Han Kang und die Sprachentwicklung
Essay zum Thema Sprache/ Sprachen
von Graeculus
Kommentare zu diesem Text
Mein persönlicher Favorit ist ein Imperativ Perfekt Passiv in der 3. Person: βεβίωται.
Ist das nicht eine völlig unsinnige und überflüssige Form?
Es ist sicher nichts, worauf eine Sprache nicht verzichten kann. Am nächsten kommt dem im Deutschen unser "es soll halt so sein!", und das nun im Passiv: "Es soll etwas gemacht worden sein!", in diesem Falle: gelebt. Ich habe diese spezielle Form bei Cicero gefunden, der an der betreffenden Stelle eigens vom Lateinischen ins Griechische wechselt.
Die Liebe zu Partizipialkonstruktionen, ja, die gibt es auch im Englischen. Aber vieles, vieles von dem, was ich erwähnt habe, gibt es dort nicht.
Werfen Sprachen nicht sinnvoller Weise grammatischen Ballast ab, um pragmatischer und wirklichkeitsnäher zu werden? Also müsste hinterfragt werden, was eigentlich Fortschritt und was Rückschritt ist.
Da ist was dran: Man müßte - vor allem, wenn es um mehr als einen Essay, etwa um eine wissenschaftliche Analyse ginge, Fortschritt und Rückschritt definieren. Für mich hier ist das Maß die Komplexität = Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten. Sofern es stimmt, daß sich diese reduzieren, könnte der Gewinn in der Einfachheit, leichteren Handhabbarkeit o.ä. bestehen.
Daß das Ergebnis dann wirklichkeitsnäher ist, nehme ich allerdings nicht an, denn die Wirklichkeit halte ich für sehr komplex. "Es kann sein" ist eben etwas anderes als "Es möge so sein", und diesen Unterschied machen im Griechischen eben Konjunktiv und Optativ aus.
Und was der Aorist angibt, ist eben etwas anderes als das, was das Imperfekt ausdrückt.
Lieber Quoth, ich weiß nicht, ob ich mit all dem recht habe; es ist ein Gedanke von mir, und es hat mich gefreut, ihn bei Han Kang wiederzufinden.
Ich weiß es auch nicht, warne aber davor, Komplexität grundsätzlich für hochentwickelt zu halten. Bestes Beispiel für mich: Die hochkomplexen Verwandtschaftsverhältnisse der Indigenen Australiens (von Claude Lévy-Strauss in "Traurige Tropen" mit höherer Mathematik verglichen). Und die hochkomplexen religiösen Verhältnisse im Polytheismus. Ist der Monotheismus eine Simplifizierung, ein Rückschritt?
Und zum Englischen, das gern als Simpelsprache unterschätzt wird, weil die Anfänge leicht erlernbar sind: Hier haben sich keltische, angelsächsiche und normannische (französische) Sprache aufeinander geschichtet und mit keltischer, angesächsischer und französischer Grammatik gegenseiti durchdrungen. Es ist nicht nur Weltsprache geworden durch den Kolonialismus, sondern auch, weil es so differenziert und fein unterscheidend alles auszudrücken vermag. Siehe hierzu z.B.
hier.
Und zum Englischen, das gern als Simpelsprache unterschätzt wird, weil die Anfänge leicht erlernbar sind: Hier haben sich keltische, angelsächsiche und normannische (französische) Sprache aufeinander geschichtet und mit keltischer, angesächsischer und französischer Grammatik gegenseiti durchdrungen. Es ist nicht nur Weltsprache geworden durch den Kolonialismus, sondern auch, weil es so differenziert und fein unterscheidend alles auszudrücken vermag. Siehe hierzu z.B.
hier.
Inzwischen bin ich nicht mehr so recht glücklich mit meiner These von der Simplifizierung der Sprachen. Mir fehlen dazu viele sprachwissenschaftliche Kenntnisse.
Komplexität habe ich insofern als Qualitätsmerkmal angesehen, als es - so dachte/denke ich - eine differenziertere Ausdrucks- und Denkweise ermöglicht. Das gilt wohl auch für komplexe Bezeichnungen für Verwandtschaftsverhältnisse.
Auf der anderen Seite können komplexe Strukturen auch einen Überlebensnachteil bedeuten ... bei Sprachen vor allem dann, wenn sie schwer zu erlernen sind. Komplexität ist kein allseitiges Qualitätskriterium.
