4. Frau Musica

Text

von  Elisabeth

Nach der zweiten Probe mit den Volltönenden gingen wir gemeinsam etwas essen und als das Gespräch auf Liebesbeziehungen kam, erfuhr ich, daß Felix, der erste Bariton, mit seiner festen Freundin in absehbarer Zeit vor den Traualtar treten wollte, zunächst aber im Frühjahr in großem Stile die Verlobung feiern würde. Der erste Bass Holger, der auch der älteste von uns war, war bereits seit einigen Jahren verheiratet, und der ein bißchen reserviert wirkende Tenor Bernhard war ebenfalls in festen weiblichen Händen. Ike erwähnte jedoch niemanden und ich nutzte nun die Gelegenheit, insbesondere ihn darauf hinzuweisen, daß ich schwul und zu haben war. Als die anderen nach Hause strebten und Ike fragte, ob ich noch Lust hätte, ein weiteres Bier zu trinken, konnte ich mein Glück kaum fassen. Aber es stellte sich heraus, daß der zweite Bass seiner momentanen Seelennöte wegen offenbar einfach unaufmerksam gewesen war und gar nicht mitbekommen hatte, wo meine Interessen lagen. Er klagte mir sein Leid, daß er sein Herz an eine Kommilitonin verloren habe, die ihn nicht erhören wolle. Nach einem stummen Seufzer erläuterte ich ihm dann einige der während meiner Schulzeit erprobten Vorgehensweisen zum Betören der holden Weiblichkeit.

Ich konnte meine eigenen Tips bereits am kommenden Sonnabend beruflich umsetzen und stellte bald fest, daß es mir tatsächlich Spaß machte, jede Woche eine andere Dame für ihr eigenes Geld auszuführen und ihr danach in einem Hotelzimmer oder ihrem Witwenbett zu zeigen, was ein Mann meines Alters vermochte. Frau Neuhaus nannte mich 'ihren Don Juan' und die reichlichen Trinkgelder schmeichelten meiner Eitelkeit.

Schließlich stand Weihnachten vor der Tür, der Auftritt der Volltönenden war ein Erfolg und so konnte ich das Jahr nicht nur finanziell, sondern auch fachlich als Gewinn verbuchen. Ich rief sogar die Nachbarin meiner Eltern an und bat sie, meiner Mutter Weihnachtsgrüße auszurichten, erwähnte musikalische Fortschritte und deutete vage einen gut bezahlten Job an, der mich während der Ferien an meinem Studienort hielt. Ich hatte ohnehin nicht vor, noch einmal meinem Vater unter die Augen zu treten, außerdem fiel der 31.12. nun gerade auf einen Sonnabend.

Meine Kundin an Silvester war die etwa vierzigjährige Ehefrau eines Seifenfabrikanten, der den Jahreswechsel auf Geschäftsreise verbrachte. Und zumindest mir bereitete es keinerlei Gewissensbisse, der Gattin in den frühen Morgenstunden des 1.1. in ihrem Ehebett zu einem lautstarken Orgasmus zu verhelfen.

Im Januar kündigte ich meine Wohnung und suchte mir endlich eine neue, die näher an der MHS lag. Mitte Februar hatte ich sie fertig eingerichtet, mir sogar ein gebrauchtes Klavier geleistet, ließ die Mietkaution der anderen verfallen und zog um.

Meine Semesterabschlußprüfung in Klavier bestand ich mit Bravour. Die Prüfung in Gesang beinhaltete den Vortrag der Arie des Amonasro aus dem ersten Akt von Verdis Aida. Ich überzeugte als Aidas Vater überraschend so sehr, daß der auch in der Prüfung sitzende Professor Krieger, Inhaber des Lehrstuhls für Stimmbildung, mir nahelegte, mich während des Studiums weiterhin auf Verdi zu konzentrieren, da das meiner Stimme offenbar sehr entgegen käme. Felix' Angebot, mit den Volltönenden in den Semesterferien ein neues Programm für etwaige außerhochschulische Aufführungen einzustudieren, nahm ich daher gerne an, denn Verdis dramatischen Opern fehlte der humoristische Aspekt, den ich an Rossini so liebte. Außerdem genoß ich, mich dank der Einkünfte als Frau Neuhausens 'Don Juan' den anderen Volltönenden gegenüber bei unseren Restaurantbesuchen nach den Proben als großzügig erweisen zu können, ohne mir Gedanken über das Geld machen zu müssen.


*


Als Felix an einem sonnigen Samstagnachmittag im April dann die Verlobung mit seiner Freundin beging, brachten wir übrigen Volltönenden dem Paar natürlich ein Ständchen. Wir machten so nachhaltigen Eindruck, daß wir von einem der Gäste spontan das Angebot für einen bezahlten Auftritt in seinem Nachtclub bekamen, sogar mit dem Versprechen eines festen Engagements, wenn denn das Publikum unsere Kunst ebenfalls goutieren würde. Aber trotz dieser guten Nachricht fühlte ich mich auf dem Fest zunehmend unwohl.

Ike nutzte natürlich jede Gelegenheit, mit seiner endlich eroberten Kommilitonin zu knutschen, aber ich merkte, daß mich vor allem die Art störte, wie Felix, Holger und Bernhard mit und von ihren ebenfalls anwesenden Frauen sprachen und mit ihnen umgingen, so voll Anteilnahme an ihrem Leben, voller Vertrauen und Zärtlichkeit, wenn sie sich berührten, als hätten diese Frauen etwas, was die Personen, die ich kannte, nicht hatten. Natürlich war keine der Kundinnen der Agentur es wert, sich ihren Namen länger zu merken als bis zum Auseinandergehen, sie waren mir ebenso egal wie die Mädchen, die ich schon während meiner Schulzeit mit einem charmanten Lächeln auf meinen Schoß hatte locken können, hohle Püppchen, gerade gut genug, einmal gefickt zu werden, vielleicht auch ein zweites und ein drittes Mal, bis ich ihrer Hohlheit überdrüssig geworden war. Marco und Ahmet hatte ich wirklich begehrt, aber auch für sie hatte ich nicht einmal annähernd so empfunden, wie die anderen Volltönenden offenbar für ihre Frauen.

Oder lag es daran, daß meine Sangesbrüder etwas hatten, was mir fehlte? Dieser Gedanke war nicht schön, aber es gelang mir nicht, ihn zum Schweigen zu bringen. Und natürlich waren Selbstzweifel etwas, was mich sehr teuer zu stehen kommen konnte, denn dann würde es kaum möglich sein, einer Frau einen befriedigenden Geschlechtsakt zu bieten. Irgendwie mußte ich mich ablenken.

Viel früher als zu meinem abendlichen Dienstantritt für die Agentur nötig, entschuldigte ich mich also, aber Felix versuchte, mich zum Bleiben zu überreden: "Kannst du nicht heute mal deinen Job Job sein lassen und einfach blau machen? Es würde mir viel bedeuten, mit euch allen zu feiern."

Ich schüttelte den Kopf, denn ich ertrug das Liebesgesäusel der anderen nicht länger. Mir fiel sogar ein stichhaltiges Argument ein: "Wenn ich heute nicht bei der Arbeit erscheine, kostet mich das...", ich überschlug die Kosten einer Premiumbuchung, soweit sie mir bekannt waren, und nannte ihm die Hälfte.

Felix sperrte den Mund auf, dann schloß er ihn nach einem Moment wieder und schluckte. "Davon kann ich zwei oder drei Monate wirklich gut leben. Was zum Teufel machst du eigentlich jeden Sonnabend?"

"Ich bin Angestellter eines Dienstleistungsunternehmens", brachte ich meinen Standardspruch, aber dann fiel mir der Auftritt im 'Flash Nights' ein, der natürlich an einem Sonnabend stattfinden sollte. Und plötzlich fürchtete ich um meine Position als zweiter Bariton. Wenn wir, wie zu erwarten war, die Gäste des Nachtclubs begeisterten, würde es der Vereinbarung nach weitere Auftritte an Freitagen und Sonnabenden geben. Wenn ich jedoch meiner Anstellung bei der Agentur wegen bei der Hälfte der Auftritte fehlte, wäre ich wohl die längste Zeit ein Mitglied der Volltönenden gewesen, also schob ich hinterher: "Ich werde versuchen, meine Dienstzeiten zu verlegen... aber ich fürchte, bis Juni bin ich schon ausgebucht."

"Ich würd' wirklich gerne wissen, in welcher Dienstleistungsbranche man mit einem Abend in der Woche so viel Kohle machen kann. Kannst du mich da nicht auch unterbringen? Wenn ich mit Katja zusammenziehe, brauchen wir eine größere Wohnung, und das kostet auch mehr." Natürlich ließ er mich gehen, und die finsteren Gedanken über mein fehlendes Liebesglück nahm ich mit.

Meine U-Bahn-Station erreichte ich mit ernsthaften Bauchschmerzen. Endlich war ich in meiner Wohnung, machte Atemübungen, um mich zumindest ansatzweise zu entspannen und stellte fest, daß ich noch genügend Zeit hatte, eine große Runde durch den nahegelegenen Park zu laufen, zu duschen und mich für die Dame des Abends zurecht zu machen. So bekam ich wohl den Kopf wieder frei.

Als mich die Limousine der Agentur abholte, ging es mir tatsächlich viel besser, und als mir die mit Anfang dreißig noch recht junge Kundin mitteilte, daß sie sich entgegen ihrer ursprünglichen Theater-Pläne spontan für den Besuch einer Verdi-Oper entschieden habe, dachte ich, das Glück wäre mir nun hold. So würde ich bei der Plauderei während des Essens, zwischen Oper und erotischem Nachtisch, mit meinem Fachwissen glänzen können und ihr dann zeigen, daß ich noch andere Talente hatte. Doch warum mußte es ausgerechnet 'La Traviata' sein, die Geschichte einer liebesunfähigen Kurtisane? Ich würde zwar sicherlich nicht an Tuberkulose sterben, aber falls ich jemals einen finden würde, der echte Gefühle für mich hegte, mochte es gut sein, daß ich nicht dazu fähig war, sie zu erwidern - ja, vielleicht würde ich sie noch nicht einmal erkennen - und daran würde auch die Liebe des anderen scheitern.

Daß mir während des ersten Aktes die Tränen kamen, lag also weniger an Violettas Koloraturarie, sondern mußte wohl Selbstmitleid genannt werden. Die junge Geschäftsfrau an meiner Seite mißverstand es jedoch als verfeinertes Musikgefühl, griff nach meiner Hand und drückte sie tröstend, erzählte mir in der Pause von ihrem ebenso feinfühligen, homosexuellen Zwillingsbruder. Als sie dann die Dunkelheit während des zweiten Aktes nutzte, um mich ganz undamenhaft begehrlich zu befingern, merkte ich, daß trotz meines Zustandes die manuelle Stimulation ausreichte, meinem großen Freund aufzuhelfen, und das brachte auch mein Selbstvertrauen wieder soweit auf die Beine, daß ich den Rest meines Dienstes an diesem Abend zur vollen Zufriedenheit der Kundin erledigen konnte.

Zurück zu Hause aber lag ich noch lange wach. Ich mußte mir überlegen, welcher Abend, neben Studium und Proben mit den Volltönenden, bei der Agentur als Ersatz für den Sonnabend in Frage kam. Ich brauchte das Geld, das die recht angenehme Arbeit bei der Agentur einbrachte, und dem Auftragskalender in Frau Neuhaus' Büro nach waren es gerade die Freitag- und Sonnabend abende, die am häufigsten gebucht wurden. In der Woche, insbesondere an Abenden vor einem Arbeitstag, hatte wohl weniger Damen Zeit, damit würde es aber auch weniger Buchungen geben, folglich auch weniger Gehalt und weniger Trinkgeld. Aber ein echter Auftritt mit den Volltönenden, vielleicht sogar ein regelrechtes Engagement mit zwei Auftritten in der Woche war eine Gelegenheit, die ich mir einfach nicht entgehen lassen konnte, auch wenn ich dort weder Rossini singen würde, noch einen Soloauftritt hatte. Mit weniger Geld würde die Wiederbeschaffung der durch meinen Vater zerstörten Plattensammlung zwar etwas länger dauern, aber das Studium sollte ich mir trotzdem bis zum Examen leisten können. Was hatte ich da eigentlich überlegen müssen? Und beruhigt schlief ich im Morgengrauen endlich ein.

Frau Neuhaus machte mir allerdings keine großen Hoffnungen, als ich ihr meine Terminprobleme schilderte. "Es tut mir sehr leid, Juan, aber bis Anfang August liegen uns bereits Sonnabend-Vormerkungen vor, bei denen die Kundinnen ausdrücklich sie verlangt haben. Aber selbstverständlich ist es kein Problem, weitere Buchungen auf einen Wochentag zu legen. An welchen Tag dachten sie denn?"

"Ich dachte an Mittwoch", antwortete ich resignierend. Anscheinend hatte ich der Agentur nicht nur meinen Körper, sondern zugleich auch meine Seele verkauft, denn mit Buchungen bis in den August würde es mit Sonnabend-Auftritten im 'Flash Nights' ab Juni sehr schwierig werden. Später am Tag telefonierte ich mit Felix, um ihm das wenig erfreuliche Ergebnis meiner Bemühungen mitzuteilen. So erfuhr ich, daß der bereits vereinbarte Auftritt im Nachtclub so spät in der Nacht stattfinden sollte, daß durchaus die Möglichkeit bestand, meine Pflicht gegenüber 'Agentur Casanova' bereits erfüllt zu haben. Und bei einem festen Engagement sollte es Sonnabends auch bei dieser späten Uhrzeit bleiben, nur die Freitagabende würden früher liegen.

Ich ließ es also darauf ankommen, wir studierten ein neues Programm mit einigen recht schlüpfrigen Titeln für das 'Flash Nights' ein, und als wir Ende Juni den Probeauftritt hatten, klappte es tatsächlich, auch wenn ich erst drei Minuten vor dem Auftritt in die Künstlergarderobe stürmte, um meinen Leinenanzug und das Seidenhemd gegen den Synthetikfrack mit angenähtem Hemd und Weste und die dazugehörende Hose zu tauschen. Aber der Auftritt der Volltönenden war natürlich ein voller Erfolg, und der Besitzer des 'Flash Nights' buchte uns bis weit in die Semesterferien. Ich versprach - mit einem Knoten im Bauch, weil mir bewußt war, wie wenig ich es beeinflussen konnte - immer rechtzeitig zur Stelle zu sein und schaffte es auch, Felix davon zu überzeugen.

Als wir uns trennten, fing mich unser Tenor Bernhard vor der Hintertür des Nachtclubs ab, hielt mir zwei Hunderter unter die Nase. "Juan, was für einen Job machst du eigentlich, daß du dir solche Klamotten leisten kannst und es offenbar nicht einmal merkst, wenn dir ein paar Scheine aus der Tasche fallen?"

"Ich bin Angestellter..."

"...eines Dienstleistungsunternehmens, schon klar. Das sagst du immer, wenn wir dich fragen. Aber das ist keine Antwort. Machst du was Ungesetzliches, daß du damit so viel Kohle verdienst?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, es ist nicht ungesetzlich, sondern sogar sozialversichert", gab ich zu Protokoll. Sollte Bernhard doch die zwei Scheine behalten, er brauchte das Geld sicher dringender als ich.

"Was machst du denn dann? Verkaufst du dich?" Das kam wie ins Blaue geraten aus seinem Mund, aber er erkannte an meinem Gesichtsausdruck anscheinend, daß er damit genau ins Schwarze getroffen hatte. "Ganz im Ernst?" fragte er dann leise, "bist du ein... ein Stricher?"

