Norbert - draußen vergessen

Satire zum Thema Unachtsamkeit

von  Saira

Ingrid, das Paradebeispiel der modernen Multitaskerin, verhandelte mit einer nicht enden wollenden Anmut zwischen Haushalt, Job und ihrem geradezu omnipräsenten Pflichtbewusstsein als Mutter zweier Geschöpfe – dem zehenjährigen Norbert und der sechzehnjährigen Lisa. Ihr Gemahl, ein ebenso zerstreuter Hans Dampf in allen Gassen, befand sich in einem permanenten Zustand der Überforderung; seine Männlichkeit offenbarte sich oft nur in der Fähigkeit, den Fernseher und die Fernbedienung simultan zu bedienen.

Eines Wintertages, während ich Ingrid bei einer Tasse Kaffee besuchte und wir über die neuesten Deko-Trends für ihre chaotische Wohnung diskutierten, fiel mein Blick auf Norbert. Er stand draußen auf dem Spielplatz, mit einem Schal um sein Gesicht gewickelt, der ihn eher wie einen kleinen Eskimo denn wie ein Kind aussehen ließ.

„Woher hat Norbert diese schwarzen Flecken im Gesicht bekommen. Sind sie angeboren?“, fragte ich Ingrid. Sie grinste verlegen und erzählte mir von den Winterabenteuern des kleinen Norbert, der mehr Zeit draußen verbrachte, als es Überlebensbedingungen zuließen. „Ich habe ihn einmal im Winter einfach vergessen“, gestand sie unverblümt, als wäre es ein kleiner Fauxpas beim Kochen. „Er war sechs Monate alt, und ich dachte nur kurz ans Staubsaugen.“ Ein Bild von einem fröstelnden Baby, das auf dem Balkon ausharrt, schwebte durch den Raum wie ein gescheiterter Witz – keiner lachte, aber niemand wusste auch, wie man weinen sollte.

Und dann war da noch die Einkaufsgeschichte: Ihr Mann hatte Norbert, damals gerade zwei Jahre alt, in seinem Buggy vor dem Geschäft stehen lassen, während er die Einkäufe nach Hause brachte. Erst dort angekommen, fiel ihm das „kleine Detail“ auf – das Kind, das bei herbstlicher Kälte noch immer vor dem Laden wartete. Norberts Wärmeschutz war verrutscht, und so zog er sich einen weiteren Frostschaden zu.

Ingrids unkonventionelle Erziehung glich einem sozialen Experiment ohne ethische Auflagen. „Man muss die Kinder auch mal hart rannehmen“, erklärte sie mir mit einem Lächeln. Entsetzt überlegte ich ernsthaft, das Jugendamt zu informieren, doch Ingrid trumpfte bereits mit der neuesten Information auf: Der Arzt, der Norbert behandelte, hatte das Jugendamt eingeschaltet und sie gebeten, zukünftige Frostbeulen zu vermeiden

Ingrid, die stets das Gefühl hatte, alles gleichzeitig tun zu müssen, hinterließ eine Spur von Chaos und Erfrierungen, während sie Versprechen machte, „bald besser darauf zu achten“. 

Kurz darauf brach ich den Kontakt zu Ingrid ab. Das ist Jahrzehnte her, doch ich frage mich manchmal, wie es Norbert geht – ob er noch die frostigen Missverständnisse seiner quirligen Mutter überlebt hat oder ob er in der Kälte der Ignoranz verloren ging. 

 

 

 

 

 

©Sigrun Al-Badri/ 2025




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Kommentare zu diesem Text


 lugarex (30.07.25, 11:03)
tja, was sollte man dazu sagen?

 Saira meinte dazu am 30.07.25 um 18:36:
Moin luga,
 
manchmal sagt ein „Tja“ mehr als tausend Worte.
 
