Die letzte Reise

Text

von  Mondscheinsonate

Während ich auf der Grabsteinumrandung saß und ein Buch las, das machte ich schon sehr lange nicht mehr, die japanischen und deutschen Touristengruppen vorbeizogen, der Friedhof ist wahrlich eine Attraktion, eigentlich eigenartig, sehnte ich mich nach der kalten Jahreszeit, wo diese Störenfriede ausbleiben und nur vereinzelt zu sehen sind, mehr die Tiere vorherrschen, vorallem Rehe zu sehen sind und die wahren Herrscher die Saatkrähen sind, dachte, dass mir der Zustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu denken gibt. Heute ein Mensch, morgen Asche, die durch ein Sieb rieselt, um die letzten Knochenreste zu entfernen, danach schön verpackt in geschmacklosen Urnen, die dann in einem riesengroßen Grab, dieses hier ist groß, versinken - sie nennen es pietätvoll "Die letzte Reise", bevor der Deckel die Sicht auf die Welt versperrt. Über mir waren die Flugzeuge im Dauertakt mit ausgefahrenem Fahrwerk, bereit zur Landung. 

Ankommen - hier. Das Ziel der Reise ist der Tod. 

Ich mag die aufkeimende Sentimentalität über das baldige Sterben nicht, wir sterben und aus. Eher sind Gedanken über den Prozess des Sterbens da, wer wünscht sich nicht, einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen? Das spielt es leider nicht immer. 

Der, der da nur ein Häuflein Asche, also Elend ist, unter mir verieselt, der starb zwei Jahre lang, nein, krepierte, war am Schluss nur noch eingefallen, Haut und Knochen mit unerträglichen Schmerzen. Ich habe Mitleid, trotz allem.

Vorgestern holte ich seine Uhr vom Uhrmacher, die blieb stehen und ließ sich nicht mehr benützen. Oma sagte immer, wenn Uhren stehenbleiben, dann ist es vorbei. Sie sammelte Uhren, hatte um die 100 Uhren, kontrollierte täglich, ob alle funktionierten, hatte extra Uhrrüttler angeschafft, die nicht billig waren, damit die Welt sich weiterdrehte. Die Teuerste aus Weißgold mit Diamanten schenkte sie mir, meinte, das Hundsvieh mag sie nicht mehr haben, warum, das sagte sie nicht, sie war, was Uhren anging, nie spendabel, es wurde mir aber mulmig und ich verkaufte sie recht gut, der Aberglaube sprang auf mich über. Ich weiß nicht, was sie meinte, aber der Juwelier meinte, die Uhr funktioniere einwandfrei. Seltsam. 

Nun saß ich mit einer Uhr aus den 1960 - Jahren, die ich bereits seit zwei Tagen liebe, die wunderbar zu meinem alten Studentenranzen passt, den ich auch bekam. "Je abgefuckter umso besser", das sagte die Freundin. Nein, normalerweise nicht, auch meine Converse sind im Erwachsenenalter strahlendweiß, nicht mehr dreckig. Als junge Menschen waren saubere Converse verpönt, das sah Scheiße aus.

Die Uhr funktioniert einwandfrei, das dachte ich, während ich las. 

Auch dachte ich, in Wahrheit las ich schon längere Zeit nicht mehr, hielt nur das Buch in den Händen, dass es schön ist, die wichtigsten Gegenstände, die viel bedeutet haben, dem Großvater der Ehering und dem unter mir seine Uhr, bei sich zu haben. Der Uhrmacher sagte, das sei ein besonders schönes Stück und machte mir ein neues Lederband darauf, ich wollte ein Schwarzes, behielt aber das alte auf, es riecht intensiv nach Vergangenheit, denn die Uhr war fast zwei Jahre lang in einem kleinen Plastikbehälter, das konservierte den Duft, auch das Säckchen riecht intensiv. 
Und, während ich saß und nicht mehr las, nur das Buch in den Händen hielt, drehte ich mich zu dem Grabstein um, es ist mittlerweile ein weiblicher Name dazugekommen, die Frau des Bruders, was mir leid tat.

Epikur sagte:

Der Tod betrifft uns nicht. Solange wir da sind, ist er nicht; und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.

So ist es. Ich stand dann auf, es war Zeit zu gehen. Man sollte immer vorwärts und weitergehen, so lange es möglich ist. Ich sagte: "Es ist doch schon komisch, ich war genauso alt wie du damals warst als wir uns trennten, als du gestorben bist. Seltsam."
Aber, lächelte, denn die Uhrzeiger drehen sich weiter. 
Dann trat ich meine Reise nach Hause an, der Friedhof liegt am anderen Ende, die "Parking Position" verlassend. 


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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (14.07.24, 00:17)
Ich mag die aufkeimende Sentimentalität über das baldige Sterben nicht, wir sterben und aus.
Dieser Gedanke ist mir schleierhaft. Glaubst du allen Ernstes, die Yogis im Himalaya setzten sich, und zwar ohne Sentimentalität, seit - ja man kann sagen "Jahrtausenden" - hin, um jahrelang zu meditieren, wenn sowieso nach dem Tod alles vorbei ist?. Glaubst du, sie würden dann die ausgefeiltesten Praktiken entwickelt haben? - müssten die da nicht vollkommen bekloppt sein, also seit Jahrtausenden, wenn sie das immer noch nicht gemerkt haben, daß da "nichts" mehr ist? Oder glaubst du, die würden nur glauben?


Ich kann das nicht fassen - auch den Spruch vom Epikur, den du so schön hervorhebst, - der mag intellektuell fein durchdacht sein und Graeculus und andere erfreuen, aber leider ist nur das Gehirn beteiligt, null Erfahrung.
Hingegen das tibetanische Totenbuch mit seinen genauen Schilderung, wie die einzelnen Nachtodzustände ineinander übergehen, bis zum Verlust aller Erinnerung und schließlichen Wiedergeburt - alles Spinnerei? Alle Erfahrungen bloß vorgespielt, nur um im Leben Vorteile zu haben? Oder hast du, wie Millionen andere im Westen einfach nie darüber nachgedacht?

 Mondscheinsonate meinte dazu am 14.07.24 um 04:54:
Natürlich und als Kind erklärte man mir den Himmel. Ich glaube das alles leider nicht mehr. Ich brauche da keinen Trost, dass es eh weitergeht und halb so wild ist. Der Prozess des Sterbens beschäftigt mich viel mehr, denn der ist denkbar.

 FrankReich antwortete darauf am 05.08.24 um 09:20:

@Lothar

müssten die da nicht vollkommen bekloppt sein

Nein, müssten sie nicht, aber sie waren und sind es. 👋😂

Dein Problem ist deshalb auch folgendes:


Ich kann das nicht fassen

Aus genau diesem Grund kannst Du es nämlich auch nicht lassen, an solch einen Jahrtausende alten Unsinn zu glauben. 🤔

Ciao, Frank

 LotharAtzert schrieb daraufhin am 05.08.24 um 10:22:
Frank, einem, der nicht weiß, daß er nicht weiß - was sollte ich zu dem noch sagen?

Ciao, ja das.
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