Maseltow

Erzählung

von  Quoth

Blatt 14

Gertrud an Vilma

Liebe Vilma, entschuldige, dass ich so lange nicht von mir habe hören lassen, aber ich stecke in einem Kuddelmuddel, das Du Dir nicht vorstellen kannst. Aus dem Bürgerverein bin ich ausgeschlossen worden, weil ich einen Geliebten habe, der nicht ganz Ellen Keys Wunschvorstellung von der Veredelung der Rasse entspricht. Was für einer das ist, wirst Du erraten können, wenn ich Dir sage, dass ich mit ihm nach Israel auswandern will, wozu seine Frau nicht bereit ist. Ich weiß, dass Du darüber nicht wenig erstaunt sein wirst, denn ich habe ja früher ganz anders gedacht, geredet und auch brieflich geschrieben, habe verächtlich von den Söhnen Noahs gesprochen und meinen Vater mit „Die Juden sind unser Unglück“ zitiert. Ich war, verdammt nochmal, voreingenommen, habe verächtlich auf die vielen armen Krauter herabgeblickt, die jetzt aus dem Osten zu uns geflüchtet kommen. Aber sind Karl Marx und Theodor Herzl nicht die größten Planer und Ideengeber unserer Zeit, und war Walter Rathenau nicht unser bester Außenminister? Selbst Stresemann kann ihm nicht das Wasser reichen! Ach, ich rede schon wie ein Stammtischbruder und verstehe doch überhaupt nichts von Politik, und wenn es demnächst ans Wählen geht, werde ich mein Kreuz da machen, wo Siegfried mir sagt, dass ich es machen soll. Ich bin von zu Hause ausgezogen, Rolf schreit Zeter und Mordio, meine Beziehung zu Siegfried ist Stadtgespräch, aber das halte ich aus, ich wohne jetzt im Schwesternheim und betreue die Kinder der Ärzte, die froh sind, dass es mich gibt, weil die Kinder bei mir nicht den ganzen Tag beten müssen wie im hiesigen Kindergarten. Meine Scheidung ist eingereicht, und Siegfried hat den Scheidebrief schon geschrieben, Du weißt ja Einiges von den Gebräuchen der Juden, weil Du bei dieser Familie warst, ja, sogar die Passage mit dem Schiff von Livorno ist schon gebucht, ich wünschte nur, wir, Du und ich, würden uns, bevor wir fahren, noch einmal leibhaftig begegnen und umarmen, das Briefwechseln mit Dir hat mir so viel bedeutet, ja, es hat mir auch Mut gemacht zu dem Volk, dem ich nun anzugehören gesonnen bin. Wie dankbar ich Dir bin, dass Du mich vom Briefschreiben an den Baron abgebracht hast, ich wünsche Dir hundertmal maseltow auf Röshof! Deine Gertrud

(Wird fortgesetzt)



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram