14. Ist das Liebe?

Text

von  Elisabeth

Der Freitag kam und ging dahin, und unser später Auftritt im Nachtclub ließ mich wieder das Blut in meinen Adern spüren, die Luft in meinen Lungen, die Musik hatte mich regelrecht wiederbelebt. Florian hatte seine Sache sehr gut gemacht, die anderen wünschten ihm alles Gute für die bevorstehende Aufnahmeprüfung, dann gingen wir auseinander. Florian und ich fuhren mit der U-Bahn nach Hause, und erst als wir das 'Mekong Garden' passiert hatten und in unsere Straße einbogen, merkte ich, wie schweigsam der Junge auf der ganzen Fahrt gewesen war.

"Ist was nicht in Ordnung?" fragte ich der Höflichkeit halber, doch als ich es aussprach merkte ich, daß mich diese fast düster wirkende Stimmung Florians wirklich beunruhigte.

"Juan, hat es mit mir zu tun, daß dein Freund gestern so plötzlich gegangen ist?" fragte er ungewöhnlich ernst, blieb am Aufgang zur Eingangstür direkt vor mir stehen, als wollte er mich ohne eine befriedigende Antwort nicht passieren lassen.

Anscheinend hatte er überhaupt nichts von unserem Streit mitbekommen, obwohl er direkt daneben gesessen hatte. Es ging ihn zwar nichts an, aber warum sollte er mit unnötigen Schuldgefühlen kämpfen. "Nein, es hatte nichts mit dir zu tun. Wir... nein, ich habe ein kleines... Dominanzproblem."

"Du bist einfach nicht locker genug, Mann. Du solltest wirklich kiffen", predigte er daraufhin wieder. So schnell war er also wieder der alte.

"Ja, vielleicht hast du recht, vielleicht sollte ich kiffen, aber nicht heute abend", blockte ich weitere Missionierungsversuche ab, ging an ihm vorbei und die Treppe hinauf. Auf dem ersten Treppenabsatz holte er mich scheinbar mühelos ein und dann lieferten wir uns aus irgendeinem Grund ein Wettrennen bis hinauf vor die Wohnungstür. Er gewann, aber ich nutzte meinen Heimvorteil, um vor ihm die Tür aufzuschließen, so daß wir schließlich lachend übereinander fielen, als die Tür aufschwang.

"Unentschieden", erklärte ich.

Florian sah auf mich herunter, mit seinen in der unbeleuchteten Wohnung plötzlich so dunkel gewordenen, großen Augen. "Hmm, okay, unentschieden, für jetzt. Wer zuerst in der Küche ist!" Und blitzschnell löste er seinen so angenehm warmen Körper von mir, stand, legte einen Sprint ein, kam quasi mit quietschenden Reifen in der Küchentür zum Stehen und legte den Lichtschalter dort um. Seine wilden, rotblonden Locken umgaben sein im Schatten liegendes Gesicht wie ein Strahlenkranz.

Wieso war mir eigentlich vorher nie aufgefallen, wie attraktiv hellhäutige, hellhaarige Typen sein konnten? Florian sah in diesem Moment aus, als wäre er der leibhaftige, sonnenverwöhnte Juni. Und als hätte ich meinen Gedanken ausgesprochen, begann er plötzlich, seinen Part unseres momentanen Eröffnungsstückes 'Wochenend und Sonnenschein' zu singen, drehte sich um, verschwand in der Küche. Über seine tiefe Stimme, die mir wieder durch und durch ging, hörte ich den Verschluß einer Bierflasche ploppen.

"Komm her, ich spendier' dir noch ein Bier", unterbrach er plötzlich seinen Gesang, weckte mich aus meiner Erstarrung.

Mein Herz klopfte schmerzhaft, als ich in der Türfüllung stehenblieb, ihn anschaute, wie er da in seiner ausgebeulten und am Saum ausgefransten Jeans, dem fleckigen T-Shirt stand, mit den weit in die Stirn fallenden, hellen Locken, in jeder Hand eine Flasche Bier, eine davon mir entgegengestreckt.

Ich nahm sie in Empfang. "Begehrenswert", hörte ich mich sagen, und mein Herz setzte vor Schreck ein paar Schläge aus.

"Eigentlich sagt man 'Danke'", berichtigte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich spürte, daß mein Gesicht glühte. Ich mußte knallrot geworden sein. "Hrmm, danke", räusperte ich mich, versuchte, seinem prüfenden Blick standzuhalten.

