1. Der Nachbar

Text

von  Elisabeth

Die Semesterveranstaltungen begannen Mitte September, meine Eltern verweigerten, Geld für die Mietkaution einer Wohnung vorzustrecken, und im Studentenwohnheim war kein Platz zu bekommen. Also stand ich drei Monate nach der Aufnahmeprüfung zähneknirschend wieder vor Tante Isabellas Wohnungstür. In den Pausen zwischen meinen Veranstaltungen hörte ich mich nach Wohnungen um, die ich von meinen kümmerlichen Ersparnissen selbst finanzieren konnte. Durch Empfehlungen ortskundiger Kommilitonen wurde ich sogar bald fündig: die Hinterhauswohnung in vierten Stock eines Hauses, das mit der U-Bahn eine gute halbe Stunde von der MHS entfernt lag, hatte als einzigen Komfort zwar fließend kaltes Wasser und Stromversorgung, aber ich unterschrieb trotz Ofenheizung und fehlendem Badezimmer sofort den Mietvertrag, weil ich die Kaution bezahlen konnte und die Miete auch nicht unvernünftig hoch war. Außerdem stand die Wohnung, mit der ich mir die Toilette auf dem obersten Treppenabsatz des Hinterhauses teilte, leer, es war also praktisch meine.


Natürlich hätte mir bewußt sein müssen, daß meine Eltern dem nicht schweigend zusehen würden. Kaum hatten sie erfahren, daß ich bei Tante Isabella ausgezogen war - ihr hatte ich vorher nichts erzählt, sondern frecherweise ihren sonntäglichen Kirchenbesuch abgewartet, um heimlich meine Sachen zu packen und zu verschwinden, aber immerhin einen Brief hingelegt, in dem ich erklärte, daß ich eine nette Wohnung gefunden habe, in der ich endlich ohne Rechtfertigungsnöte meine Homosexualität ausleben könne - wurde mein Vater beim Dekan der Hochschule vorstellig, und ich wurde aus einer Übung in das Büro zitiert.

Mein Vater wedelte mit dem Brief, den ich Tante Isabella hingelegt hatte, tobte und fluchte auf Spanisch, Französisch und Deutsch, bis es dem Dekan endlich gelang, ihm klarzumachen, daß sein Sohn volljährig war und daher auch in Sachen Wohnung durchaus seine eigenen Entscheidungen treffen durfte. Ich hielt mich lieber bedeckt, schwieg und ließ die alten Männer die Sache unter sich ausmachen. Am Ende war ich trotzdem der Dumme, denn mein Vater zog die Einzugsermächtigung für die Studiengebühren zurück. Wenn ich nicht bei Tante Isabella wohnen wolle, solle ich mir auch das Studium selbst finanzieren. Das war sein letztes Wort und er rauschte ab.

Der Dekan sah mich eine Weile über seine Lesebrille hinweg an, packte dann die Unterlagen, die mich betrafen, beiseite. "Sie haben ihren Vater gehört, Herr Calatrava. Für das laufende Semester ging die Zahlung bereits vor zwei Monaten ein, und damit ist ein Rückruf über die Banken nicht mehr möglich. Was allerdings ihr weiteres Studium bei uns betrifft... sie könnten ihren Vater auf Zahlung verklagen und für die Zwischenzeit eine Ausbildungsförderung beantragen. Oder sie versuchen, sich selbst zu finanzieren, bis ihr Vater sich beruhigt hat. Unter den Aushängen im AStA-Gang finden sie vielleicht einen passenden Job."

Mit Bauchschmerzen dankte ich dem Dekan für sein Verständnis, verließ sein Büro, das davor liegende Sekretariat und ließ mich dann an der Wand des Flurs auf dem Boden nieder, stützte den Kopf in die Hände. Meine Studienzeit hatte so verheißungsvoll begonnen, und nun saß ich da und mußte zusehen, wie ich die Miete, das gerade installierte Telefon und die kommenden Studiengebühren - gar nicht zu reden von Lebensmitteln oder gar Heizmaterialien für den Winter - allein finanzierte. Natürlich sah mein Vater sich im Recht und konnte ja wohl auch nach Einklagung der Zahlung verlangen, daß ich bei Tante Isabella wohnte. Mama würde nichts tun, was Vater mißhagte, und bei Tante Isabella brauchte ich mich gar nicht wieder blicken zu lassen.

