Literarische Rätsel. Der Held trägt Farbe

Ansprache zum Thema Bildung/ Wissen

von  EkkehartMittelberg

Diesmal handelt es sich um einen der bedeutendsten Bildungsromane in deutscher Sprache. Er trägt autobiografische Züge. Sein Autor war als Maler gescheitert. Es gibt zwei Fassungen. Die zweite geht Fragen nach, die in der ersten unbeantwortet blieben.

Kindheitserinnerungen des Protagonisten, sein Berufswunsch, Maler zu werden, die Liebe zu zwei sehr unterschiedlichen Frauen und seine Beziehung zur Mutter spielen in dem Roman eine große Rolle.

Der Held verschuldet sich immer wieder und kann die Schulden nur mit Hilfe seiner Mutter begleichen. Er muss einsehen, dass er für den von ihm gewünschten Beruf nicht talentiert genug ist.

Nach Lehr- und Wanderjahren von sieben Jahren kehrt er in äußerster materieller Not in seine Heimat zurück. (Ich beziehe mich jetzt auf die zweite Fassung des Romans.) Dort kann er noch die letzten Atemzüge seiner sterbenden Mutter begleiten. In ihrem Nachlass findet er einen Brief vor, in dem sie darüber nachdenkt, ob sie ihren Sohn falsch erzogen habe, indem sie ihm zu viele Freiheiten gewährte, statt ihn einem Erwerbsberufe zuzuführen. Der Held holt das aus Sicht der Mutter Versäumte nach und wird in einem bürgerlichen Beruf Oberamtmann der Gemeindeverwaltung.

Er entscheidet sich jetzt zwischen den beiden Jugendlieben für die im bürgerlichen Sinne realistischer denkende Frau.

Ich habe die drei bedeutenden Bildungsromane in deutscher Sprache gelesen. Dieser hat mir deswegen besonders gefallen, weil er, ohne zu moralisieren, keinen Irrweg des Protagonisten auslässt.



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (24.06.25, 06:55)
Lieber Ekki,

kaum zu glauben: Selbst vor der Gründung des Bündnis 90/Die Grünen gab es mancherorts eine Vorliebe für diese verheißungsvolle Farbe.
Selbst in dunkelsten Keller-Löchern!

Lächelnde Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.25 um 08:44:
Merci, Piccola,
ob heute in unserer Wohlstandsgesellschaft noch welche diese Kellerlöcher kennen?

Liebe Grüße
Ekki

 Saira (24.06.25, 15:38)
Hallo Ekki,
 
M. schildert schonungslos die Zweifel, das Scheitern und die Suche nach Identität, ohne zu moralisieren oder zu beschönigen. Gerade das macht "A. R." zu einem so modernen und lesenswerten Bildungsroman.
 
Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.06.25 um 16:27:
Grazie Sigi,
du hast dich zwar geirrt, aber dein Irrtum korrigiert mich mit meiner Festlegung auf nur drei bedeutende Bildungsromane. Ich hätte den von dir gemeinten "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz miteinbeziehen müssen, dessen Protagonist in anrührender Weise verloren erscheint.
Der hier gesuchte Protagonist wird nach der Farbe seiner Kleidung benannt.

Herzliche Grüße
Ekki

 Graeculus (24.06.25, 15:49)
Ich tippe auf G.H., nicht - wie Saira - auf A.R.
Hoffentlich liege ich damit nicht falsch; aber der Hinweis auf zwei existierende Fassungen scheint mir doch recht eindeutig.

Zu den beiden anderen bedeutenden Bildungsromanen deutscher Sprache zählst Du vermutlich Adalbert Stifters "Nachsommer".
Wenn ich das langweiligste Buch, das ich jemals gelesen habe, nennen sollte, bräuchte ich nicht lange zu überlegen. Es passiert beinahe nichts, und die Figuren bleiben mir gleichgültig. Tue ich diesem Buch Unrecht?