Danke und liebe Grüße

Saira

 plotzn (30.07.25, 12:11)
Ich hoffe, das ist nur eine erfundene Geschichte, liebe Sigi. Aber man liest ja auch immer wieder von Kleinkindern, die bei praller Sonne im Auto gelassen werden...

Liebe Grüße
Stefan

 Saira antwortete darauf am 30.07.25 um 18:37:
Moin Stefan,
 
ich schwöre: Kein Norbert wurde bei der Entstehung meiner Satire eingefroren, obwohl die Geschichte tatsächlich so geschehen ist, nur dass der Junge, um den es ging, anders hieß.
 
Danke und liebe Grüße
Sigi

 Teo (30.07.25, 13:11)
Tach Sigi,
ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Das könnte durchaus stimmen.
In Bayern gab es vor über 50 Jahren einen vergleichbaren Fall. Der Kleine wurde einfach mehrmals draußen vergessen. Einfach so, bei Regen bei Eiseskälte. Ja...und dann bekam der auch schwarze Flecken...und gelbe.
Der Jung war völlig fertig.
Der wohnt jetzt irgendwo in Hessen.
Der arme Kerl.
Ne wirklich...Schöne Geschichte.
Lustige Grüße 
Teo

 Saira schrieb daraufhin am 30.07.25 um 18:39:
Tach Teo,
 
och nee, du meinst doch nicht etwa…  :dizzy:
 
Dropsi, Dropsi

 Regina (30.07.25, 14:45)
Hätte ein Kind nicht normalerweise angefangen zu brüllen, sobald es gefroren hätte?
Ansonsten regt deine Geschichte dazu an, über die viel diskutierte Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf neu nachzudenken.

 Graeculus äußerte darauf am 30.07.25 um 15:24:
Gut möglich, daß den Kindern das Schreien einmal vergeht, wenn niemand darauf reagiert. War das nicht sogar mal eine Erziehungs- bzw. Konditionierungsmethode?

Meine Mutter hat mir diese Geschichte erzählt; ich selbst kann mich nicht mehr an sie erinnern.
Nach der Geburt 1949 im Bilker Martinus-Krankenhaus (katholisch) trennte man nachts die Neugeborenen von ihren Müttern. Das führte dazu, daß die Säuglinge viel schrien. Damals galt dies wohl als pädagogisch sinnvoll. Ich sei ein stilles Kind gewesen, das nicht schrie, sagte meine Mutter. Eines Nachts aber habe ein Kind durchgehend, die ganze Nacht über geschrien. Am Morgen fragten die Mütter, welches Kind das denn gewesen sei.
„Diesmal war’s der kleine Weimer“, berichtete die Krankenschwester.

Antwort geändert am 30.07.2025 um 15:25 Uhr

 Graeculus ergänzte dazu am 30.07.25 um 15:27:
Gut möglich, daß neben mir eine kleine Ingrid lag, die unter solchen Umständen früh etwas über das Leben und den Umgang mit Kindern in Not gelernt hat.

 Saira meinte dazu am 30.07.25 um 18:41:
@Regina
Hallo Regina,

normalerweise hätte ein Kind zu schreien angefangen, aber es gibt auch Kinder, die still leiden, weil sie gewohnt sind, nicht gehört zu werden.
 
Ich hatte einmal einen kleinen Jungen namens Sven, ein Heimkind, für ein paar Tage in meiner Obhut. Er war das Pflegekind meiner Schwester. Ich bin in einer Notsituation eingesprungen, und so war der Kleine, in Absprache mit dem Jugendamt, bei mir. Mein Sohn war damals sechs Monate alt und Sven acht Monate.
 
Beide Kinder wurden von mir gleichbehandelt, keiner wurde bevorzugt. Sven war ein ruhiger Junge und für jede Aufmerksamkeit dankbar. Seine Augen leuchteten dann.
 