Irgendwie raffte ich mich auf, die restlichen Veranstaltungen des Tages zu besuchen, schleppte mich dann in den 'AStA-Gang' und fand dort wirklich ein schwarzes Brett mit Aushängen, auf denen Gelegenheitsarbeiten angeboten wurden. Lagerhilfe in dem Supermarkt, der nur eine Straße von meiner Wohnung entfernt lag, klang noch am besten, die Bezahlung war stundenweise, gar nicht mal so schlecht, und als ich dort noch von der Hochschule aus anrief, hatte man tatsächlich Verwendung für mich.

Als ich wieder nach Hause kam, erwartete mich jedoch die zweite unerfreuliche Überraschung des Tages: die andere Hinterhauswohnung der obersten Etage wurde gerade von einem neuen Mieter bezogen, die Toilette gehörte also nicht mehr mir allein. Ein ganzer Schwarm Türken wuselte gut gelaunt die Treppen auf und ab, schleppte Möbel, Packkisten und eine Duschwanne durch das Treppenhaus in die Nachbarwohnung. Durch die offenstehende Tür konnte ich sehen, daß sie sich kaum von meiner Wohnung unterschied, nur die Wände waren offensichtlich frisch gestrichen und der Boden hatte einen Teppichboden. Als eine riesige, in Plastikfolie eingehüllte Matratze an mir vorbeigetragen wurde, stieg der Neid in mir auf. Ich schlief seit einer Woche auf einer furchtbar schmalen Luftmatratze. Aber zurück zu Tante Isabella, vor meinem Vater zu Kreuze kriechen? Nein, niemals! Ich würde ihnen zeigen, daß ich alles auch allein auf die Beine stellen konnte und nicht lange in diesem Loch wohnen bleiben würde!

Aber die nächsten paar Wochen ging mein schöner Plan leider noch nicht auf. Das Geld, das ich am Ende des Monats im Supermarkt ausgezahlt bekam, reichte gerade, um die Miete zu bezahlen, für das Telefon hatte ich mein Konto schon überziehen müssen. Dabei versuchte ich, meine Lebenshaltungskosten niedrig zu halten, indem ich auf den Besuch der Badeanstalt und des Waschsalons verzichtete und mich und meine Kleidung mit dem Inhalt aus dem Fünf-Liter-Boiler in meiner Küche wusch. In der Mensa bestellte ich nur Gemüse und Stärkebeilage, auf die mir die Küchenkräfte aus Mitleid regelmäßig auch eine Kelle Soße gossen, so daß ich eine nahezu vollwertige, in jedem Falle sättigende Mahlzeit zum halben Preis hatte. Außerdem hatte ich mir angewöhnt, bei Bedarf aus dem Vorrat einer der selten frequentierten Damentoiletten im Seitentrakt der MHS ein bis zwei Rollen Toilettenpapier mit nach Hause zu nehmen, um diese Ausgabe ganz zu vermeiden, auch wenn das Hochschulpapier eine eher feste Konsistenz hatte. Und dann lief ich im Vorraum dieser Damentoilette meiner Kommilitonin Bianca in die Arme.

Die blonde Bianca besuchte dieselben musiktheoretischen Veranstaltungen wie ich und hatte mir am Anfang schöne Augen gemacht. Mein offensichtliches Desinteresse sowie die Tatsache, daß sich inzwischen herumgesprochen hatte, daß ich schwul bin, hatten sie aber offenbar entmutigt, denn sie war dazu übergegangen, mich zu ignorieren. Mit vor Erstaunen offenem Mund registrierte sie nun, wie ich zwei Rollen Toilettenpapier in meine Umhängetasche stopfte. Die Tür der Damentoilette schloß sich hinter ihr langsam, und ich beeilte mich, an ihr vorbei auf den Gang zu kommen.

Eine Viertelstunde später setzte Bianca sich - ohne Essen - neben mir an den Mensa-Tisch. "Was hast du da gemacht, Juan?" fragte sie mit einer Stimme, als sei sie nicht ganz sicher, ob sie eher empört oder besorgt klingen wollte.

"Äh, ich nutze die Großzügigkeit unserer Alma Mater", antwortete ich und verzehrte den Rest meines frugalen Mahls.

"Du KLAUST Klopapier?" ereiferte Bianca sich mit gedämpfter Stimme. "Geht's dir jetzt schon so schlecht?"

"Wie meinst du das denn?" wollte ich wissen. Sah man mir etwa so deutlich an, daß ich pleite war?

"Ich meine, daß es dir, angesichts deiner plötzlichen Schweigsamkeit in den Übungen, ziemlich dreckig gehen muß. Außerdem steckst du jetzt auch noch dieses extraharte Klopapier ein und ißt in der Mensa." Sie schüttelte den Kopf, als habe sie für mich jede Hoffnung verloren. "Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?" fragte sie dann überraschend.

"Kannst du mir vielleicht Notenpapier leihen?" packte ich die Gelegenheit beim Schopf. Ich hatte nur noch zwei oder drei unbeschriebene Blatt, aber wenn Bianca mir etwas lieh, konnte ich den Kauf eines neuen Heftes noch etwas hinausschieben.

"Hey, ich schenk dir zwei Hefte, wenn du dich zu einem Kaffee einladen läßt." War sie etwa immer noch an mir interessiert? Aber der Kaffee war ein überaus verlockendes Angebot, also sagte ich zu.

In der Cafeteria bezahlte Bianca für jeden von uns eine Tasse Kaffee und dazu noch ein Stück Apfelkuchen, dann schob sie mir zwei leere Notenhefte über den Tisch. "Wann hast du eigentlich das letzte Mal was Ordentliches gegessen?" wollte sie wissen und rührte Zucker in ihren Kaffee.

Ich dachte zurück an Tante Isabella. Inzwischen war es November, meine letzte hausgemachte Mahlzeit lag also über einen Monat zurück. "Das Mensaessen schmeckt mir", behauptete ich.

Bianca schüttelte sich mit vor Ekel verzogenem Gesicht. "Aber das ist doch Mist, dieses viel zu fette, viel zu salzige und viel zu lange gekochte Zeugs." Und mit einem einnehmenden Lächeln fügte sie hinzu: "Wenn du magst, kannst du morgen bei mir essen."

Sicher wäre bei Bianca auch gut geheizt. Ich fror zuhause wie ein Schneider, da ich mir bisher weder Kohle noch Briketts eingelagert hatte und die Preise mit dem Kälteeinbruch massiv angezogen hatten. Natürlich hatte ich mir von zu Hause auch keine Winterkleidung mitgenommen, als ich mein Studium aufnahm, und deswegen jetzt angekrochen zu kommen, verbot mir eigentlich mein Stolz. Aber da es an diesem Morgen auch noch zu Schneien begonnen hatte, war ich inzwischen doch kurz davor, meinen Stolz herunter zu schlucken und Tante Isabella um Obdach zu bitten. Wenn das Studium bisher nicht so gut gelaufen wäre, hätte ich diesen Punkt vermutlich schon früher erreicht.

So versonnen wie Bianca mich nun ansah und auf meine Antwort wartete, wurde mir klar, daß sie weniger an eine bloße Mahlzeit, als auch an ein amouröses Abenteuer dachte. Wahrscheinlich wollte sie feststellen, wie schwul ich tatsächlich war. Verglichen mit dem Versuch einer Aussöhnung mit Tante Isabella war ein bißchen unverbindlicher Sex mit Bianca die erfreulichere Alternative. Und sicher hatte sie auch eine Dusche oder sogar eine Badewanne mit unendlich fließendem, warmem Wasser. Aber waren ein paar Annehmlichkeiten es wirklich und wahrhaftig wert, mein mir selbst gegebenes Versprechen, meine Homosexualität nicht mehr zu verleugnen, zu brechen?