Und ja, ich halte den Monotheismus im Vergleich zum Polytheismus für unterkomplex. Am einfachsten strukturiert erscheint mir der Islam. Diese mangelnde Komplexität führt m.E. zu theologischen Problemen: Wenn es nur einen Gott gibt und nichts ihm gleichkommt, wieso ist dann seine Schöpfung, die Welt, nicht so, wie er sie haben wollte? Da taucht sofort das Theodizee-Problem auf, das der Polytheismus nicht hat.
Wie auch immer, lieber Quoth, sollte ich wenigstens den einen oder anderen dazu angeregt haben, sich a) mit Han Kang und b) mit dem Altgriechischen zu befassen, will ich zufrieden sein.
Altgriechisch - damit hat Europa begonnen. Und es ist eine spannende Sprache. Womit ich nichts gegen das Chinesische usw. sagen möchte, doch das ist eben nicht unsere Tradition.
Einen herzlichen Gruß,
Graeculus
Komplexität habe ich insofern als Qualitätsmerkmal angesehen, als es - so dachte/denke ich - eine differenziertere Ausdrucks- und Denkweise ermöglicht. Das gilt wohl auch für komplexe Bezeichnungen für Verwandtschaftsverhältnisse.
Auf der anderen Seite können komplexe Strukturen auch einen Überlebensnachteil bedeuten ... bei Sprachen vor allem dann, wenn sie schwer zu erlernen sind. Komplexität ist kein allseitiges Qualitätskriterium.
Und ja, ich halte den Monotheismus im Vergleich zum Polytheismus für unterkomplex. Am einfachsten strukturiert erscheint mir der Islam. Diese mangelnde Komplexität führt m.E. zu theologischen Problemen: Wenn es nur einen Gott gibt und nichts ihm gleichkommt, wieso ist dann seine Schöpfung, die Welt, nicht so, wie er sie haben wollte? Da taucht sofort das Theodizee-Problem auf, das der Polytheismus nicht hat.
Wie auch immer, lieber Quoth, sollte ich wenigstens den einen oder anderen dazu angeregt haben, sich a) mit Han Kang und b) mit dem Altgriechischen zu befassen, will ich zufrieden sein.
Altgriechisch - damit hat Europa begonnen. Und es ist eine spannende Sprache. Womit ich nichts gegen das Chinesische usw. sagen möchte, doch das ist eben nicht unsere Tradition.
Einen herzlichen Gruß,
Graeculus
Ich muß mich korrigieren: βεβίωται ist 3. Pers. Sg. Indikativ Perfekt Medium/Passiv. Für den entsprechenden Imperativ - es gibt ihn tatsächlich - müßte die Endung -σθω lauten.
Wer Interesse an der Diskussion dieses Themas unter Beteiligung von Sprachwissenschaftlern hat - hier:
https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=10876#30
Auch wenn einer von ihnen kein gutes Haar an meiner These läßt, ist die Diskussion dort sehr lebhaft.
https://www.albertmartin.de/altgriechisch/forum/?view=10876#30
Auch wenn einer von ihnen kein gutes Haar an meiner These läßt, ist die Diskussion dort sehr lebhaft.
Faszinierende Sprache, das Altgriechische. Das Deutsche hat aber auch weitaus mehr Möglichkeiten, als gemeinhin gelehrt werden, aber keinen Aorist.
Sicher hat das Deutsche mehr Ausdrucksmöglichkeiten, als gemeinhin benutzt werden. Immerhin werden viele von ihnen im Griechischen durch bestimmte grammatische Strukturen nahegelegt, während man im Deutschen einen Umweg, eine umständlichere Ausdrucksform braucht.
Aber das mit dem Metrum (Länge/Kürze + betont/unbetont), das ist ganz anders als im Deutschen, das kann man m.E. im Deutschen nicht nachmachen.
Aber das mit dem Metrum (Länge/Kürze + betont/unbetont), das ist ganz anders als im Deutschen, das kann man m.E. im Deutschen nicht nachmachen.
In der Weltsprache Musik passiert das alle paar Jahre, es lohnt sich, die Entwicklungen dort mal anzuschauen und die jeweils neuen alten Schwerpunkte wiederzuerkennen.
Ich habe überlegt, ob es in Plastik und Malerei eine vergleichbare Entwicklung von einfachen Anfängen über hohe Komplexität und dann wieder einfachen Formen gibt. Wenn Marcel Duchamp eine Kloschüssel ins Museum stellt und Andy Warhol eine Konservendose malt, dann kommt mir ein Verdacht. Ähnlich bei radikaler bzw. monochromer Malerei.
An die Musik habe ich noch nicht gedacht. Falls Du Anregungen dazu hast, dann nur her damit.
