Die Tragikomödie im Trachtenstaat – Ein Requiem in C-Moll für den österreichischen Vernunftverstand

Text

von  Isensee

Die Glocken läuten. Nicht zum Angelus, sondern zum Exorzismus der Realität. Graz hat Trauer. Graz hat Schmerz. Graz hat… Eventcharakter.
Ein Lichtermeer auf dem Hauptplatz – als wäre Weihnachten in den Tod gestolpert und hätte sich dabei noch die Kerze am eigenen Pathos verbrannt.
Hunderte Menschen, Tränen in den Augen – nicht alle, aber genug für das perfekte Drohnenbild in der Tagesschau. Die Kamera zoomt rein, als wäre das Elend eine Operette. Und der Chor der Betroffenheitsästhetik singt im Dreivierteltakt.
Alexander Van der Bellen, normalerweise Österreichs schlafwandelnde Analogantwort auf ein Meditationskissen, ringt um Worte – was ungefähr so selten ist wie ein Oaschloch beim Opernball. Und weil die Sprache versagt, übernimmt das Gedenken: Gedenkminute, Gedenkbanner, Gedenkfähnchen auf Halbmast.
Ach, wie nobel die Republik in ihrer Schockstarre badet! Eine Art politisches Kneippen im Blutbad des Versagens.

Der Bundeskanzler, Christian Stocker, klingt wie eine schlecht gecastete Nebenfigur in einer Netflix-Serie über Verwaltungsbeamte im frühen Pensionsalter. Er redet vom „dunklen Tag“, was angesichts des Tatorts – einem Gymnasium – fast schon ironisch klingt. Bildungsferne meets Bleikammer.
Und während die FPÖ und KPÖ – also Braun und Rot wie ein historisch hochproblematischer Linseneintopf – sich gegenseitig auf die Schulter klopfen in stiller Einigkeit („Heute keine Politik!“), fragt sich der denkende Mensch im Off:
Wann dann, ihr Piefgesichter in Trachtenwesten? Wann darf denn endlich politisch gedacht werden, wenn nicht nach einer politischen Katastrophe?
Denn was ist ein Amoklauf, wenn nicht ein staatlich zertifizierter Systemfehler mit Einzelausführung?

Und jetzt kommts:
21 Jahre alt, arbeitslos, waffenscheininhaberisch, psychisch offenbar belastet – und natürlich ehemaliger Schüler dieser Schule.
Das ist kein Täterprofil. Das ist ein Brandbrief an eine Gesellschaft, die so betriebsblind ist, dass sie den Feuerlöscher erst greift, wenn der Dachstuhl auf Mordbrennmodus steht.
Aber Österreich so: „Das war wohl ein Einzelfall. Ein verwirrter junger Mann. Leider tragisch.“ Bissl Mobbing, bissl Waffen, bissl Tod. Bissl Betroffenheit. Bissl Beisetzung. Bissl wieder vergessen.

Denn seien wir ehrlich: Das Lichtermeer von Graz ist morgen schon ein Plakatständer für das Stadtfest 2025, gesponsert von Red Bull und dem Innenministerium.
Die Schüler kehren zurück in den Unterricht, wo sie wieder Vektoren und Van der Bellen auswendig lernen dürfen.
Die Politiker kehren zurück in ihre Pressesprecherbüros und formulieren den nächsten „Es war keiner schuld“-Sermon.
Und die Polizei, ach Gott, die liest noch immer den Abschiedsbrief. Mit Mühe. Denn darin steht nichts über Motivation, nur über Ohnmacht. Und über Österreich.
Und vielleicht, ganz vielleicht, müsste man die Glocken nicht nur zum Trauern läuten.
Sondern auch zum Aufwachen.
Aber das wär dann ja Politik.
Und die hat ja heute keinen Platz.


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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (15.06.25, 20:13)
Schade, Isensee, daß die großen KV-Demokraten es nicht wagen, deinen Text hier zu diskutieren, dafür an anderer Stelle große Töne von sich geben, unter Texten, deren Autor dich gesperrt hat, weshalb man sich ungestört wechselseitig seine Großartigkeit versichert. 

Das ist noch kranker als das, was du in deinem Text beschreibst.

 Redux meinte dazu am 15.06.25 um 20:28:
Verlo hat mal wieder Langeweile und Bock auf Rauferei. Gibt es keinen Fjord zum Schwimmen?

 S4SCH4 antwortete darauf am 15.06.25 um 21:15:
"Geweint haben wir, mein Schatz. Geweint, weil wir so alleine waren. Und wir haben vergessen, wie Brot schmeckt, wie Bäume flüstern, wie der Wind streichelt, sogar unseren Namen haben wir vergessen... mein Schatz!"
Zitat aus HdR Rückehr des Königs.

Das ist einfach wer "fedup with kommerzielles Mitleid", und sucht nach etwas wahrem daran, findet nichts und wird noch fedupper. Ich wünschte ich könnte etwas liefern, das "es" befriedigt, aber vielleicht müsste man bei sich selbst anfangen. Wer sich selbst nicht liebt, wie solle ... (das sage ich nicht nur zum Autor, sondern auch mir gerne, aber genug der Einsicht.) Frage ist: was steht im Vordergrund, die Politik oder die menschliche "VErwertung".

 Jack (15.06.25, 22:00)
Wahrscheinlich war der Junge bloß involuntär zölibatär; nicht jeder Amoklauf ist gesellschaftskritisch.
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