"Du erinnerst dich, du hast Flix gesagt, ich sei nicht dein Typ." Klang das nicht tadelnd? Und er wartete anscheinend auf eine Antwort. Was sollte ich dazu sagen? "Na ja", fuhr er dann fort, "vielleicht hast du dich in der Hinsicht ja auch... geirrt?" Klang das etwa hoffnungsvoll?

"Gute Nacht." Rasch stellte ich das ungeöffnete Bier auf den Küchentisch und verzog mich, so schnell ich das mit der schon gut gediehenen Erektion konnte. Es fehlte mir gerade noch, daß ich mich eines plötzlichen Hormonschubs wegen mit Felix und Ahmet gleichzeitig anlegte.

Und dann lag ich auf meiner Matratze, einsam, mit einer Latte wie eine Eins, das Objekt meiner Begierde gerade einmal drei Schritte über den Flur von mir entfernt, und Florian begann auch noch Gitarre zu spielen, ein Lied zu singen, 'Help!' von den Beatles. Anscheinend war er gar nicht in seinem nach vorne gehenden Zimmer, sondern saß auf dem Balkon, so daß die Musik ungehindert durch mein offenes Fenster dringen konnte. Es zog mir das Herz zusammen, aus seinem Munde "Help me get my feet back on the gro-ound, won't you please, ple-ease help me?" zu hören. Der Klang seiner klagenden Stimme und die Worte wühlten mich dermaßen auf, daß ich aufsprang, bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte.

Was wollte ich denn machen? Wollte ich dieses Lied, diese Worte - weil es mir gerade in den Kram paßte - als die seinen verstehen? Wollte ich die Volltönenden, die gerade einen neuen Ersten Bass gefunden hatten, spalten in ein Lager, das zu Felix hielt, und eines, das mir die Verführung eines gerade aus der Provinz eingetroffenen Jünglings verzieh? Wollte ich Ahmet mit dem Geständnis gegen mich aufbringen, daß ich ihn zwar immer noch sehr attraktiv fände, aber inzwischen einen Mann gefunden hätte, der akustisch meine Sinne verführte und die gleichen Interessen wie ich hatte? Aber Florian war bei aller kindlichen Spiellaune erwachsen. Er mußte doch wissen, was er tat, oder? Kiffte er wieder zu seinem Bier? Bevor ich weiter überlegen konnte, stürmte ich schon ins Wohnzimmer, sah ihn draußen vor der Balkontür sitzen, den Blick zum über dem Park stehenden Vollmond gerichtet, leise klagend singend, die Gitarre spielend, kein Joint. Ein junger Hund, der den Mond anheulte. Dann sah er mich an, im Mondlicht glitzerten Tränen auf seinen Wangen. Wie konnte er da noch so schön singen? Wenn mir die Tränen kamen, war meine Stimme praktisch weg.

Er wischte mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. "Du hast ja noch gar nichts dagegen unternommen", sagte er dann leise, den Blick auf meinen Schoß gerichtet. Nein, der Ständer stand noch immer, trotz aller Zweifel, aller Bedenken. Er schniefte, wischte noch einmal durch sein Gesicht. "Geh' ins Bett, Juan. Ich wollte dich nicht stören, aber... tut mir leid."

"Du hättest in deinem Zimmer singen können", antwortete ich ebenso leise.

Er lächelte, trotz der erneut überlaufenden Augen. "Aber dann... wie sollte ich dir denn zeigen, wie es in meinem Herzen aussieht? Du bist einfach... ich glaube, ich bin in dich verknallt."

Das konnte ich nun kaum glauben. "Wir kennen uns noch nicht einmal eine Woche", erinnerte ich ihn, kam näher, setzte mich neben ihn.

"Na und? Meinst du, ich würde jeden einladen, mit mir abzuwichsen?"

"Na ja, ich hatte den Eindruck", gab ich zu, versank in seinen tränenerfüllten Augen. Vielleicht ist es ein menschlicher Instinkt, vielleicht hatte Florian auch nur meine Verteidigung unterlaufen, jedenfalls konnte ich nicht anders, als ihm vorsichtig die neuen Tränen von den sommersprossigen Wangen zu wischen, und noch einmal, als weitere nachliefen. Und er schlang plötzlich die Arme um mich, die Gitarre höchst unbequem zwischen uns eingequetscht, und weinte nun ganz bitterlich an meiner Schulter.