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 24.06.25 um 16:40:
Hallo Wolfgang,
Gtroffa hamma.
Es ist auch richtig, dass ich Stifters "Nachsommer" zu den bedeutendsten Bildungsromanen in deutscher Sprache zähle.
Ich habe bei Albrecht Schöne eine Seminararbeit über diesen Roman geschrieben. Er erschien zunächst allen Seminarteilnehmern langweilig. Aber am Schluss stimmten sie Stifter zu, der in einer Auseinandersetzung mit Hebbel Bildung mit dem langsamen Reifen eines Kornfeldes vergleicht. Als die Intention des Romans deutlich wurde, sah man die Herausforderung der Geduld der LeserInnen mit anderen Augen. Wir öffneten uns mit Stifter für die liebevolle Schilderung von Details.

 Graeculus äußerte darauf am 24.06.25 um 16:53:
Danke.
Du hast bei Albrecht Schöne studiert, dem berühmten Germanisten, der jetzt gestorben ist?!

 Graeculus ergänzte dazu am 24.06.25 um 16:57:
Wäre dies nicht eine Anekdote wert?

Antwort geändert am 24.06.2025 um 17:00 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.06.25 um 17:30:
Ich ergreife die Gelegenheit, sie gleich zu erzählen.  Albrecht Schöne las parallel zu dem Seminar über Stifters "Nachsommer" über die deutsche Aufklärung. Bekanntlich spielt in dieser Zeit Lessings Abhandlung über "Laokoon und die Grenzen der Malerei" eine große Rolle. Schöne fragte mich in einer Fleißprüfung, ob ich das Buch gelesen hätte, dessen Kernaussage ich kannte. Ich log, dass ja. Unerwartet fragte er mich, wie dick denn das Buch sei. Ich bezeichnete mit zwei Fingern einen größeren Abstand, den ich allmählich kleiner werden ließ. Er durchschaute meinen Schwindel sofort und fragte mich grinsend nach der Kernaussage, eine Frage, die ich beantworten konnte.
Am Schluss der Prüfung wollte ich von Professor Schöne wissen, ob ich die Prüfung bestanden hätte. Er nahm ebenfalls zwei Finger und bezeichnete einen größeren Abstand, den er allmählich verringerte. Er schloss die beiden Finger aber nicht, und ich wusste, dass ich seinen Anforderungen genügt hatte.

 Graeculus meinte dazu am 24.06.25 um 17:38:
Schön! Ich hab's gleich einem Freund weitererzählt.

 dubdidu meinte dazu am 26.06.25 um 10:36:
Tue ich diesem Buch Unrecht?


Ja. Nietzsche übrigens hielt es für einen der wenigen Romane deutscher Sprache, bei denen sich mehrmaliges Lesen lohnt.

 Graeculus meinte dazu am 26.06.25 um 10:52:
Dann bewundere ich Deine Geduld. Daß Nietzsche es tatsächlich mehrmal gelesen hat, glaube ich eher nicht; der hat auch schonmal gerne einen flotten Spruch rausgehauen.

 Graeculus meinte dazu am 26.06.25 um 10:57:
Möglicherweise ist das Lesen dieses Buches soetwas wie eine meditative Übung. Das könnte meine Abneigung erklären.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.06.25 um 11:11:
Wolfgang, Stifters Nachsommer ist im doppelten Sinne des Wortes ein Bildungsroman, weil er zum einen den Bildungsgang des Helden aufzeigt und zum anderen den Leser im Sinne des "Sanften Gesetzes" (Stifters literarisches Credo) zu einem verweilenden Lesen zu erziehen versucht.

 dubdidu meinte dazu am 26.06.25 um 15:50:
Ob er es mehrmals gelesen hat, wissen wir nicht, dass er ausdrücklich zu den Werken zählt, die es wert sind, mehrmals zu lesen, hat er niedergeschrieben. Ich meinerseits finde es durchaus nachdenkenswert, dass der Roman gerade von Autoren, die sich ihren Namen nicht durch Konventionalität gemacht haben (Nietzsche, Krauss, Bernhard, Handke) gelobt wird. 

