1. Kennenlernen

Text

von  Elisabeth

Ich wollte mit einigen meiner Kommilitonen die gerade bestandene Klausur Anlagentechnik feiern. Während wir an der Bar unser Bier bestellten, fiel mir eine, im Gegensatz zur studentische Klientel mit Hochfrisur, professionellem Make-Up und großgemustertem Seidenkleid, sehr ansprechend zurecht gemachte Schwarzhaarige auf, die mir auf den ersten Blick sogar vage bekannt vorkam. Die südländisch wirkende Frau saß allein an einem Ecktisch und musterte über den Rand des Whiskyglases in ihren schlanken Fingern gelangweilt das übrige Publikum. Schließlich traf ihr Blick meinen und ein feines, ironisches Lächeln spielte um die schönen, tiefrot geschminkten Lippen, dann tippte sie mit den langen, ebenso dunkelrot lackierten Nägeln an ihre Unterlippe und schickte mir sogar ein Küßchen. Hatte ich sie vielleicht schon mal gefragt, ob sie mir Modell sitzen würde? Aber daran, ein so ausdrucksstarkes Gesicht gezeichnet zu haben, hätte ich mich sicher erinnert.

"Hey, hast du so einen Druck, daß du jetzt sogar schon mit Transen flirtest?" fragte daraufhin Mark, der in unserer Sechsergruppe den Platzhirsch machte.

Erst als er das gesagt hatte, fiel mir auf, daß das Dekolleté der vermeintlichen Dame sehr flach war. Dort saß wirklich ein Mann, anscheinend ebenso wie wir in den Zwanzigern - aber verkleidet als Frau. Und nach dieser Erkenntnis fiel mir plötzlich auch ein, wo ich dieses Gesicht - natürlich ungeschminkt - schon gesehen hatte: er gehörte zu den Turnern, die nach dem Basketballtraining in die Sporthalle kamen. Er mußte also auch Student an der Uni sein. Aber was bewegte ihn dazu, an einem Sonnabend als Frau verkleidet allein in einer Studentenkneipe herumzusitzen?

Die Neugierde auf seine Beweggründe ließ mir keine Ruhe, und da ich schon zwei oder drei Bier vom Vorglühen intus hatte, zögerte ich nicht lange, schnappte mir mein frisches Bier und ging, sehr zum Erstaunen meiner Kommilitonen, zu dem Ecktisch.

Ebenso überrascht wie meine Begleiter sah der Turner mir entgegen, hob die wohlgeschwungenen, dunklen Augenbrauen ein Stück. So schwarze Augen wie diese hatte ich selten gesehen.

Dennoch konnte ich mich der Faszination dieses Anblicks entziehen, gerade noch verhindern, daß ich einen Tanzschulendiener machte, und sagen: "Hallo, ich bin Tammo. Darf ich mich zu dir setzen?"

"Hey, Tammo, sollen wir dir noch ein bißchen Gleitcreme besorgen?" rief Mark mir nach, begleitet vom dreckigen Gelächter der anderen, aber ich tat, als hätte ich es nicht gehört. Doch durch das Make-Up sah man, wie die Wangen des Turners zu glühen begannen. "Ignorier den Kerl einfach", riet ich. "Er muß immer allen zeigen, was für ein Held er doch ist."

Das entlockte dem Turner immerhin eine Art Grinsen. "Ich finde, du siehst eher wie ein Held aus", erwiderte der Turner mit einer unbestreitbar männlichen Stimme, "wie ein großer, blonder Recke."

"Also darf ich mich setzen?" insistierte ich, griff nach der Lehne eines Stuhles, um ihn vom Tisch wegzuziehen.

"Du hast wohl keine Angst, daß ich über dich herfallen könnte, oder?"

"Nö", gab ich zurück, nahm die nicht erfolgte Einladung einfach als gegeben an und setzte mich. "'Never judge a book by its cover' ist meine Devise." Ich trank einen Schluck Bier, als meine Kehle plötzlich unangenehm trocken wurde. "Aber ich bin neugierig. Wieso sitzt du hier in so einem Aufzug?"

Nun lachte der Turner leise auf. "Wegen des Christopher-Street-Days natürlich", sagte er in einem Ton, als müsse man das gleich erkennen.

Ich erinnerte mich, vor einigen Tagen Plakate an den Laternen gesehen zu haben, aber das Datum darauf war nicht das heutige gewesen. "Der war letzte Woche", gab ich also zurück. "Sitzt du seit acht Tagen hier?"

Das breite Grinsen ließ ihn dann doch sehr jungenhaft aussehen. "Ach du Scheiße, nein", dann mußte er lachen. Das konnte nicht das erste Whiskyglas sein, das er heute abend geleert hatte. "Ich hatte mit einem Kumpel gewettet, daß ich mich mindestens so gut zurecht machen kann, wie die Drag Queens beim Christopher-Street-Day, aber er hat mich wohl versetzt. Eigentlich wollten wir zusammen ins Kino."

Ja, Kino sollte bei uns auch noch auf dem Programm stehen, aber wir sechs hatten uns bisher nicht auf einen Film einigen können, und Marks Machtwort war bisher ausgeblieben. Vielleicht war die Auswahl des Turners und seines treulosen Kumpels ja ansprechend genug. "Was wolltet ihr sehen?" fragte ich also.