Nein. Ich dankte also höflich und deutete an, daß ich gegebenenfalls auf das freundliche Angebot zurückkommen würde. Bianca verzog darauf die Lippen, als habe sie ein Stück Zitrone im Mund. Offensichtlich hatte sie sich mehr als eine ausweichende Antwort erhofft. Sie atmete tief durch und zog dann beleidigt ab.

Einen Moment später hätte ich mich für meine Prinzipientreue ohrfeigen können. Es hätte doch nicht mehr bedeutet, als es mit einer der Schnepfen aus meiner Schule zu treiben. Alles nur rein physischer Sex mit einer beliebig austauschbaren Partnerin. Und die Belohnung dafür wäre gar nicht so übel gewesen. Es war ja nicht so, daß ich bisher irgendwo Anschluß gefunden hätte, denn auch wenn es sicher einige schwule Studenten an der MHS gab, so waren die mir zumindest noch nicht begegnet. Und um mich außerhalb der Hochschule im verheißungsvollen Nachtleben der Stadt herumzutreiben fehlte mir das Geld.

So war meine Stimmung ziemlich gedrückt, als ich mich im Studienraum an eines der Klaviere setzte, um ein neues Stück einzuüben. Da es damit dann auch nicht so recht klappen wollte, hatte ich für meine schlechte Laune allen Grund, als ich endlich nach Hause ging, zurück in dieses kalte, unfreundliche Loch, noch immer ohne Möbel, Gardinen und Teppich, und die Wände noch immer nicht frisch gestrichen. Immerhin bot das einen gewissen Unterhaltungswert, denn bei Tageslicht konnte man dort, wo nicht der Ruß vom Schornstein gelb durch den abblätternden Anstrich schlug, anhand der grauen Schatten an den Wänden Spekulationen über die Einrichtung des Vormieters anstellen.

Zuhause bei meinen Eltern hätte ich eine Rossini-Platte aufgelegt, um endlich wieder zu mir selbst zu kommen und die widrigen Umstände zu vergessen. Aber zur Zeit konnte ich natürlich weder die LP's noch den Plattenspieler von meinen Eltern einfordern. Was hatte ich eigentlich von meiner tollen Freiheit, so zu leben, wie ich wollte, wenn ich pleite war? Ich konnte mir nicht mal ein kleines Radio oder einen billigen Kassettenrekorder leisten, von den Kassetten ganz zu schweigen. Trübsinnig richtete ich mich mit meinen zwei Synthetikdecken und dem ausgeliehenen Englischwörterbuch in der Zimmerecke neben der kleinen Schreibtischleuchte ein und versuchte, den englischen, dreißigseitigen Aufsatz über Verdi zu lesen. Eigentlich war mein Englisch in der Schule gar nicht so übel gewesen, aber wo die internationale Musikwissenschaft sich nicht italienischer Begriffe bediente, kam ich ins Schwimmen. Schließlich begann ich, den Text Wort für Wort zu übersetzen, aber nach vier oder fünf Seiten war ich einfach nicht mehr aufnahmefähig. So kam zu der Frustration über meine Wohn- und Lebensumstände noch die über meine mangelnden Englischkenntnisse, und ich blätterte schließlich durch die im Foyer der Mensa eingesammelten Prospekte, um eine passende Wichsvorlage zu finden.

Da klingelte es an meiner Tür. Warum ausgerechnet jetzt? Ich wickelte mich widerwillig aus den Decken, schlurfte den düsteren Flur entlang und schaute durch den Spion: es war der Türke von gegenüber, ein dickes Paket in den Armen. Er stemmte es gegen die Wand, um es mit der Hüfte halten zu können, klingelte noch einmal.

