vielerorts verboten.
Gainsbourg provozierte weiter. 1973 „Balade de Melody Nelson“, in der die Liebesgeschichte mit einer 15jährigen erzählt wird; 1975 „Rock around the Bunker“, wo er sich mit der Besetzung Frankreichs durch die Nazis auseinandersetzte und 1979 die Reggae-Hymne „Aux armes et caetera“, die nichts anderes war als die „Marseillaise“ im frechen Karibik-Sound.
Fünf Jahre später folgte „Lemon Incest“. Da sang der Provokateur mit seiner damals 12jährigen Tochter Charlotte ein Chanson über den Inzest zwischen Vater und Tochter – der Videoclip zeigt ihn mit nacktem Oberkörper, die Tochter im Nachthemd auf dem Bett.Skandal.
Doch der Künstler konnte weit mehr als nur provozieren. Er firmierte im Kino und auf der Bühne als auteur, compositeur, chanteur, acteur, réalisateur, artiste-peintre und poète… will sagen ungemein wandlungsfähig und kreativ. Sein musikalischer Stil lässt sich nicht wirklich eingrenzen. Gemeinsam sind all seinen Chansons ausdrucksstarke Texte, die sich oft durch ausgetüftelte Wort- und Lautspiele, eindringliche Bilder, unerwartete Wendungen und teils provokante Äußerungen auszeichnen. Provokant, das war er pour de vrai!
Aber nicht nur deswegen wurde er in Frankreich bewundert.. oder als "enfant terrible" abgetan. Seine Unangepasstheit, die vorgelebte Libertinage, ein ausschweifender Lebensstil – damit war er in allen Medien sehr präsent, oft lässig seine Gitanes rauchend, oft später auch unverkennbar alkoholisiert.
Alles nur Pose, sagen die, die ihn kannten. Er hatte sich am Ende sein Alter Ego geschaffen, Gainsbarre genannt, den Kettenraucher, Kampftrinker, Frauenheld, den er in seinem Lied «Ecce Homo» (1981) beschreibt. Und Gainsbarre war der Gegenentwurf zu einem zeitlebens von Selbstzweifeln geprägten Gainsbourg. Eine merkwürdige Koexistenz.
Auf dem Montparnasse-Friedhof kann man beide besuchen. Da liegt Gainsbarre, und es gibt Besucher, die für ihn Zigarettenstummel deponieren oder Pastis-Gläser. Da liegt aber auch der feinfühlige Serge neben seinen Ginsburg-Eltern, und für den gibt es die Metro-Tickets. Die werden ihm mit deutlich mehr Achtung gereicht als damals seinem einsamen Poinconneur in der Station Porte des Lilas.
Ihren 95sten Geburtstag könnten Gainsbarre/Gainsbourg jetzt feiern. Aber schon seit März 1991 sind sie auf dem Cimetière Montparnasse zu Hause. Übrigens in sehr illustrer Gesellschaft: Baudelaire liegt da, Ionesco, Samuel Beckett, Maupassant, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Marguerite Duras, Serge Reggiani, Man Ray….
Wer mit der Metro anreisen will: Linie 4 oder 6, Station Raspail.