Der Kick

Short Story

von  uwesch

Drei Meter trennten sie, sagte sein Kumpel. Vielleicht war es eine Schätzung, nachzumessen jedenfalls nicht mehr.
Michael, jeder nannte ihn Mike, war jung und sah gut aus. Bis zu dem Tag mit dem schrecklichen Unfall. Er kam aus dem bürgerlichen Milieu Hamburgs und lachte gern, wenn er seine Kundinnen im angesagten Friseursalon Hamburgs am Gänsemarkt bediente. Sein Vater war stinkesauer, als er das Gymnasium nach der Mittleren Reife schmiss. Seine Mutter meinte:
„Lass ihn doch, du bist auch nicht deinen Neigungen gefolgt und jetzt unzufrieden in deinem Beruf“.
Mit seinen schicken Klamotten namhafter Modefirmen strahlte Mike pure Lebenslust aus. Ein zwanzigjähriger Junge, der in seiner Freizeit auf Feuerleitern und S-Bahn-Wagen herumkletterte. Die Graffiti-Welle schwappte aus den amerikanischen Ghettos auch nach Deutschland und es entwickelte sich in den Großstädten eine Szene, teilweise aggressiv-primitiv orientiert, teilweise mit künstlerischem Anspruch. Es galt, die bürgerliche Gesellschaft herauszufordern.
Manch ein Sprayer sprühte Bilder mit großer Perfektion. Um die Kunstwerke weithin sichtbar anzubringen, wurde oft sehr viel riskiert. ´Doch es gibt nichts geileres, als wenn du einen Zug geballert hast und den Lackgeschmack noch auf der Zunge spürst` war so ein Szenespruch. Wenn dann später die bemalte S-Bahn vorbeifuhr, war er einfach happy.
Selbst im Hamburger Villenviertel Volksdorf aufgewachsen verdiente er jetzt als Star-Haircutter gut. Wenn er die edle Atmosphäre seines Friseursalons verließ, suchte er in der Nacht den Nervenkitzel bei Streifzügen über Rangiergleise, meistens begleitet von einem oder mehreren Kumpels seiner Sprayer-Crew - zwei völlig verschiedene Welten. Aber er brauchte immer wieder diesen Kick, denn der Glückszustand nach einem gelungenen Spray hielt nicht lange an und er musste ähnlich einem Junkie so schnell wie möglich die nächste Bahn besprühen. Die Abstände wurden immer kürzer. Die Angst, gefasst zu werden, unter einen Zug zu geraten, oder einen Stromschlag abzubekommen, erhöhte den Reiz – Adrenalin pur! Seiner Crew war es einmal gelungen, einen kompletten Zug zu überziehen, ´whole train` im Szenejargon. Das war das Größte gewesen, was er je erlebt hatte.
Besonders verachtete er allerdings den ältesten und bekanntesten Sprayerhelden in der deutschen Szene mit dem Künstlernamen OZ, von dem ziemlich jeder schon seinen Halbkreis mit zwei Punkten und dem Kürzel OZ an einer Häuserwand gesehen hatte. Dieser schon sehr alte Mann sprayte vieltausendfach sein Smiley zum Ärger vieler Hauseigentümer auf Wände in ganz Deutschland, und wurde deshalb zu ihrer Hassfigur.
Doch Mike kam es auf Kunst an, und er hielt es für schädlich, da OZ damit die Kunstdebatte konterkarierte und die Sprayer pauschal als Schmierfinken gesehen wurden. Manch ein Künstler wurde in seinem Umfeld so geschätzt, dass sich keiner traute, dessen Bilder zu übersprayen. Die Meinungen in der Szene gingen allerdings weit auseinander in dem, was Kunst ist. Doch er fand, dass es in der etablierten Kunstszene auch nicht anders zugeht.
Beim Erklettern eines abgestellten Waggons geriet er an einem trüben Freitagabend, Ende September, zu nah an eine unter hoher Spannung stehende Oberleitung. Seitdem lag er mit Verbrennungen zweiten und dritten Grades in der Uniklinik Eppendorf.
Sein Kumpel hatte nach dem Unfall einen Notarztwagen übers Handy angefordert und sich dann aber sofort aus dem Staub gemacht. Ein Meter trennte ihn jetzt beim Besuch von dem Klinikbett, der eingewickelten Mumie Mike, aus der nur noch die traurigen Augen hinausschauten. So kamen sie sich wieder näher.

Zu Sachinfos aus der Szene vgl. „Es ist eine Sucht“, DER SPIEGEL 49/2013



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (22.02.24, 09:11)
Sehr realistisch beschrieben. Das wäre eine immaterielle Sucht, wie Kaufsucht, Spielsucht oder Sexsucht. 
Zwar würde ich den Verkauf von Spraydosen limitieren und protokollieren, aber hier in diesem Fall müsste die Sucht nach dem Abheilen der Verbrennungen therapiert werden, sonst besteht die Gefahr, dass sich das Problem in Form einer anderen Sucht wiederum manifestiert. Schwierig zu verstehen, wie viele unterschiedliche Süchte es gibt. Ein weit verbreitetes Problem, das du hier ansprichst.
Der Protagonist kommt ja gerade noch mit dem Leben davon.

 uwesch meinte dazu am 22.02.24 um 12:49:
Na ja in jungen Jahren denken manch Jugendliche nicht darüber nach, was sie da tun. Sie suchen halt den Kick und blenden aus, dass es mit dem Leben bezahlt werden kann.
Im Hamburger S-Bahn-Netz hatten sie ideale Bedingungen. Heute ist es nicht mehr opportun. Vermutlich gibt es andere Kompensationen, um Frust abzureagieren. Da habe ich keinen Zugang mehr als alter Opa hier in Waldkirch im Schwarzwald.
Dank Dir für Kommi und Empfehlung

 Regina antwortete darauf am 22.02.24 um 12:51:
In Nürnberg haben sie es auch gemacht, sie nannten es U-Bahn-Surfen, hinten außen auf der U-Bahn mitfahren. Mutprobe. Zum Glück funktionieren meistens die Schutzengel.

 harzgebirgler (24.03.24, 12:19)
sprayt BANKSY was an hauses wand
bewahrt man das mit kunstverstand! :D lg vom harzer

https://de.wikipedia.org/wiki/Banksy
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