"Was willst du?" fragte ich ziemlich unfreundlich, nachdem ich mich entschlossen hatte, die Tür zu öffnen.

Der langhaarige Kerl grinste mich breit an. "Hey, kein Grund mich zu beißen", sagte er. "Das Paket wurde gestern bei mir abgegeben, aber gestern abend warst du auch nicht da und heute nachmittag hatten wir Theaterprobe, und des..."

"Gib schon her", fuhr ich ihn an, und er streckte es mir entgegen. Ich nahm es und brach unter dem Gewicht beinahe zusammen. Der Türke mußte ja enorme Kraft haben, wenn er es so einfach mit ausgestreckten Armen hatte halten können. Das nötigte mir wider Willen doch Respekt ab. Er war nicht größer als ich und sah gar nicht nach einem Bodybuildertyp aus, dafür war er zu schlank, aber recht breite Schultern hatte er schon.

"Brr, kommt ja kalt aus deiner Wohnung", sagte er dann, rieb sich die wollpulloverbekleideten Arme. "Ist dir der Ofen ausgegangen?"

"Ja", sagte ich und versuchte, die Tür zu schließen. Dummerweise hatte ich das Paket gerade in ihren Schwingkreis gestellt.

"Brauchst du vielleicht ein paar Kohlen... oder ein bißchen Kohle?" fragte er mit fast besorgtem Blick. Sah ich wirklich schon so schlecht aus? Hatte Bianca einfach Mitleid mit mir gehabt? "Nein, alles bestens. Ich war eingeschlafen und der Ofen ist ausgegangen, nichts Besonderes." Mit dem Fuß versuchte ich, das Paket beiseite zu schieben, um die Tür endlich schließen zu können, aber der Flur war zu schmal. Ich mußte das Paket weiter in die Wohnung ziehen, dann...

"Hey, Mann, ich biete dir Hilfe an!" fuhr der Kerl mich an. "Und du brauchst sie, sei also nicht so verdammt stur!"

Ich stemmte mich gegen das Paket, um es weiter in meinen Flur zu schieben. "Ich brauche keine Hilfe", stieß ich dabei zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, während mir gleichzeitig bewußt wurde, daß ich sie mit dem Paket gerade in diesem Moment eben doch brauchte. Ich mußte trotz meiner Bauchschmerzen plötzlich lachen, und dann stürzte das Bewußtsein, daß ich auch in fast jeder anderen Beziehung dringend Hilfe brauchte, mit solcher Gewalt auf mich ein, daß sich ungewollt Schluchzer in mein Lachen mischten und ich dem Paket frustriert einen Tritt gab. Jetzt heulte ich also auch noch vor dem Türkenbengel, dann war ohnehin alles egal. Ich plumpste auf das widerspenstige Paket und ließ den Tränen freien Lauf. Und irgendwann bemerkte ich, daß mein Nachbar mir den Arm um die Schulter gelegt hatte, neben dem Paket hockend, mir mit der anderen Hand sanft über das Haar strich, mir irgendwas Beruhigendes zuflüsterte.

"Ich hatte so gehofft, daß ich es allein schaffe, aber ich packe es nicht", sah ich meinem Scheitern endlich ins Gesicht. "Ich hätte schon vor Wochen aufgeben müssen, und nun ist wohl alles zu spät."

