Kung'Sah

Roman zum Thema Aggression

von  Mutter

In der Nacht wollte Turan zum ersten Mal Wachen aufstellen, aber die beiden Söldner sträubten sich.
‚Ich bin zu Hause, und soll Wache stehen? Anders herum wird ein Stiefel daraus. In der Dynastie hätten wir die Wachen gebrauchen können.‘
Der dicke Händler sprach sich für eine Wache aus, nahm aber offenbar nicht an, dass er selbst dafür in Frage kam.
‚Ich übernehme eine Schicht‘, sagte Bragos und stand auf.
Savena sah zu Turan hinüber und fragte: ‚Warum brauchen wir plötzlich eine Wache? Die Frage ist nicht abwegig.‘
Turan nickte und sagte: ‚Auf dieser Seite des Rückens gibt es Kung’Sah. Ich glaube nicht, dass wir von denen überrascht werden wollen.‘
Weder der Händler noch Savena verstanden, wer oder was „Kung’Sah“ waren, aber offenbar sagte der Name den beiden Söldnern etwas. Es gab einen kurzen Wortwechsel mit Turan in ihrer Sprache, und dann erklärten sie sich bereit, ebenfalls eine Wache zu stellen.
Da auch Savena darauf bestand, eine Schicht zu übernehmen, wurde die Zeit für sie alle erträglich kurz.
Auf Bragos Drängen übernahm sie die angenehme erste Wache, und während die anderen sich in ihre Decken wickelten, ging sie zu Turan.‚Wer sind die Kung’Sah?‘ wollte sie wissen.
‚Gebirgsbewohner. Sie betrachten diese Berge als ihr Land, und haben etwas gegen Fremde. Sie sind unangenehme Gegner, und verstecken ihre Gesichter hinter Ledermasken. Als ich sie das erste Mal gesehen habe, habe ich gedacht, es sind Dämonen oder Geisterwesen. Das ist vermutlich auch der Effekt, den sie erzielen wollen.‘
Savena nickte, auch wenn sie Schwierigkeiten hatte, sich diese Bergbewohner vorzustellen. Sie trat ihre Wache an und suchte sich eine geschützte Stelle. Gedankenverloren starrte sie in die Nacht, in den feucht-schwarzen Himmel, der dort drüben über Erinikia hing. Über Avuto, und über dem Anwesen ihrer Familie. Jetzt lag der Pass zwischen ihnen – es kam ihr vor, als hätte sie eine Tür hinter sich geschlossen. Eine Tür, die sich so schnell nicht wieder öffnen lassen würde.
Die nächsten anderthalb Stunden vergingen schnell, und so wurde sie bald darauf von Bragos abgelöst. Als sie sich zum Schlafen hingelegt hatte, wurde ihr seine Abwesenheit schmerzlich bewusst und ein wenig fröstelnd versuchte sie, sich noch enger zusammenzurollen.
Später in der Nacht konnte sie im Halbschlaf spüren, wie er sich neben sie legte und kuschelte sich sofort dicht an ihn heran.
Am nächsten Morgen machten sie sich an den Abstieg, der sich zunächst schwieriger gestaltete als der Aufstieg. Steile Partien, die zum Teil durch Schnee nicht als solche zu erkennen waren, entpuppten sich als Stellen, die ihnen schnell zum Verhängnis werden konnten.
Turan hatte einige Schritt Seil dabei, mit denen sich der Abstieg zwar verzögerte, aber dafür sehr viel sicherer gestaltete. Meist ließen die Männer mit vereinten Kräften zuerst Lerik, den Händler, hinunter, und dann folgte Savena. Als letzter stieg Turan herab, der nur einen Teil der Strecke durch das Seil von unten gesichert war. Zumeist musste er sich auf seine eigenen Finger verlassen, um Halt zu finden.
Am zweiten Absatz wartete Savena auf das Signal von Lerik, um den Abstieg zu beginnen, als sie von unten einen spitzen Schrei hörten. Turan warf sich sofort auf den Bauch und versuchte, über die Felskante hinab zu sehen, konnte aber nichts erkennen. Sie riefen gemeinsam nach dem Händler.
Nach einer Weile antwortete er, offenbar unverletzt.
Erst als Savena zu ihm abstieg, und er ihr erschreckend bleich berichtete, dass sich auf dem kleinen Felsvorsprung eine Bergziege befunden hatte, konnte sie den Rest der Gruppe beruhigen.
Nachdem die Gruppe wieder beisammen war, weigerte sich Lerik, weiterhin als erster vorzusteigen, und Savena übernahm die Spitze.

