Was mit Menschen passiert, die niemand mehr sucht und warum Dessertschalen manchmal wie Beerdigungen klingen

Text

von  Isensee

Er hieß Elias oder wollte so heißen. Namen waren ohnehin nur Tickets für Gesprächsfetzen.

Sein Herz schlug im Takt eines verstaubten Plattenspielers, und in seiner Brust war kein Takt, sondern eine tickende Unruhe, als wäre er versehentlich aufgewacht in einem falschen Jahrhundert. 207 Jahre zu spät. Oder 10 Minuten zu früh. Je nachdem, wie viel Kaffee.
Elias sammelte Geräusche. Nicht Musik – Gott bewahre. Musik war längst ein Produkt geworden, so vorhersehbar wie ein Algorithmus auf Drogen. Nein, Elias hörte zu, wenn der Kühlschrank sich beschwerte, wenn seine Nachbarin laut mit ihrem toten Hund sprach. Das waren die echten Symphonien. Nackte Schallwellen. Wahrheit in Frequenzen.
Er verliebte sich in Frauen, die sich nie ganz aussprachen. Frauen, die wie Kommas redeten und wie Fragezeichen schliefen. Ihre Seelen lagen unter ihren Fußsohlen, nicht in ihren Augen. Und das war gut so. Blicke lügen, aber Schritte nicht.
Die letzte war Clara. Biolumineszierend. So beschrieb sie sich selbst. Sie schrieb Gedichte über Pilze, die im Dunkeln leuchten und über Männer, die im Hellen verschwinden. Ihre Hände waren wie kaputte Haarnadeln: nützlich, gefährlich, irgendwie elegant.
Elias begegnete ihr in einem Waschsalon. Sie faltete ihre Einsamkeit zusammen wie Unterwäsche. Er fragte, ob sie auch lieber mit Maschinen redet als mit Menschen. Sie antwortete: „Kommt drauf an, wie sehr die Menschen nach Spülmittel riechen.“
Er war sofort verliebt. Sie zogen zusammen in ein leerstehendes Planetarium. Keine Heizung, aber dafür das Universum auf Knopfdruck. Sie schliefen unter Jupiter, lachten unter Saturnringen, diskutierten über Kant, während der Orion über ihnen zerbröselte wie Zigarettenasche auf schwarzem Samt.
Clara verschwand an einem Dienstag. Einfach so. Ohne Drama, ohne Abschiedsbrief. Nur ein Zettel am Kühlschrank:
„Ich habe das Gefühl, meine Knochen hören sich selbst beim Denken zu. Das ist zu laut. Ich geh irgendwohin, wo das Denken leiser ist.“
Elias suchte sie nicht. Er wusste, dass echte Abgänge immer leise sind. Türen, die man nicht zuknallt, sind die gefährlichsten.
Er begann stattdessen, ihre Stimme zu rekonstruieren. Aus alten Anrufbeantwortern, aus Duschgesängen, aus zufälligen Mitschnitten auf VHS. Er baute sich eine Clara aus Ton, so wie andere sich Gott bauen aus Schuld.
Es war Winter, als er starb. Nicht dramatisch. Nicht poetisch. Einfach so. Im Schlaf. Mitten in einem Satz.
„Wenn das Licht—“
So stand es auf seinem Notizblock.
Niemand bemerkte sein Verschwinden. Erst zwei Monate später roch der Nachbar den Tod, aber dachte, es sei der Müll.
Das Planetarium wurde wieder still.
Drei Jahre später: Eine Putzfrau stößt im leeren Gebäude mit dem Besen an einen alten Lautsprecher. Kurz knackt es. Dann: Claras Stimme. Glasklar. Wie in Bernstein eingeschlossen. Sie sagt nur ein Wort: „Noch.“

Sie isst nichts mehr, was eckig ist.
Nur noch Kreise, Ellipsen, Spiralen. Als ob alles Kantige eine Erinnerung hätte. Als ob jede Kante ein damaliger Tag wäre.
Seit dreiundachtzig Tagen lebt sie in einer Einzimmerwohnung, die sie nur nachts verlässt, um die Lichter zu zählen, die andere Menschen anlassen, obwohl sie längst schlafen.
„Niemand hat mehr Angst vor dem Stromverbrauch“, sagt sie einmal zu einem Igel, der sich auf ihrer Fußmatte zu Tode stellt.
Der Igel antwortet nicht. Natürlich nicht.
Sie lächelt. Auch das tut sie nur noch nachts.
Ihr Tag beginnt, wenn die Ampeln anfangen zu blinken.
Sie trägt Kopfhörer, aber nichts läuft. Sie sagt, sie will den Hall hören, der entsteht, wenn Erinnerungen gegen das Trommelfell schlagen.
Die Gedanken an Elias kommen nicht wie Wellen, sondern wie Tropfen: einzeln, langsam, präzise.
Manchmal träumt sie davon, dass er sie nie getroffen hat. Dann wacht sie auf und schreibt das auf.
Nicht weil es tröstet.
Sondern weil es schlimmer ist, nichts zu notieren.
Sie arbeitet jetzt in einem Archiv, das es offiziell nicht gibt. Dort sortiert sie Tonaufnahmen von Gesprächen, die nie geführt wurden.
Manche klingen nach alten Zigaretten. Andere nach Beton. Einmal hört sie ihre eigene Stimme sagen: „Ich glaube, ich war gar nicht einsam. Ich war nur nicht teilbar.“
Sie drückt sofort auf Stopp. Dann auf Löschen. Dann auf Zurückspulen.
Die Datei ist noch da. Sie löscht sich nicht. Nichts löscht sich. Man nennt es Zeit, aber es ist Erinnerung, die einfach nicht stirbt.
Clara notiert das auf ein Stück Klopapier, das sie aufhebt wie einen Brief.
Sie hat keine Zettel mehr. Alles ist aufgebraucht, außer dem Gefühl, das nie leer wird. Ich wollte immer wissen, was mit Leuten passiert, die man nicht mehr sucht. Jetzt weiß ich’s.