"Blödsinn, nichts ist zu spät. Du hast nur Hunger und bist müde, außerdem völlig durchgefroren. Du kommst erst mal mit." Und er zog mich von dem Paket hoch, schleppte den Karton dann noch etwas weiter in meinen Flur, so daß er nicht mehr gegen die Fußleiste stieß, die ich mit meinen Bemühungen schon zum Teil von der Wand gelöst hatte. "Hast du deinen Schlüssel?" fragte er. Den trug ich in der Hosentasche, also nickte ich. Er nahm mich am Arm, zog meine Tür ins Schloß und führte mich über den Treppenabsatz in seine Wohnung, die meiner spiegelbildlich glich, nur daß es hier warm war und anheimelnd beleuchtet. Er setzte mich auf ein gemütliches, rotes Sofa, deckte eine karierte Wolldecke über meine Beine, verschwand dann, und ich saß da, kam langsam wieder zu mir, sah mich in diesem Zimmer um. Es gab himmelblaue Vorhänge vor dem Fenster in den Innenhof, ein riesiges, dunkelblau und grün bezogenes Bett, dessen Matratze ich ja schon kennengelernt hatte, einen mittelgroßen Fernseher auf einer Kommode mitten im Raum, so daß man ihn von Bett und vom Sofa aus gut sehen konnte, außerdem einen riesigen Kleiderschrank, daneben noch einen bis auf Stifte und einen Schreibblock leeren Schreibtisch und überall an den Wänden Plakate von irgendwelchen Filmen oder Theaterstücken. Bei mindestens zweien davon handelte es sich dem Titel nach um Stücke von Shakespeare.

Auf den zweiten Blick erkannte ich zwischen den Plakaten ein kurzes Regal mit einigen Büchern über dem Schreibtisch. Ein Wäscheständer stand neben dem Bett, Unterwäsche und Sportsachen hingen da zum Trocknen, außerdem ein rotgetupftes Kleid und zwei Seidenstrümpfe. Na klar, er hatte eine Freundin, die ihm seine Wohnung so schön eingerichtet hatte, ihm die Wäsche machte. Kein Wunder, daß sie so gemütlich wirkte.

Der junge Mann kam mit einem Tablett zurück, darauf standen zwei kleine Gläser, Zucker, eine Kanne, aus der es dampfte, außerdem ein Teller voller Kekse. Er stellte seine Last auf der Kommode neben dem Fernseher ab. "Ich hab leider gar nichts Vernünftiges da", sagte er entschuldigend, "muß morgen dringend einkaufen gehen. Aber der Tee wird dir auch schon mal gut tun."

Er hatte recht. Der Tee war sehr heiß, fast ungenießbar bitter und schließlich entsetzlich süß, aber er wärmte mich, füllte und besänftigte meinen schmerzenden Magen und erlaubte mir, mich fast wieder wie ein Mensch fühlen. "Warum hilfst du mir?" fragte ich, nachdem wir eine Weile schweigend auf dem Sofa gesessen und Tee getrunken hatten.

"Weil du offenbar niemanden sonst hast, der dir hilft. Oder täuscht der Eindruck?" Er schien mich mit seinem Blick durchbohren zu wollen, strich sich dann mit einer fast femininen Bewegung die Haare aus dem Gesicht. "Was machst du denn so, außer im Supermarkt zu jobben?"

"Und was machst du, außer zu versuchen, hoffnungslose Existenzen zu retten?"

Der Kerl grinste so fröhlich, daß es ansteckend war. "Ich heiße Ahmet und bin neunzehn Jahre alt. Ich habe dieses Semester angefangen, Sport zu studieren, außerdem spiele ich in der Theatergruppe der Uni. Noch Fragen?"

"Also hallo, Ahmet. Ich bin Juan, ebenfalls neunzehn Jahre alt und studiere Gesang an der MHS. Und wie du richtig bemerkt hast, arbeite ich im Supermarkt, um mein Leben und mein Studium zu finanzieren. Zur Zeit klappt es aber gerade nicht so gut." Das war natürlich die Untertreibung des Jahres, aber ich wollte die langsam lockerer werdende Stimmung nicht gleich wieder verderben.

"Wie bist du denn an den Job gekommen? Hast du schon mal im 'Tagesblatt' die Anzeigen durchgesehen? Da findet sich sicher was Besserbezahltes als nun gerade dieser Supermarktjob." Dann sah er in sein halbvolles Teeglas, schaute nach einer Weile wieder hoch. "Und wenn du gerade im Moment Geld brauchst, leih ich dir auch gerne was. Du kannst doch nicht einfach nicht heizen und nicht essen, um irgendwie über die Runden zu kommen." Er klang richtig besorgt.