Graeculus, vielleicht liegt es daran, dass du den Nachsommer mit einer Erwartungshaltung gelesen hast, die darin nicht befriedigt werden kann und es auch nicht soll. Die Katharsis ist (analog zu Ekkis Kommentar) nur erfahrbar, indem man den Weg des Helden tatsächlich geht. Aus meiner Sicht sind Stifters Beschreibungen im Vergleich zu etwa denen Thomas Manns nicht redundant.

 dubdidu meinte dazu am 26.06.25 um 18:05:
Ekki, danke übrigens für die Hintergrundinformationen. Ich habe mich mit Stifters Credo (könnte man es pädagogische Ästhetik nennen?) nicht beschäftigt, lese nur den Roman und ich finde sanftes Gesetz überaus passend im Hinblick auf mein Leseerlebnis.

 Saudade meinte dazu am 26.06.25 um 18:15:
@Graeculus: Ich halte Stifter auch nur sehr schwer aus. Das ist österreichische Landschaftsmalerei (Stifter war auch Maler) und fast bin ich froh, das gefragte Werk nicht gelesen zu haben.

 Graeculus meinte dazu am 26.06.25 um 18:33:
Daß es sich um eine Einführung in eine meditative Haltung handelt, leuchtet mir ein. Ist aber nichts für mich, bin zu unruhig dazu.
Daß es eine Art literarischer Landschaftsmalerei ist, leuchtet mir ebenfalls ein. Aber auch das halte ich nicht länger als zehn Minuten aus. Dann sehe ich nur noch das, was nicht zu sehen ist: Menschen, Handeln, Hoffen, Bangen, Scheitern. 
Selbst drei Stunden lang Wladimir und Estragon um einen verkrüppelten Baum herumstehen sehen und dummes Zeug quatschen hören, ist spannender.

(Eine der seltenen Ausnahmen ist für mich Caspar David Friedrichs Gemälde "Die gescheiterte Hoffnung": riesige Eisberge und darin ein kleines, havariertes Schiff.)

 Saudade meinte dazu am 29.06.25 um 13:06:
Je älter ich werde, desto bedachter darauf, dass mir nichts und niemand meine kostbare Lebenszeit stiehlt. Ich bin mit jedem Wort geistig bei dir. Ich sitze im Garten und lese Dostojewski. Endlich Zeit für das Schöne.

 Graeculus meinte dazu am 29.06.25 um 13:47:
Genau das war für mich die Stifter-Lektüre: 1. Was es so alles gibt! 2. Verschwendete Lebenszeit.

Einen Garten besitze ich nun nicht; aber sobald die Sonne den Balkon verlassen hat, sitze ich dort mit einem Eistee und lese - derzeit: "Jahrmarkt der Eitelkeit" von William M. Thackeray. Wunderbar ironisch und psychologisch einfühlsam.
Das 19. Jhdt: die Entdeckung der Psychologie in der Literatur. Darin berühren sich auch Thackeray und Dostjewskij, wobei letzterer seltener lächeln läßt.

 dubdidu meinte dazu am 29.06.25 um 14:33:
Nun, was verschwendete Lebenszeit kann offenbar individuell sehr verschieden sein. Ich genieße jede Sekunde meiner Stifter-Lektüre und ihres Erkenntnisreichtums.

 Saudade meinte dazu am 29.06.25 um 14:38:
Sowieso.
Dostojewski ist keine Sommerlektüre - falls es sowas gibt - aber ich habe nur im Sommer Zeit, das nütze ich aus.

Antwort geändert am 29.06.2025 um 14:41 Uhr

 harzgebirgler (25.06.25, 17:44)
Hallo Ekki,

er malte sich einst selbst wohl mit zehn Jahren (siehe Bild unten) und sein teils autobiographischer Romanprotagonist, Heinrich Lee, trägt den Spitznamen „Grüner Heinrich“, weil seine Kinderkleidung aus den grünen Uniformen seines früh verstorbenen Vaters geschneidert wurde.

LH
Henning

  
   https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Keller#/media/Datei:Gottfried_Keller_Kinderzeichnung.jpg

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.06.25 um 11:14:
Merci, Henning, dafür, dass du jetzt den Grund für die Wahl des Titels von Kellers Roman aufgeklärt hast..

LG
Ekki
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