Sie kamen gut voran. Die Wolken hatten sich ein wenig verzogen, so dass Savena die kurzen Momente, in denen sie alleine auf den kleinen Absätzen stand, benutzen konnte, um über die vor ihr liegenden Ostlande zu blicken.
Im Nordosten konnte sie die Ausläufer des Eisenkopf-Gebirges sehen, die mit dem Großen Rücken verbunden waren, ihre schroffen Spitzen sanft in weichen Dunst gehüllt. Vor ihnen am Fuß der Berge lag ein großer Teppich dunkelgrünen Waldes, der sich fast bis zum Horizont erstreckte. Savena hatte gewusst, dass der Osamui groß war, größer als alle Wälder, die es noch in Erinikia ab, aber seine Ausmaße übertraf ihre Vorstellung bei weitem. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ende dieses gewaltigen Ozeans je erreichen zu können.
Mit einem Schnaufen landete Lerik neben ihr und sagte: ‚Turan sagt, wir müssten bald das Schlimmste hinter uns haben, und dann können wir uns wieder auf den Pfaden bewegen. Diese Kletterei ist mehr als ich ertragen kann.‘
Savena verbiss sich eine beißende Bemerkung. Sie hatte mit angesehen, wie die Männer zu arbeiten hatten, wenn sich Lerik am Seil hinunterließ. Der Händler kletterte kaum selber, und mehr als einmal hatten sie ihn verflucht, und davon geredet, ihn einfach zu Tal rutschen zu lassen.
Plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrem Arm und drehte sich zu ihm um. Lerik starrte weiter oben in die Wand, und bevor Savena ihn zurechtweisen konnte, erkannte sie, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Auf einem schmalen Pfad etwas oberhalb der Männer, die gerade den Abstieg des ersten Söldners sicherten, bewegten sich dunkle Gestalten auf sie zu. Geduckt und gegen die scharfen Schatten nur schwer zu erkennen, waren sie doch eindeutig menschlicher Gestalt. Savena musste an die Bergbewohner denken, von denen Turan erzählt hatte.
Mit dem Arm winkend und laut rufend versuchte sie, die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen. Nachdem Bragos die Gestalten gesehen hatte, machte er die anderen ebenfalls aufmerksam.
Sofort wies Turan den Söldner an, wieder nach oben zu klettern und sobald er den Vorsprung erreicht hatte, machten die Männer ihre Waffen bereit.
Unruhig sah sich Savena um, und entdeckte einen Weg, von ihrem Absatz aus weiter nach oben zu kommen. Von da, wo sie standen, sah sie keine Möglichkeit in den kommenden Kampf einzugreifen, und obwohl Lerik versuchte, sie davon abzuhalten, machte sie sich daran, dem Pfad zu folgen. Sie konnte nicht mehr sehen, was oben vor sich ging, aber sie hörte wütende Schreie, und das leise Surren von Bogensehnen. Einmal trudelte ein zielloser Pfeil nicht weit von ihr entfernt in den Abgrund, und sie erhöhte etwas das Tempo. Lerik war ihr gefolgt, aber jetzt so weit zurückgeblieben, dass sie ihn nicht einmal mehr hören konnte.

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