"Sehe ich etwa so aus?" fragte ich beleidigt. "Ich arbeite für einen angesehenen Begleitservice mit einer sehr exquisiten Klientel."

"Und wo ist da der Unterschied zu einem Stricher, außer daß du eben noch einen Zuhälter hast?" fragte Bernhard provozierend. "Arbeitgeber", berichtigte ich ihn halbherzig, aber Bernhard hörte mir gar nicht zu. "Ständig mit irgend einem fremden Kerl ins Bett steigen zu müssen...", sprach er leise vor sich hin.

"Die Kunden meines Arbeitgebers sind Frauen", stellte ich richtig. "Ich mache mit denen nichts anderes, als du mit deiner Freundin - nur habe ich jede Woche eine andere und werde dafür nicht schlecht bezahlt."

"Also das kannst du nun wirklich nicht vergleichen", fuhr Bernhard auf.

Na ja, da hatte er womöglich recht, denn vielleicht hatte er mit seiner Freundin ja nicht mal jede Woche Sex. Aber ich konnte mich gerade noch zurückhalten, so etwas auch noch auszusprechen. Statt dessen versuchte ich, das Gespräch wieder auf eine sachlichere Ebene zu verlagern: "Ich verlange nicht, daß DU meinen Lebensstil und den von mir gewählten Job gut findest, aber ICH kann damit und davon gut leben. Also lassen wir es doch einfach dabei."

"Solange du zu den Engagements halbwegs pünktlich bist - lassen wir es also dabei." Dann reichte er mir die Geldscheine, mein Trinkgeld vom heutigen Abend, zurück.

Ich schüttelte den Kopf. "Behalt es... vielleicht sorgt es dafür, daß du nicht gleich 'rumerzählst, wie ich mir die Wurst auf's Brot verdiene."

"Hmm, Schweigegeld also?" fragte Bernhard, betrachtete die Geldscheine nachdenklich. "Von mir erfährt auch so niemand etwas." Mit diesen Worten drückte er mir das Geld in die Hand und ging seiner Wege.

*


Die Klavierprüfung im Juli lief recht gut, ebenso Verdis 'Otello' der Opernklasse, bei dem ich den Jago singen durfte, auch wenn ich froh war, mit dem Charakter, der nur an das Schlechte im Menschen glaubte, durch die Prüfung abschließen zu können. Wahrscheinlich auch deshalb genoß ich die Proben und Auftritte mit den Volltönenden, den Vortrag der albernen Schlager, und ich verspätete mich durch meine Verpflichtungen für die Agentur nur zu einem einzigen Auftritt in den Sommerferien. Um das zu überspielen, improvisierten die anderen so gekonnt, daß wir eine Nummer daraus machten. Bernhard hielt über meinen Job tatsächlich dicht, und ich erlebte bei 'Agentur Casanova' ab August erstmals eine gewisse Flaute. Es gab Mittwoche, an denen ich nicht einmal als Begleiter gebucht wurde. Frau Neuhaus kündigte mir eine moderate Gehaltskürzung ab September an, falls sich die Auftragslage nicht ändern sollte, bat mich außerdem zu überlegen, wenigstens jeden zweiten Sonnabend zur Verfügung zu stehen, viele Damen würden danach fragen. Aber da die Volltönenden langsam eine gewisse Bekanntheit erreicht hatte, war zu erwarten, daß es während des Semesters noch weitere Engagements gab, auch wenn der Nachtclub ab November für die Sonnabende auf andere Attraktionen setzte.

Nachdem ich im September nur noch zwei Buchungen hatte, kürzte mir Frau Neuhaus das Gehalt schon deutlicher, und das tat richtig weh. Meine Lebenshaltungskosten waren durch die große Wohnung recht hoch, und mein finanzielles Polster war nach Überweisung der Studiengebühren nicht so dick, daß ich es von dem stark gekürzten Gehalt und den fast nicht mehr vorhandenen Trinkgeldern lange würde aushalten können. Da wir dienstags probten und freitags im Nachtclub auftraten, ließ ich mich darauf ein, im Oktober versuchsweise montags, mittwochs und donnerstags abends zur Verfügung zu stehen. Tatsächlich wurde ich dadurch wieder etwas häufiger gebucht, wenn auch ausschließlich für reine Begleitdienste. Und ich stellte sehr erstaunt fest, daß mir der Sex zu fehlen begann.

