Feierabend

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

Hm.
Aufblende.
Beton. Sichtbeton, um genauer zu sein. Dreckige Graffitis, keine Kunstwerke, nur langweilig und Langeweile selbst, hässlich-gelbe Säulen, die den Tempel der Abwesenheit jeden Interesses stützen. Mein Feuerzeug flammt auf. Zigarettenrauch.
Der Geschmack jenes anderen süßlichen Krauts liegt auf meiner Zunge, der Geschmack, den ich so sehr mit ätherischer Musik, ätherischen Gerüchen und ätherischen Gesprächen verbinde.
Die Tür zum Gleis quietscht. Ein unangenehmes Quietschen, ein Hollywoodquietschen.
Ich bin nicht allein.
Ich stecke mein Feuerzeug in die Tasche und beginne nachzudenken.
Ich weiß nicht, ob es mich anwidern oder faszinieren soll, ob ich mich an und in diesem Ort wohlfühlen oder ängstigen soll. Nichts zeigt mir den Verfall so schonungslos auf wie dieser Bahnhof. Da ist alles, das schon erwähnte schlechte Graffiti, triste schmutzige Granitschindeln im Boden, eingeschlagene Fenster und die allgemeine, wenig zurückhaltende Einsamkeit. Die Atmosphäre an diesem Ort, um diese Zeit – der Tag wird bald wechseln – Lässt einen schon kurz nach Betreten des schwarzen Bodens daran zweifeln, dass es außerhalb dieser Hallen überhaupt einen Ort für den Verstand, den Geist, das Gefühl, wenn man so will, gibt. Ich empfinde natürlich vor allem Melancholie, das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber da ist auch Interesse. Interesse am uninteressanten, am „Es ist nicht mein Problem“-Problem.
Da steht ein Süßigkeitenautomat, und ich habe noch Kleingeld.
Weingummi und Erdnüsse, die zwei vielversprechendsten Dinge im Brot-und-Spiele-Schrank. Da drüben sitzt ein Mann.
Es sind zehn Minuten. Kein Grund, jetzt in reflektive Meditation zu verfallen. Sonst bekomme ich immer Depressionen davon. Eine Neonröhre flackert, das kleine „Ping-Ping, Ping-Ping“ der in die Jahre gekommenen Starteinheit übertönt die wenigen Geräusche, die ES noch herein lässt, die letzten Geräusche, die den Gedanken aufrecht erhalten, es gäbe tatsächlich einen Grund, nicht hier in der Bahnhofshalle zu bleiben, bis in alle Ewigkeit.
Bis der Automat leer ist.
Im Tunnel nähert sich eine Gruppe müder Jugendlicher. Arbeit nervt, sagen die.
Das kann man wohl sagen, denke ich.
Der Mann bekommt einen Anruf, er spricht eine orientalische Sprache, die ich nicht verstehe. Ich sollte erst viel später feststellen, dass neben ihm ein kleiner Junge sitzt.
Sollte ich rüber gehen und ihnen von meinen Erdnüssen anbieten?
Er würde vermutlich ablehnen, die Situation würde jeden von uns überfordern. Aber trotzdem, was wäre, wenn?
Die Tür quietscht erneut. Der Mann dreht sich um. Es ängstigt nicht nur mich, gut.
Hätte ich eine Tube mit Vaseline dabei, würde ich vermutlich die Scharniere fetten und mich damit meiner eigenen Autorität entheben, und der Palast würde einstürzen und mich begraben unter einer Menge in die Nachtluft geblasener guter Vorsätze, unter verlorenen Nächten, verlorenen Frauen, verlorenen Liebschaften, und in jeder Kombination dieser drei, unter zerbrechenden Beziehungen und Liebe, die sich gnadenlos in Hass verkehrt, in Ignoranz oder einfach nur den Wunsch, dem zu schaden, der sich selbst dir weggenommen hat.
Oder vielleicht eins von den Weingummis. Das wirkt vielleicht besser.
Ach, scheiß doch auf die beiden, doch nein, das kann ich nicht.
Die Tür quietscht erneut. Wir drehen uns wieder um, wie Delfine, die einem Ball hinterher schauen. Ein Mann von der Bahngesellschaft tritt ein. In diesen Stunden, an diesem Ort, ist keine leuchtendere Figur mehr vorstellbar. Die Aura von Sicherheit, des Wissens, das er an diesem Ort gesammelt hat, und das klare, helle Gelb der reflektierenden Warnweste, dass die Farbe der Säulen wie Rost aussehen lässt, vermischen sich zu einer überwältigenden Ruhe, die sich über die ausgestreckten Fühler eines jeden von uns legt, und wir alle können hören, wie er mit ruhiger, tiefer Stimme in sein Funkgerät spricht.
11-32 ist klar. 14-01 Kann fahren, weil 17 auf K-21.
Er sagt noch mehr dieser Dinge.
Ich höre ein Klackern, ein Tappen. Once upon a Midnight dreary, while I pondered, weak and weary, over many a quaint an curious Volume of forgotten lore, while I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping, tapping at my chamber Door.
Just a gal, and nothing more.
Sie kommt die Treppe unter mir herauf. Ich nehme einen Zug Nikotin und bemerke gleich darauf, dass sie durch meinen ausgeatmeten Rauch laufen wird. Ich drehe den Kopf zur Seite und blase an ihr vorbei.
Wie höflich von mir, das muss ich mir schon lassen, denn an diesem Ort gibt es niemanden, der solche Worte in den Mund nähme, weder jetzt noch irgendwann.
Der Zug wird bald einfahren, denn es strömen langsam mehr Menschen in den Raum, kaum zu spüren ist die Ennui dieses hohlen Golems, dieses Götzenbildes für alle gestrandeten und verlorenen, für die Gefangenen der Nacht, für die kein Licht des Tages den Sog des Dunkel vollständig abreißen zu lassen vermag.
Der Golem saugt sie ein, spuckt sie auf den Bahnsteig, er erbricht Menschen, während er sie frisst, und mir wird klar, dass Bulimie auch nur eine Frage der Speisequalität ist. Noch nicht, noch ist die Zigarette noch nicht aufgeraucht, bitte, gib' mir noch Zeit, doch nein, schon durchschneidet die Frauenstimme die verschneite Nachtluft und lässt die kalten Hallen erzittern, als sie verkündet, dass der Moment beendet, die Vorhang gefallen ist, dass nun das Publikum den Saal verlassen und einem neuen, eigenen Leben entgegen streben soll, in dem ihm wieder Dreck unter den Schuhen hängt, gefrorenes Wasser mit der Schlacke der Zivilisation, vermischt und verklebt durch ihre zähe, schneidbare Luft.
Die Nacht trifft mich wie ein Peitschenhieb, die Erkenntnis streckt mich nieder – es hat sich nichts geändert, es war nur einen Moment verzerrt, wie leicht entrückt, wie jedes interessierte Auge einem Bild schon längst attestiert hat, dass es schief hängt, bevor die Wasserwaage auch nur ein Gedanke wird.
Doch alles ist ein Kreis. Dieser Zug macht einem anderen Platz, auf den jemand warten wird, der dann seinerseits in dieser Halle steht, der sich seine Gedanken macht und vielleicht, nur vielleicht ähnliche hat, oder vielleicht völlig andere, wunderschöne, doch ich weiß es nicht.
Was für ein schöner Moment, und ich steige in den Zug.
Ja, wirklich.
Ich werde noch bleiben. Und steige wieder aus.


Anmerkung von bluedotexec:

Der Ausschnitt auf englisch entstammt selbstverständlich "The Raven" von Edgar Allan Poe.

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