Einführung, III

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

Abby Galbraith, vor drei Tagen, 6:55 Uhr

Frühaufsteher. Wie ich sie hasse. Sie kommen herein, von der Tür her schallt das Geräusch einer Schiedglocke. Gesichter, die um sieben Uhr morgens schon frisch rasiert, lebendig, in freudiger Erregung des schönen neuen Tages harren – zum Kotzen. „Einen Kaffee, bitte. Ja, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Und ja, ich sehe, Sie arbeiten in einem 24-Stunden-Diner und sehen mich an, als wollten Sie mich erwürgen, weil ich so gut gelaunt bin, deswegen drücke ich Ihnen noch ein 'schönen Feierabend' hinterher.“
Ich arbeite hier nicht. Aber so stelle ich mir die kleinen Monologe vor, die die Kunden dieser Örtlichkeit in ihren Morgenstundhatgoldimmund-Köpfchen führen. Meine Güte, ich sitze hier, stiere, noch halb im Schlafdelirium, in das bräunliche Wasser, das sie hier Kaffee nennen, und versuche zu begreifen, warum ich die Pfannkuchen mit Ahornsirup überhaupt zu essen gedenke, anstatt sie mit enthusiastischem Schwung in das Gesicht desjenigen zu bewegen, der sie zubereitet hat.
Die Totenglocke kündigt eine weitere verlorene Seele an.
Meine Güte.
Menschen faszinieren mich, und dieser hier ganz besonders. Eigentlich sieht er ganz gut aus. Das Gesicht gut proportioniert, der Körper kraftvoll, breite Schultern, sicherer, energischer Gang, braune Haare, die an den Seiten bereits eine leichte graue Melierung erkennen lassen, hellblaue Augen, denen ein gewisses Stechen zueigen ist.
Unregelmäßige Rasur. Schlecht sitzende Krawatte, die nicht durch einen Pratchett, einen Windsor oder – zumindest – einen Four-in-Hand gehalten wird, sondern eher durch guten Willen und ein Vaterunser. Dazu grauenhaft dunkle Augenringe, in denen ich zumindest eine gewisse Verbindung zu meinem eigenen momentanen Zustand erkennen kann. Rot überdeckt das Weiß seiner Augen fast komplett. Im Näherkommen erkenne ich auch, dass seine Frisur mit der Maschine und vermutlich von ihm selbst geschnitten wurde – am Hinterkopf stehen Haarbüschel teilweise noch in der Länge, die sie ursprünglich hatten. Es ist seltsam – je näher er kommt, desto stärker rechne ich damit, jeden Augenblick seine Ginfahne riechen zu können, doch als er an mir vorbei geht, nimmt meine Nase nur den verblassenden, aus der Welt bereits so gut wie verschieden scheinenden Geruch von Duschgel und den Geruch eines bekannten, zwar relativ teuren, aber gewöhnlichen Rasierwassers wahr. Offenbar ist er noch nicht lange auf den Beinen. Der Duft der Kopfnote des Parfums ist noch nicht so weit verflüchtigt, dass ich sagen würde, länger als eine halbe Stunde.
Der Tresen ist gut von hier gut einsehbar. Der bisher namenlose Charakter bestellt, ich kann nicht hören, was er sagt, doch ich kann seine Lippen sehen.
„Einen großen Kaffee, schwarz, und das große Frühstück. Ich esse hier.“
Damit begibt er sich an den Tisch, der Parallel zum Tresen steht, setzt sich auf die vinylbezogene Sitzbank und beginnt, sich umzusehen, als suche er eine Umgebung ab, die er nicht kennt. Immer wieder im gleichen Schema: Rechts, den Gang überprüfen. Links, den Gang überprüfen. Eingangstür und Fensterfront, linke Wand, rechte Wand. Und wieder von vorne.
Ein Cop. Das wird ja immer spannender. Er trägt einen Ehering, also ist er verheiratet, und im selben Moment überlege ich, ob ich – rein hypothetisch gesprochen – jemals die Frau kennen lernen will, die diesen Schatten eines Mannes geheiratet hat. Ja, Schatten ist eine gute Beschreibung, sie erfüllt in diesem Fall weitaus mehr als nur ihre Rolle als Metapher. Sein Verhalten weist darauf hin, dass er schon eine Weile in dem Job ist. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass er seit drei Minuten weder von seinem Kaffee getrunken noch von seinen Waffeln gegessen hat, geschweige denn sein Ei geköpft, dass er vermutlich eine leichte Paranoia entwickelt oder entwickelt hat. Mr. Smith – so will ich ihn der Einfachheit halber nennen – trägt außerdem eine Armbanduhr, deren Zeiger sich nicht bewegen, also ist es ihm egal und er legt die Uhr aus Routine an. Der Mann hat einen so geregelten Tagesablauf, dass er die Zeit ignorieren kann.
„Sie starren.“
Ich stoße mit dem Knie unter die Tischplatte.
„Verzeihung.“
„Ich muss ja furchtbar faszinierend aussehen.“
Seine Stimme ist ein ans Erregende grenzendes Knurren, aber eben nur fast. Das Bisschen, das fehlt, macht ein gelangweiltes Grunzen daraus.
„Ich war nur neugierig wegen des Frühstücks. Essen Sie öfter hier? Wie sind die Waffeln?“
„Ja. Schrecklich. Sie würden sie nicht essen wollen, glauben Sie mir. Aber ich sehe, Sie haben die Pancakes, also bin ich lieber still und lasse Sie leiden.“