"Du bist nicht meine Mutter", gab ich ein bißchen zu ruppig zurück, auch wenn es mir fast im selben Augenblick leid tat. Trotzdem entschuldigte ich mich nicht für meine Worte. Ich hatte ihn schließlich nicht um seine Hilfe gebeten, er hatte sie mir aufgedrängt. "Ich werde Montag mal im 'Tagesblatt' schauen. Danke für den Hinweis", versuchte ich dann, für eine etwas versöhnlichere Atmosphäre zu sorgen.

"Schau am Dienstag, da gibt es eine Beilage mit Stellenanzeigen", riet Ahmet mir, als nähme er mir meine Unfreundlichkeit nicht einmal übel. Ich nickte dazu, genoß die Wärme seiner Wohnung, des Tees und der Decke. "Hast du heute abend noch irgend etwas vor, oder hast du Lust, mit mir fernzusehen?" fragte Ahmet dann überraschend.

Die Wärme machte mich träge und so blieb ich dort, eingekuschelt in die Decke, und Ahmet und ich sahen uns einen Western an, dessen Held nebenher auch noch eine kleine Romanze erleben durfte. Wann ich wohl endlich wieder den Sex hatte, den ich mir wünschte? Marco einen zu blasen und von ihm einen geblasen zu kriegen war wie der Himmel auf Erden gewesen. Er hatte sich von mir ficken lassen wollen, war erfahren genug gewesen, um mir die meiner Erziehung entstammenden Bedenken schon im Vorfeld zu nehmen, doch bevor wir wirklich so weit hatten kommen können, war Mama dazwischen gegangen. Sie war so entsetzt gewesen, als sie uns beide nackt in meinem Bett entdeckt hatte, als wolle sie mich nicht mehr kennen. Und so ich begann damit, meinen Eltern einen guten Sohn vorzuspielen. Das Flirten und auch der Sex mit den Mädchen, die ich seit dem Erlebnis mit Marco flachgelegt hatte, war nett gewesen, aber mehr auch nicht. Der rothaarige Junge bei der AStA-Info-Veranstaltung, Florian, hatte eine unglaublich attraktive Stimme gehabt, war durch seine Scheu aber eher uninteressant gewesen. Der dunkelhäutigen Ahmet aber - so alt wie ich, einen deutlichen Bartschatten am Kinn und an einem wildfremden Kerl interessiert genug, um ihm Hilfe und Geld anzubieten - war genau richtig und so überaus anziehend, das ich nicht anders konnte, als über Sex mit ihm nachzudenken. Daß er mich zu sich eingeladen hatte konnte doch eigentlich nur bedeuten, daß ich in seinen Augen ähnlich attraktiv war, wie er in meinen.

Als der Abspann des Filmes lief, stand Ahmet auf, trug das Teegeschirr in die Küche, kam wieder zurück, blieb in einiger Entfernung von mir und dem Sofa stehen, betrachtete mich fast träumerisch aus seinen dunklen Augen. Hatte er während des Filmes ähnliche Gedanken wie ich gehabt? "Was guckst du mich so schwul an?" fragte ich leise, merkte, wie angesichts seines Blickes meine Erregung wuchs.

Ahmet grinste, schüttelte den Kopf. "Ich gucke dich müde an, Juan. Ich muß dringend ins Bett. Schlaf einfach hier auf dem Sofa, bei dir ist es doch viel zu kalt. Gute Nacht." Er ließ sich wie er war auf sein Bett fallen und rutschte zwischen seine Decken. Wenig später waren schon leise Schnarchgeräusche zu hören.

Ich war tatsächlich enttäuscht, aber morgen war ein neuer Tag und der Spaß am Sex war ja nicht auf die Nachtstunden beschränkt. Ich zog also meine Jeans aus, legte den Schalter der Stehlampe um, die das Zimmer erleuchtet hatte, rollte mich auf Ahmets Sofa zusammen und schlief ebenfalls sehr schnell ein.

* * *




Anmerkung von Elisabeth:

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