Als Felix bei der letzten Oktober-Probe verkündete, er habe für uns bis einschließlich Januar ein Tanztee-Engagement ergattert, jeden Sonnabend von vier bis sechs im Restaurant eines großen Kaufhauses, war der Jubel der Volltönenden groß. Innerhalb einer guten Stunde entschärften wir das Nachtclubprogramm so weit, daß es uns für den Tanztee angemessen erschien und integrierten sogar zwei Stücke, die wir bisher nur auf der MHS-Weihnachtsfeier des Vorjahres gesungen hatten. Als Felix dann im Überschwang verkündete, noch ein weiteres Engagement für den freien Sonnabend abend zu suchen, meldeten Holger, Ike und Bernhard einer nach dem anderen jedoch ihre Vorbehalte gegen einen zusätzlichen regelmäßigen Sonnabend-abend-Termin an, dem ich mich gleich anschloß. Da Felix notgedrungen einlenkte, rief ich gleich nach der Probe aus einer Telefonzelle in der Agentur an, um mich bis einschließlich Januar wieder ausschließlich für Sonnabende zur Verfügung zu stellen. Frau Neuhaus war überglücklich und stockte mein Gehalt wieder auf.

Aber irgendwie war bei den Premiumbuchungen nun der Wurm drin. War es vor meiner faktischen Pause noch möglich gewesen, zu jeder Kundin über den Abend eine elektrisierende Spannung aufzubauen, hatte sich nun eine lustfeindliche Routine entwickelt. Wenn auch die manuelle Stimulierung stets ausreichte, die gebuchte Leistung zu erbringen, und meine Schwierigkeiten, beim Verkehr mit den Kundinnen zu kommen, meinen Ruf als unermüdlicher Liebhaber zu zementieren schien, war dieser Zustand doch alles andere als befriedigend.

Auf der anderen Seite stand die Musik. Ein Gastdozent bot in diesem Semester die Einstudierung der Operette 'Orpheus in der Unterwelt' von Offenbach an, bei der ich mich als Jupiter versuchte und die Komik des Stückes und insbesondere der Rolle genoß. Außerdem stellte ich erfreut fest, daß ich mit meinem Anteil der Gage der Volltönenden inzwischen mehr verdiente, als seinerzeit im Supermarkt. Ich hatte Frau Neuhaus bereits angekündigt, daß ich meiner Prüfungen wegen von Mitte Februar bis Ende März Ferien machen wollte und mich auch nicht auf bestimmte Buchungstage für die Zeit danach festgelegt, um nicht wieder mit der Zeitplanung für Ferien-Auftritte der Volltönenden in Konflikt zu geraten.

Durch die Aussicht auf über einen Monat Urlaub fühlte ich mich so befreit, daß ich während der Auftritte mit den Volltönenden zu improvisieren begann und von der Bühne aus völlig unbeschwert mit den Damen und Herren im Publikum flirtete. Ich hatte ganz vergessen, wie gut ich das konnte, und mit dem Applaus wurden mir stets auch Kußhände zugeworfen. Hätte ich schon am Anfang meiner Studienzeit die Möglichkeit gehabt, mit Gesang mein Geld zu verdienen, wäre ich wohl niemals auf die Idee gekommen, meinen Körper anzubieten.

* * *



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (08.12.23, 21:00)
Bettina, es bleibt sehr unterhaltsam und auch die Spannung lässt nicht nach.

Liebe Grüße
Ekki

 Elisabeth meinte dazu am 09.12.23 um 00:06:
Lieber Ekki,

ganz herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Sehr schön, daß Dir die Geschichte weiterhin gefällt.
Ganz herzlichen Dank auch für Deine Empfehlung des Kapitels und die Aufnahme in Deine Lieblingstexte.

Liebe Grüße von Bettina
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