Wie sollte ich ihn nur trösten? "Was willst du von mir hören?" flüsterte ich, legte die Arme um ihn und das sperrige Instrument. "Daß mir dein... Interesse sehr schmeichelt? Daß ich ganz verliebt bin in deine Stimme? Daß es mir das Herz zerreißt, dich so weinen zu sehen? Daß ich dich am liebsten gleich vernascht hätte, als du mir deinen nackten Hintern entgegengestreckt hast? Aber was wird Felix dazu sagen? Er wird mich oder dich oder uns beide rausschmeißen - oder er geht selbst, in jedem Falle wäre es das Ende der Volltönenden."

"Flix wird damit leben müssen", nuschelte Florian in mein T-Shirt.

"Er hat doch schon nicht gerne gesehen, daß du ausgerechnet bei mir wohnst", versuchte ich, dem Verstand Gehör zu verschaffen.

"Aber... aber wie soll ich so meine Prüfung bestehen?" Nun wurde Florians Stimme doch von den Tränen beeinträchtigt, er schluchzte, klammerte sich an mich, als sei allein ich seine Rettung.

"Schlaf' erst mal drüber", schlug ich vor, half ihm hoch, und er ließ sich widerstandslos in sein Zimmer führen, legte die Gitarre weg, ließ sich dann auf die Kante seines Bettes sacken. "Laß mich bitte nicht allein, Juan", wieder ein hilfloser Blick aus seinen tränengefüllten, meergrünen Augen, und ich setzte mich neben ihn, legte wieder die Arme um ihn, bettete seinen Kopf an meiner Schulter und kraulte seine wuscheligen Locken.

"Nein, ich laß dich nicht allein", versprach ich. Ich werde immer für dich da sein.

*


Ein warmer Leib lag an meinen geschmiegt, ein leises Schnarchen an meinem Ohr. Die Panik, bei einer Kundin eingeschlafen zu sein, durchfuhr mich wie ein Schlag, und ich war hellwach. Ein unbekanntes, sonnendurchflutetes Zimmer!

Mit einem Ruck setzte ich mich auf, die Häuser dort gegenüber kannte ich, ich sah sie seit einigen Wochen jeden Morgen beim Frühstück durch mein Küchenfenster. Florian lag neben mir, zusammengerollt wie ein Welpe, bewegte sich träge, wahrscheinlich hatte ich ihn durch die heftige Bewegung geweckt. Und wir waren beide noch vollständig bekleidet, welche Erleichterung.

"Geh' nicht", murmelte Florian in sein Kissen, griff erstaunlich gezielt nach meinem Arm, zog mich wieder neben sich, und ich ließ mich darauf ein, duldete seinen Arm um mich, genoß den Geruch seiner warmen Haut, streichelte sanft sein Haar und dämmerte wieder in den Schlaf hinüber.

Irgendwann wurde ich mir meiner selbst und des Ortes, an dem ich mich befand, wieder bewußt, stützte mich auf einen Ellbogen, sah hinunter auf das engelsgleiche Gesicht des schlafenden Florian. Seine rotgoldenen Augenwimpern bildeten perfekte Bögen, der Mund war leicht geöffnet, lud so sehr zum Küssen ein. Wenn ich dieser Empfindung jetzt nachgab, was würde dann werden? Ich wollte nicht am Untergang der Volltönenden schuld sein, und ich wollte doch eigentlich Ahmet.

So schön, diese sanft geschwungenen Lippen, so schön die Stimme, die durch diese Lippen geformt wurde, aber dem durfte ich einfach nicht nachgeben. Nicht einmal für Florian, damit er seine Prüfung ruhigen Herzens absolvieren konnte? Aber konnte ich das gegenüber den Volltönenden verantworten? Doch durfte ich Florian sehenden Auges so aufgewühlt, so voller Liebeskummer, in die Prüfung gehen lassen, wenn er mich als sein Rudelmitglied gefunden hatte?