Er hatte alte Verletzungen, die ihm von seinen leiblichen Eltern zugefügt worden waren, und schwere Hautprobleme. Beim Wickeln war ich besonders vorsichtig, ebenso beim Spielen und Tragen … Er muss dennoch manches Mal Schmerzen gehabt haben. Er weinte nicht, aber ich habe geweint.
 
Den Blick dieses Jungen habe ich nie vergessen.
 
Sven ist leider nicht bei meiner Schwester geblieben. Sie war mit dem Jungen überfordert.

@Graeculus
Es gab auch so blöde Sprüche, an die ich mich erinnern kann:
„Man muss Babys schreien lassen, damit sich ihre Lungen entwickeln können!“
Oder:
„Sie müssen rechtzeitig lernen, dass sie mit Schreien nichts erreichen!“

 
Klein-Ingrid neben Klein-Wolfgang … was für eine Vorstellung  :)

 Janna (30.07.25, 15:50)
Ob der Text nun erfunden ist oder wahr: In einer Welt, in der Kinder von Erziehungsberechtigten missbraucht und misshandelt werden, werden sie mit Sicherheit auch von manchen Eltern vergessen. Traurig, aber sicher schon des öfteren geschehen.

Liebe Grüße

Janna

 Saira meinte dazu am 30.07.25 um 18:44:
Danke, Janna, für dein Feedback!

Es fällt mir schwer, über solche Themen zu schreiben, aber ich finde es noch schwerer, es nicht zu tun. 
Kein Lebewesen dürfte misshandelt und missbraucht werden. Zu wissen, dass es täglich x-mal geschieht, ist kaum zu ertragen.
 
Liebe Grüße
Saira

 diestelzie (30.07.25, 16:52)
Ich denke, Norbert hat überlebt, ist liiert mit einer Frau, die seiner Mutter ähnelt und vergisst manchmal, dass er Kinder hat. Traurig, aber leider nicht mal so selten, dass Kinder in einer kalten Welt aufwachsen und das irgendwann als normal empfinden.

Nachdenkliche Grüße
Kerstin

 Saira meinte dazu am 30.07.25 um 18:45:
Liebe Kerstin,
 
nur wenige Kinder schaffen es, den Kreislauf zu durchbrechen.
 
Traurige Grüße
Saira

 TassoTuwas (31.07.25, 10:41)
Guten Morgen Sigi,
gestern Satire, heute Alltagsgleichgültigkeit?

Neulich, ich bin mit der Bahn unterwegs, schräg gegenüber sitzt eine junge Frau vor einem Kinderwagen, seit Beginn der Fahrt blickt sie starr auf ihr Händy. Die Augen des Kindes irrend suchend durch den Raum, die Blicke der meisten Reisenden sind ebenfalls auf die Displays gerichtet. Das Kind schaut mich an, irgendwann lächle ich, hebe die Hand ganz wenig und bewege die Finger. Das Kind lächelt zurück, nein es strahlt. Keiner hats bemerkt.

Flecken sind nicht immer sichtbar.

Herzliche Grüße
TT

 Saira meinte dazu am 31.07.25 um 12:43:
Lieber Tasso,
 
dein Kommentar schlägt eine Brücke von der frostigen Satire zu einer sehr realen, emotionalen Kälte, die uns alle betrifft. Ingrid vergisst ihr Kind im Winter, ihr Mann lässt es vor dem Laden stehen … das sind extreme Bilder, die schockieren und zum Nachdenken anregen sollen. Doch wie du so treffend schilderst, ist die Kälte heute oft weniger offensichtlich: Sie zeigt sich in der Abwesenheit von Blicken, in der Isolation trotz Nähe, in der Unfähigkeit, sich auf das Gegenüber einzulassen.
 
Deine kleine Geste im Zug - das Lächeln, das Winken - ist ein Akt der Wärme, der zeigt, dass es auch anders geht. Die Flecken, die wir hinterlassen, sind manchmal unsichtbar, aber sie prägen dennoch das Leben der Kinder – und unser eigenes.
 
Herzliche Grüße
Sigi
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