Niemand redet mehr über Geschirr.
Dabei klirren Tassen lauter als Erinnerungen.
Clara steht im Supermarkt und weint über eine Aktion für Dessertschalen mit Goldrand. 6 für 4, sagt das Schild. 3 kaputt, sagt ihr Herz.
Sie hat die Angewohnheit entwickelt, Porzellan zu riechen, bevor sie es benutzt.„Manchmal riecht es nach Seifenopern, manchmal nach dem Rücken von Menschen, die zu oft gelogen haben.“ Das sagt sie, ohne zu blinzeln, während sie mit einem Bleistift kleine Risse in den Glasuren nachfährt.
Einmal hat sie einen Teller mit Wimperntusche eingerieben,
„damit er sich weiblich fühlt“,
und ihn dann in die Mikrowelle gestellt,
um zu sehen, ob er sich erinnert, wie Wärme funktioniert.
Er explodierte nicht.
Er vibrierte.
Wie ein Liebhaber mit Zahnarztangst.
Später badete sie eine Kaffeekanne in Rosenwasser und stellte sie zu Hackfleisch.
Nicht zur Strafe.
Einfach so.
Weil sie wissen wollte, ob sich Duft und Tod gegenseitig ertragen.
Das Hackfleisch wurde traurig.
Es blühte nicht.
Aber es wuchs ein winziger Schimmelkreis in Herzform.
Clara tanzte darum. Nackt. Leise. Barfuß auf kalten Fliesen.
„Ich glaube, Gabeln haben Angst vor Suppen.“ „Warum?“ „Weil sie darin ertrinken, ohne zu sterben.“
Sie begann, Messer alphabetisch zu ordnen.
Nach der Zahl der Menschen, die sie spiegelten.
Sie beschriftete sie mit Namen, die sie erfand:
Heinrich. Natascha. Der Dritte von links. Der eine, der noch zuckt.
Im Bad hängen jetzt zwölf Teetassen an Nylonfäden.
Sie schlagen gegeneinander, wenn man heizt.
Clara nennt es: „Orakel des Unbenutzten.“
Am Abend massiert sie sich Butter in die Kniekehlen und liest IKEA-Kataloge von 2003.
Nicht aus Nostalgie.
Nur um zu sehen, wie Möbel damals noch nicht wollten, dass man in ihnen weint.
Draußen stirbt eine Amsel.
Drinnen riecht es nach Rosen und Tierkadaver.
Clara lächelt.
Sie weiß jetzt:
Nicht jeder Duft will gemocht werden.
Manche wollen nur überleben.


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Kommentare zu diesem Text


 S4SCH4 (16.06.25, 00:58)
Der cut zur Festplatte, der Datei, die der Autor immer wieder bemüht ist ermüdend, aber das ist auch schon alles. Ansonsten ist es eine spannende Fahrt durch die Frage: „Hat der noch alle Tassen im Schrank?“ Manche riechen am Leben, manche stechen mit ihrer Nase hinein, manche lassen sie operieren, um riechen und stechen zu können. Der Autor braucht diese SchöhnheitOP nicht, er hat seinen Frieden gefunden, er besucht nicht länger, er stößt mit Wodka an, und das mit findigen Halva- Russen, die jenen Klaren Sprit in Dessertschalen gefüllt haben.

Kommentar geändert am 16.06.2025 um 06:25 Uhr

 autoralexanderschwarz (16.06.25, 10:02)
Sehr schön. Ein lyrischer Akkord.

 FrankReich (16.06.25, 11:02)
Der Titel wäre nicht mehr fraglich, wenn das erste Verb hinter dem ersten Substantiv stünde, stehen würde oder wie auch immer stände, zudem ihm der Tausch des Indefinitpronomens "man" und des Negationspartikels "nicht" durch das Indefinitpronomen "niemand" bzw. "keiner" besser bekäme als auch bekommen würde und nimm mal das letzte Komma da weg.👋🙂

 Isensee meinte dazu am 16.06.25 um 11:25:
Danke, passt besser ja.

 franky (16.06.25, 11:35)
Ein Text, den man andächtig lesen sollte,
um dann Gut und Böse punktgenau bewerten zu können.
Das hat jedoch seine Tücken!  
 

Grüße von Franky

 Tula (16.06.25, 12:35)
Hallo Isensee
Ich stimme zu, ein schöner und nachdenklich stimmender lyrischer Prosatext.
Kritisch würde ich bemerken , dass er (mir persönlich) stellenweise vielleicht zu weit abschweift bzw. in der erzählten Geschichte hin- und herpendelt. Ein bissel kürzer wäre noch wirkungsvoller.

LG Tula
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