Ohne Fleiß kein Preis

Anekdote zum Thema Bildung/ Wissen

von  EkkehartMittelberg

Während meines Studiums der Literaturwissenschaft gab es noch sog. Fleißprüfungen. Wenn man sie bestand, entfiel je nach Bundesland ein unterschiedlich hoher Prozentsatz der Studiengebühren.                                         
                        Ich hörte damals bei Professor Albrecht Schöne eine Vorlesung über die Literatur der Aufklärung und beschloss, mich von ihm prüfen zu lassen. Mir wurde sofort klar, dass diesem Professor das Verständnis seiner Vorlesung viel wichtiger war als fleißiges Lernen. Aber er war verpflichtet, die Fleißprüfung durchzuführen.
Er fragte mich zunächst, welches Buch seiner Vorlesung mein besonderes Interesse gefunden habe und ich war unvorsichtig genug, den vielleicht wichtigsten, aber verfänglichsten Text zu nennen und erwähnte Lessings „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“. Um zu testen, ob ich das umfängliche Werk wirklich gelesen hatte, wollte er wissen, wie „dick“ das Buch sei. Ich wusste es nicht mehr genau und sagte, das komme auf die Ausgabe an. Der pfiffige Professor lächelte mich an und beharrte auf seiner Frage: „Wie dick war denn Ihre Ausgabe“? Ich grinste ihn an, nahm Daumen und Zeigefinger zur Hilfe und zeigte eine Buchhöhe von 0,5 cm an, die ich mit dem Zeigefinger langsam auf drei cm vergrößerte  und wieder auf 0,5cm zusammenschrumpfen ließ. Der Professor verkniff sich die Bemerkung, dass ich es nicht wusste, und fragte mich dann, worum es denn in diesem Buch gehe.
Dieser Frage war ich gewachsen und antwortete zu seiner Zufriedenheit etwa dies: Die kunsttheoretische Schrift ist 1766 entstanden. Lessing wollte die grundlegenden Unterschiede zwischen bildender Kunst und Literatur illustrieren. Er hatte die spätantike Laokoon-Gruppe im Blick und verglich sie mit Vergils Erzählung der Ereignisse um Laokoon. So begründete er seine These, dass die Poesie die geistigere und weitere Kunst sei und dass ihr gegenüber der bildenden Kunst ein Vorrang zukomme.
Am Ende der Prüfung fragte ich den Professor, ob ich sie bestanden hätte. Nun lächelte er wieder, nahm Daumen und Zeigefinger und bezeichnete einen Umfang, der zwischen 0,5 und 3cm schwankte.

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Kommentare zu diesem Text


 Létranger (13.08.21)
Gut erzählt.

Der Professor wurde mir im kurzen Verlauf der Geschichte sehr sympathisch in seiner listig humorvollen Art.

LG Lé.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.08.21:
Merci, Le, er gehörte zu der Minderheit von Professoren, die man sich mit Talar und Muff darunter nicht vorstellen konnte.
LG
Ekki

 Graeculus (13.08.21)
"Der Vogel, dünkt mich, hat Humor."
Ein sympathischer Professor, eine gut auf die Pointe hin erzählte Geschichte.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 13.08.21:
Gracias, Graeculus, manchmal schafft das Leben Pointen, die man nur nacherzählen muss.

 TassoTuwas (13.08.21)
Hallo Ekki.
wer sich in eine schnelle Notlüge flüchtet, sollte wissen, dass es oft viel Fantasie und Witz braucht, um schadlos zu bleiben. Das war hier der Fall.
Eine sehr amüsante Anekdote!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 13.08.21:
Merci, das stimmt, Tasso , auf dem Eis von Notlügen ist schon mancher ausgeglitten.
Herzliche Grüße
Ekki

 Regina (13.08.21)
Der Professor zeigt hier, dass er die Lügenstrategie erkannt hat. In Examen ist zwar das Lügen nicht unbedingt verboten, aber oft ungünstig, weil es die Notwendigkeit, weiterzulügen, mit sich bringen kann.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 13.08.21:
Grazie, so ist es, Gina. Gibt es ein Wort für meine Antwortgeste? Ich habe ja dem Professor durch die Blume zu verstehen gegeben, dass er meine Antwort nicht auf die Goldwaage der Wahrheit legen möge und er hat mich verstanden.
Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (13.08.21)
Da hast Du Dich gut durchgehechelt. Kompliment. LG

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 13.08.21:
Danke, Armin, ein humorloser Professor hätte mir mindestens einen Verweis erteilt.
LG
Ekki
Nola (53)
(13.08.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.08.21:
Grazie, das freut mich , Nola.
Liebe Grüße
Ekki

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.08.21:
Grazie, das freut mich , Nola.
Liebe Grüße
Ekki

 FrankReich (13.08.21)
Eigentlich habe ich diesem Mann hinterhergegoogelt, um mir einen Einblick über sein Wirken zu verschaffen, i. e. wie er so drauf war und Deine Anekdote hat nicht zuviel versprochen, was mich jedoch noch mehr erstaunte, ist, dass er offensichtlich plant, die Einhundertjahresmarke zu sprengen. 🙂👍

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.08.21:
Merci, Frank, hier kommen hohe Verdienste und ehrwürdiges Alter zusammen. Mit seinen Veröffentlichungen zu Barock, Aufklärung und Weimarer Klassik gehört Albrecht Schöne zu den bedeutendsten Literaturwissenschaftlern Deutschlands.

LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (14.08.21)
(...) und fragte mich dann, worum es denn in diesem Buch gehe.
Nur soviel: In meinem Studium hätte ich mir gewünscht, dass diese Frage öfters gestellt worden wäre - und zwar nicht nur mir!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.08.21:
Ja, Trekan, besonders die Geisteswissenschaften haben darunter gelitten, dass sie sich in nutzlosem Detailwissen verloren.

 harzgebirgler (14.08.21)
...doch der forsche prüfling hat
sicher gehabt den gebührenrabatt.

toll geschrieben & gerne gelesen!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.08.21:
Vielen Dank, Henning, diesen Gebührennachlass musste ich mir einige Semester lang sauer verdienen.

LG
Ekki
wa Bash (47)
(14.08.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.08.21:
Merci, das stimmt. Sie hat auch den Vorteil, dass man nichts gesagt hat.
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