Beethoven, Wagner und Mahler erscheinen mir auf Anhieb komplexer als John Cage.
An die Musik habe ich noch nicht gedacht. Falls Du Anregungen dazu hast, dann nur her damit.
Beethoven, Wagner und Mahler erscheinen mir auf Anhieb komplexer als John Cage.
zwischen Klassik und der Pop und Rock Musik der zweiten Hälfte des 20.ten Jahrhunderts zu vergleichen, dazu reicht meine Kenntnis der klassischen Musik nicht. Was ich beobachten konnte waren der Beginn neuer Stilrichtungen, wie die dann komplexer wurden und plötzlich wieder von wo ganz anders her etwas mit einfachen Mitteln neu begann. Z.B. in den 70ern wollte plötzlich jeder einen Synthy, dann eine programmierbare Soundstation, ums mal grob anzudeuten, inzwischen arbeiten die Leute wieder mit Handtrommel, Cajun und Blockflöte oder Didgeridoo. Musiker sind ständig auf der Sucher nach "dem Sound" und das gilt nur bedingt für den Mainstream, der übernimmt immer nur Fragmente davon. Was sich aber gut dabei nachvollziehen lässt, ist das Momentum dieser Entwicklung, der ständige Kampf gegen und mit den Hörgewohnheiten und der Versuch des unmittelbarsten Ausdrucks.
Danke. Ich kann das soweit nachvollziehen. Auch das, was Du zum Schluß schreibst. Allerdings geht es mir nicht um den Versuch, immer wieder etwas Neues zu schaffen und dadurch die Hörgewohnheiten zu durchbrechen, das ist nicht das, was ich meine. Das haben ja, bezogen auf die darstellende Kunst, auch Duchamp und Warhol getan, ebenso die radikale Malerei. Kürzlich habe ich es erst wieder in einer Ausstellung von Yoko Ono feststellen können: diese Infragestellung des bisherigen Verständnisses von Kunst. Es kommt mir hinsichtlich der eingesetzen, auch handwerklichen Mittel einfacher vor. Oft reduziert auf eine Idee, deren Umsetzung beinahe nebensächlich ist.
Mein Problem, was Musik angeht, besteht darin, daß ich die Struktur von Musik nicht gut "lesen" kann, bei weitem nicht so gut wie die von Sprache.
Wenn ich, wie es jetzt immer häufiger geschieht, "wir gedenken dem ..." höre bzw. lese, dann spüre ich sofort, daß hier wieder ein Rückzug vom Genetiv stattfindet. "wegen dem" ist ja sogar schon vom Duden legitimiert.
Bei der Musik hingegen kann ich nicht klar erkennen, ob der HipHop strukturell so simpel ist, wie er mir erscheint.
Du verstehst, was ich meine?
Mein Problem, was Musik angeht, besteht darin, daß ich die Struktur von Musik nicht gut "lesen" kann, bei weitem nicht so gut wie die von Sprache.
Wenn ich, wie es jetzt immer häufiger geschieht, "wir gedenken dem ..." höre bzw. lese, dann spüre ich sofort, daß hier wieder ein Rückzug vom Genetiv stattfindet. "wegen dem" ist ja sogar schon vom Duden legitimiert.
Bei der Musik hingegen kann ich nicht klar erkennen, ob der HipHop strukturell so simpel ist, wie er mir erscheint.
Du verstehst, was ich meine?
ungefähr, also vor allem, dass es dir nicht um einen kreativen Prozess, sondern eher um etwas geht, das man von einem gewissen Standpunkt, verkümmern nennen könnte. Wobei man eigentlich darauf schauen sollte, in welchem Umfeld das passiert, dem täglichen Gebrauch nämlich und nicht einer besonders motivierten Aktion, wie der Kunst. Das hat andere Kriterien. Kommt das deinem Ansatz näher.
Ja, natürlich. Das Leben hat viele Seiten, viele Erfordernisse, und in manchen davon ist Komplexität eher hinderlich. In manchen Situationen ist wohl sogar das Pidgin-English dem klassischen Englisch überlegen - gerade weil es einfacher ist.
Und ich weiß ja auch, welche Sprache man beim Einkaufen im Supermarkt nicht sprechen sollte.
Deswegen muß ich mir wohl den emotional naheliegenden Begriff des Verkümmerns verkneifen.
Und ich weiß ja auch, welche Sprache man beim Einkaufen im Supermarkt nicht sprechen sollte.
Deswegen muß ich mir wohl den emotional naheliegenden Begriff des Verkümmerns verkneifen.