Überrascht stellte ich fest, daß ich mich während meiner Überlegungen anscheinend immer weiter zu Florians Gesicht herunter gebeugt hatte und unsere Lippen nun nur noch Millimeter voneinander trennten. Sein Atem gab mir die Luft, die ich atmete und ich gab sie ihm zurück. Endlich ließ ich meinen Mund auf seine weichen Lippen sinken, verweigerte, weiter darüber nachzudenken, was andere dazu sagen mochten, denn mein Herz sagte mir sehr deutlich, was ich zu tun hatte.

Der bis dahin scheinbar schlafende Florian erwiderte meinen Kuß lebhaft, lockte meine zögernd forschende Zungenspitze mit zärtlichen Berührungen seiner eigenen. Und dann empfing er weitere Küsse auf sein von unglaublich weichen Stoppeln bewachsenes Kinn, die Kehle. Er zog rasch sein T-Shirt hoch, um mir seine von noch jugendlichem Flaum bewachsene Brust zur Liebkosung darzubieten. Ein Kuss in die Kehle zwischen den Schlüsselbeinen verursachte ihm eine Gänsehaut. Für einen Moment hielt ich inne, um dieses Schauspiel der sich aufrichtenden goldenen Härchen zu betrachten.

"Weiter", flüsterte Florian, und ich machte weiter, griff auf meine reichliche Erfahrung im Liebkosen nackter Frauenkörper mit ebenso weicher Haut zurück, und doch war jede Berührung seiner Haut eine völlig neue Erfahrung für mich. Jeder Seufzer Florians erregte mich mehr, sein Erschaudern unter meinen Berührungen. Mit einer Hand nestelte Florian an seiner Hose, ich half ihm, mit Tritten beförderten wir die störende Hose aus dem schmalen Bett.

Als wäre der Abend mit Ahmet auf meinem Balkon eine Übungsstunde für diesen Moment gewesen, begann ich nun, Florian einen zu blasen.


Endlich ließ ich von ihm ab, wollte mich neben ihn legen, um es mir selbst zu machen, da seufzte er: "Fick mich, jetzt gleich, bitte, Juan!"

Wie könnte man einer solch dringenden Bitte widerstehen? Aber wir brauchten wenigstens Gleitgel, besser auch Kondome. "Ich hol' nur eben...", begann ich, stand von seinem Bett auf.

Da griff Florian schon nach dem neben dem Bett liegenden Posaunenkasten, klappte den nur locker aufliegenden Deckel auf. Keine Posaune, dafür stapelweise Noten, zuoberst der Part des Don Magnifico aus Rossinis 'La Cenerentola', und in einer abgeteilten Ecke eine Tube Gleitgel und eine Packung Kondome. Florian angelte nach den Kondomen, entnahm eines, riß die Folie auf, während ich das Gleitgel herausnahm und zwischen uns legte, um mich meiner Hose zu entledigen.


*


Für einen Moment zitterte ich in Florians Armen, empfing seinen Kuß, dann zog ich mich zurück, ließ mich neben ihn fallen. Das Kondom landete verknotet im Papierkorb.

"Ich liebe dich, Juan", flüsterte Florian in mein Ohr, als wir beide so dalagen, nur mit T-Shirts bekleidet.

Ich fühlte mich unendlich befriedigt, aber trotzdem war da dieses Ziepen in meinem Magen. "Was haben wir nur getan?" fragte ich zurück. "Das wird das Ende der Volltönenden sein."

Florian stützte sich auf, strich mir zärtlich über den nackten Bauch, vertrieb mit seiner großen, warmen Hand alles Unwohlsein. "Nein, wird es nicht. Ich werde meine Prüfung bestehen, und Flix weiß doch schon, daß ich dich sehr attraktiv finde. Er wird sich denken können, daß wir über kurz oder lang zueinander finden, da er genau weiß, daß ich auch auf Kerle stehe."

"Auch...", echote ich verdutzt.

"Hast du etwa ein Problem damit?" wollte Florian wissen, sah mich prüfend, aber wohlwollend an.

Wieso sollte ich damit ein Problem haben, solange er mir gegenüber so hingebungsvoll war? "Keineswegs, mein Süßer", versicherte ich ihm.

Florian lächelte über diese Bezeichnung, sah mich so verliebt an, daß es mich schmerzte. Aus anderen Gesichtern hatte ich bisher allenfalls einen schwachen Abglanz solcher Leidenschaft empfangen. "Nenn mich doch lieber Flo", bat er.

"Ich liebe dich, Flo", sagte ich also.

"Das weiß ich doch, Juan."

* * *

ENDE



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