I'll Survive

Text zum Thema Abgrund

von  ZornDerFinsternis

Tausende, abertausend winzige Bläschen sprudeln im Glas auf. Sie schraubt den Deckel der grünen Plastikflasche zu, stellt sie auf dem dreckigen Teppichboden des Zimmers ab. Ihre Haare hängen im Gesicht, man kann den Schmerz in ihren klaren, grünen Augen genau lesen. Das Fenster steht gekippt. Der Aschenbecher neben dem Bett ist mehr als voll. Leere Kippenschachteln und Schnapsflaschen liegen quer verstreut im Raum. Der kleine Vorhang weht leicht im Wind. Draußen ist es dunkel. Nur ein paar vorbeirauschende Autos zeugen von Leben – zumindest außerhalb. Sie hebt das Glas an ihren zarten Mund. Ihre Lippen umschließen vorsichtig die Kante des Glases. Gedanken brausen in ihrem Kopf auf. Wieder die gleichen, alten Bilder. Wieder nur diese Leere im Innern. Sie schluckt. Stellt im selben Moment das Glas beiseite. Es ist kalt geworden, aber das kümmert sie nicht. Sie müsste bloß aufstehen, zwei Schritte vom Bett aus tun, sich über den Schreibtisch beugen, auf Zehenspitzen stehen und das Fenster schließen. Aber sie tut es nicht. Kälte ist ein wärmendes Gefühl. Wenn alle anderen Gefühle einem nichts mehr bedeuten. Sie denkt oft an den Sommer. Als Kind hatte sie ihn geliebt. Gerne wäre sie ans Meer gefahren. Mit ihren Eltern. Hätte mit nackten Füßen im Sand gestanden. Dass Wasser sich um ihre winzigen Knöchel schlängeln fühlen. Sandburgen bauen. Lachen. Die Sonne ihre Sommersprossen kitzeln lassen. Beißender Rauch steigt auf. Die neue Schachtel ist auch schon fast wieder leer. Sie raucht viel, wenn sie viel denkt. Und ja, sie denkt immer viel. Grübelt viel. Weint viel. Hasst. Hasst vieles. Aber niemanden. Niemanden, außer sich selbst. Tränen können einem das Gefühl von Nähe geben, wenn es im Leben keine Person; keinen Menschen mehr gibt, der das tun wollen würde. Sie schreibt gerne. Texte. Briefe. Gedichte. Sie hat viele Briefe in ihrem Leben geschrieben. Nie eine Antwort erhalten. Der letzte Brief, den sie gestern Nacht geschrieben hat, liegt noch immer irgendwo auf dem Rechner. Auf was-weiß-ich für einer Datei, zwischen Megabyte, Pixel und was-auch-immer. Dieser Brief hat keinen bestimmten Empfänger. Er erfordert, und vielmehr, bedarf, keiner Antwort. Es ist ihre Antwort. Ihre Antwort auf das Leben. Sie greift neben sich. Ihre Hände umklammern zitternd die Glasflasche. Eine klare, streng riechende Flüssigkeit befindet sich darin. Alkohol – hochprozentig. Alkohol kann Schmerzen lindern. Ängste aus dem Weg räumen – zumindest so lange, bis man wieder nüchtern wird. In einem Zug leert sie die Flasche. Mit dem Handrücken wischt sie über die gepiercten, rissigen Lippen. Wenn es doch nur jemanden zum Reden geben würde. Einen, zum in den Arm nehmen. Es bleibt still und kalt in diesem Zimmer. Noch eine ganze Weile sitzt sie da. Kauert sich an die kahle, weiße Wand. Draußen rührt sich nichts mehr. Bloß der Wind haucht durch die wenigen Bäume im Vorgarten. Die Lichter im Wohnblock gegenüber sind nahezu alle ausgestorben. Nur ihr Licht brennt noch. Schwächlich. Kümmerlich. Sie erhebt sich, mit Tränen auf der blassen Haut. Schließt das Fenster. Dreht sich noch einmal um. Eine weitere, leere Wand schreit sie an. Stille umringt sie. Kälte greift mit geisterhaften Klauen nach ihrem Herzen. In ihrer Hand ruht ein kleiner, eiserner Gegenstand. Leichtfüßig tapst sie durch das vermüllte Zimmer. Schließt die Tür hinter sich. So endgültig, als sei es für immer. Sie dreht sich nicht um. Kein Blick über die Schulter – kein Zurück mehr. Mit einer Handbewegung tätigt sie den Lichtschalter und es wird dunkel. So finster und still, wie es in ihrem Innern ist. Sie lächelt. Lächelt in die Dunkelheit hinein. Sie lächelt nur wenn es dunkel ist. Wenn sie lächelt, nur dann, wenn sie traurig ist. Der Gegenstand in ihrer Hand wird von ihr mit vorsichtigen Drehungen bewegt. Es klappt auf – ein Messer. Kein Taschenmesser. Ein Survival-Messer aus dem Armee-Shop. Schon eine merkwürdige Anspielung, dieses „Survival“. Langsam schiebt sie die Ärmel des abgewetzten Sweatshirts nach oben. Wenn er das sehen könnte, würde er sicher wieder lachen. Er hat gerne gelacht. Oft und viel. Dreckig. Besonders gerne, wenn es ihr am schlechtesten ging. Wieder tanzen die Tränen auf ihrem Antlitz. Sie lächelt. Sie lächelt, weil sie verzweifelt ist. Nicht mehr weiter weiß. Nicht mehr weiter kann. Es gibt keine Zukunft, für jemanden wie sie. Heute schon gar nicht. Was soll dann erst morgen sein? Draußen dämmert es. Die Nacht scheint ihre Drohung wahr zu machen und sich dem Ende neigen zu wollen. Es riecht nach Blut. Fast, wie ein neues 5-Cent-Stück. Die Klinge hat sich ins bleiche Fleisch ihres Handgelenks gefressen. Sie weiß wenigstes, wozu sie gemacht wurde. Das hat sie, das hat dieses Mädchen, nie gewusst. Wieder setze ich die Klinge an. Ziehe sie so tief ich kann, durch mein Fleisch. Blut tropft auf den billigen Parkettboden aus dem Renovierungsdiscounter. Erst wenige Tropfen. Dann, langsam, immer mehr. Ein richtiger Schwall. Schwindel packt mich. Müdigkeit nimmt mich schützend in die Arme. Bin zu kraftlos, um stehen zu bleiben. Leben zu bleiben. Falle auf den Boden. Die Schwärze verschwimmt. Die Wände drehen sich – oder drehe ich mich? Ich habe mich viel zu lange im Kreis gedreht. In diesem Teufelskreis, den ihr Leben nanntet.


Anmerkung von ZornDerFinsternis:

Wozu bin ich gemacht...?

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Kommentare zu diesem Text

scalidoro (58)
(14.02.10)
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 ZornDerFinsternis meinte dazu am 14.02.10:
Hab' vielen Dank, Scal. Beeindruckend nicht gerade, es ist nur 'ne Art Betrachtung meiner Selbst. Lg, Anni
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