Innerlich lächle ich. Mr. Smiths Humor gefällt mir.
„Wieso essen Sie hier, wenn es Ihnen nicht schmeckt?“ Ich mische ein wenig Gereiztheit in meinen Tonfall, damit er nicht glaubt, mir würde der Smalltalk Spaß machen.
„Ich mag die Kellnerin, Angie. Sie scheint heute nicht... da zu sein.“ Er zögert, weil er sich noch einmal umsieht, dann zuckt er die Achseln und rammt das Messer präzise in das Frühstücksei.
Die Unterhaltung scheint damit gestorben zu sein. Er schneidet das Ei auf, rollt es in eine Waffel ein und streut Salz darüber. Er nippt an seinem Kaffee, scheint ganz normal sein Frühstück einzunehmen, aber irgendetwas stimmt nicht.
Er süßt den Kaffee mit Ahornsirup. Ich bezweifle, dass mir das schmecken würde, aber ich werde es sicher einmal ausprobieren, und vorher erlaube ich mir kein Urteil.
„Mellencamp.“ Knurrt er.
„Wie bitte?“ Ich hasse diese Frage. Ihre Formulierung klingt, als würde man das Gegenüber zu einer Antwort zwingen wollen, weil das „bitte“ nachgeschoben wird.
„Sie starren mich immer noch an, beziehungsweise starren Sie mein Essen an, doch ich bezweifle, dass es sich vorstellen wird, deswegen nenne ich meinen Namen, damit wir beide hier nicht peinlich berührt herausgehen müssen.“
„Peinlichkeit ist ein Produkt menschlicher Etikette.“
„Etikette ist ein Produkt der Zivilisation, und die gefällt Ihnen doch sicher.“
„Ja, aber ich frühstücke auch hier, und das sagt ja wohl genug über meinen Geschmack aus.“
„Sie starren mich seit acht Minuten an, das sagt weit mehr über Ihren Geschmack aus.“
Er versteht es, mich zum Lachen zu bringen. Innerlich. Während ich noch überlege, auf welche der beiden möglichen Bedeutungen seiner Aussage ich eingehen soll, setzt er hinzu:
„Ich frühstücke im Gegensatz zu Ihnen aus Gewohnheit hier. Was schließen Sie daraus?“
„Dass Ihnen Geschmack egal ist.“
„Volltreffer.“
„Also, diese Angie, auf die Sie warten...“
„Ich warte nicht auf sie. Kommen Sie schon, das können Sie besser.“
„Wie sieht sie aus? Vielleicht ist sie früher gegangen, ich sitze hier schon eine Weile.“
„Ich bezweifle, dass Sie hier gewesen ist. Die Jukebox läuft nicht. Wenn Angie hier gewesen wäre, liefe jetzt Eric Clapton. Das beste Frühstücksalbum, das es ihrer Meinung nach gibt, ist 'Backless', und bisher habe ich keinen Grund gesehen, ihr zu widersprechen.“
„I'll make love to you anytime ist die beste Coverversion, die es von einem J.J. Cale-Song gibt.“
„Da haben Sie verdammt Unrecht. Bobby Blands Version von Same old Blues ist fantastisch.“
In diesem Moment ertönt ein Klirren aus der Küche. Mr. Mellencamp springt reflexartig auf und greift an den Gürtel unter seinem Jackett, nur um die Bewegung im gleichen Moment wieder zu revidieren und sich interessiert umzudrehen.
Ich drehe den Kopf weg, bevor er sieht, dass ich es mitbekommen habe.
In der Küche entbrennt ein Streit. Eine quäkige Männerstimme schreit eine zitternde Mädchenstimme an.
„Ich hab' dir doch gesagt, dass das nicht halten wird, du blödes Stück!“
„Entschuldigen Sie, es...“
„Verflucht, ich habe es nur mit Idioten zu tun! Wo ich hin komme, sind nur Trottel. Und jetzt auch noch du! Keine einzige Aushilfe ist mehr zu gebrauchen. Maldito mierda! Und wann taucht Angie endlich auf? Die einzige, die wenigstens zu irgendwas zu gebrauchen ist! Wahrscheinlich hat sie sich zugedröhnt und ist in der Gosse krepiert. Puta de la calle!“
Mr. Mellencamp steht auf und geht an den Tresen. Ein junges Mädchen läuft weinend in die entgegengesetzte Richtung und holt aus der Abstellkammer einen Besen.
„He, Ramón! Halt die Schnauze und lass' das Mädchen in Ruhe.“
„Was willst du, Matt? Sie hat Mist gebaut. Weißt du, wie schwer es ist, heutzutage noch vernünftiges Personal zu finden?“
„Nicht halb so schwer wie es ist, mit dir zusammenzuarbeiten. Und jetzt sei still und antworte mir. Wieso ist Angie weg?“
„Was weiß ich? Mierda! Gestern war sie noch da, heute taucht sie nicht mehr auf. Ich habe keine Ahnung, wo das Mädchen hin ist. Sie hatte gestern Nacht auf jeden Fall die Schicht im Lusty Heart. Wieso fragst du nicht mal deren schmierigen Türsteher? Der weiß sicher mehr.“
„Ich frage lieber erst den schmierigen Bastard, der in sechs Jahren nicht gelernt hat, eine Kaffeemaschine zu befüllen. Ich bin fertig. Schönen Tag noch.“
Er wendet sich zum Gehen, und Ramón zieht sich grummelnd in die Küche zurück. Als Mr. Mellencamp auf Höhe meines Tisches angelangt ist, hält er kurz an und sagt: „Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, und das Gespräch war für diese Uhrzeit mehr als erheiternd. Ich hoffe, wir sehen uns wieder, Miss...“
„Galbraith. Abby Galbraith.“
„Eine Schottin. Wie schön. Auf Wiedersehen.“

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