"Die 'Rocky Horror Picture Show' natürlich", sagte er, stemmte die Arme in die Taille und legte den Kopf auf die rechte Schulter, als wäre sein rot-orange geblümtes Seidenkleid ein schwarzes Korsett.

Nein, das war kein mehrheitsfähiger Vorschlag für meine Kommilitonen. Aber ich mochte den Film, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Es war mein persönliches Ticket zum Selbstbewußtsein gewesen, damals, vor vier Jahren. "Don't dream it, be-e it", sang ich leise, doch wohl nicht leise genug, denn der Turner riß wieder die tiefschwarzen Augen auf. "Du kennst den Film?" fragte er ungläubig.

"Ich mag den Film", stellte ich richtig. "Gehst du mit mir hin?"

"Meinst du das im Ernst?" fragte der Turner zurück. "Und du läßt deine..."

"...Idioten", ergänzte ich seinen Satz, "Idioten, die sich gerne auf anderer Leute Kosten lustig machen. Das sind keine Freunde von mir, nur Typen, die in denselben Veranstaltungen sitzen wie ich." Und unter dem anzüglichen Gejohle meiner Kommilitonen verließen wir gemeinsam die Kneipe.

*



Erst als wir in der beginnenden Dämmerung auf der noch die Tageshitze abgebenden Straße waren, fragte ich den fast einen Kopf kleineren Mann nach seinem Namen. "Ach-met", sagte er betont, ließ das 'h' in seiner Kehle kratzen, hielt den Blick aber konzentriert auf das unregelmäßige Pflaster der Straße gerichtet, über das er in seinen nicht einmal besonders hohen High-Heels neben mir zur U-Bahn stöckelte. Einige Male war er kurz davor, sich den Knöchel umzuknicken.

"Darf ich dir meinen Arm anbieten?" fragte ich. "Dann läufst du vermutlich sicherer. Schließlich wollen wir ins Kino und nicht in die Klinik."

Ahmet blieb lachend stehen. "Das wär' doch witzig", sagte er dann, nachdem er wieder zu Luft gekommen war. "Du bringst mich mit einem Knöchelbruch in die Klinik und erklärst dann meinem Trainer, warum ich am Donnerstag nicht zum Wettkampf komme."

Als er trotzdem keine Anstalten machte, nach mir zu greifen, hielt ich ihm meinen Ellbogen direkt unter die Nase. "Halt dich fest, dann kommen wir heil an."

"Oh, ein Gentleman", gab Ahmet affektiert zurück, grinste wieder frech. "Das tust du doch nur, damit du mir leichter an die Möpse greifen kannst."

"Du hast keine Möpse", korrigierte ich Ahmet. Aber wunderbar entwickelte Brustmuskeln, wie ich bei einem Blick in seinen Ausschnitt sehen konnte.

"Hey, guck mich nicht so schwul an!" fuhr Ahmet auf.

"Hey, du bist gar nicht mein Typ", gab ich zurück, mußte dann selber lachen, als ich an Ahmets Miene sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

Aber Ahmet sah gar nicht mehr aus, als ob ihm nach Lachen zumute war, sondern wich noch ein paar Stöckelschrittchen von mir zurück. "Heißt das nun, daß du auf Weiber stehst?"

"Das heißt, ich steh nicht auf beschwipste Transen." Aber es sah nicht aus, als ob das die in ihm aufsteigende Panik eindämmen würde. Irgendwie erinnerte er mich in diesem Moment an ein angeschossenes Reh.

"Ich bin keine Transe", sagte er ernüchtert.

"...und anscheinend auch nicht mehr beschwipst", fügte ich hinzu. "Vielleicht bist du dann ja doch mein Typ."

"Mann, du bist irgendwie nicht ganz klar", entfuhr Ahmet, riß sich die Schuhe von den Füßen und lief auf den feinbestrumpften Füßen über die leere Straße und um die nächste Straßenecke davon.

Und ich stand da und verfluchte mein gehirnentkoppeltes Mundwerk. Ich wußte noch nicht einmal, wo die 'Rocky Horror Picture Show' laufen sollte, dann hätte ich sie mir wenigstens allein anschauen können. Und nach dem Auftritt in der Kneipe konnte ich heute auch nicht mehr mit Marks Gnade rechnen. Also zurück nach Hause und einsam vor der Glotze feiern.

Und einige Stunden später lag ich fünfundzwanzigjährige Jungfrau auf meinem Bett und versuchte, mir einen runterzuholen. Doch irgendwie gingen mir die Rehaugen von Ahmet nicht aus dem Sinn. Bisher hatte ich mir immer Blondinen vorgestellt, die mir einen blasen, die es mir mit der Hand besorgen, die sich auf mich setzen - und zugegeben, da waren gelegentlich auch hübsche blonde Jungs dabei gewesen, in meinen Phantasien. Aber Ahmet hatte lange, schwarze Haare, die er beim Turnen zu einem Zopf gebunden trug. Es war wohl sein natürliches Haar gewesen, das er zu der Hochfrisur aufgesteckt hatte.

* * *




Anmerkung von Elisabeth:

Die Quellen der durch Unterstreichung hervorgehobenen Kleinzitate in dieser Story:

Kapitel 1: Titel / Refrain des Songs "Don't Dream It, Be It" aus der Rocky Horror Show von Richard O'Brian, 1972.

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