Einführung, II

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

James Furtado, vor acht Jahren, zwei Tage nach dem Mord, 14:23 Uhr

Ich steuere den Streifenwagen über den Mittelstreifen. Lower East Side, Drogendelikt. Die Sanitäter sind schon da, aber offensichtlich gibt es eine weitere Leiche, die ich mir ansehen darf. Damit sind wir diese Woche schon bei drei, und es ist erst Mittwoch. Matthew ist im Urlaub, einer der Polizeipsychologen betreut ihn, und Scheiße – das ist auch nötig. Diese Woche bin ich deswegen alleine, was bedeutet, dass ich keine Notrufe übernehmen darf und nur zur Unterstützung losfahren kann, aber dadurch habe ich ein bisschen Ruhe, was auch ganz nett ist.
Gott, Judy und Sarah – ich will wirklich nicht wissen, wie es Matt im Moment geht. Auch nur eine leise Ahnung von seinem Schmerz und seiner Trauer zu haben, könnte ausreichen, jemanden in den Wahnsinn zu treiben.
Ich erreiche den Tatort. Die Kollegen vom Drogendezernat haben schon alles mit Absperrband eingewickelt, das rote Licht der Krankenwagen und das blaue Licht der Polizeifahrzeuge könnte epileptische Anfälle auslösen.
Eine schmale Gasse zwischen einem Wohnblock der Nachkriegszeit und einem Gebrauchtwagenhandel. Hier stehen vor allem Müllcontainer und -Säcke herum, und zwischen all dem Gerümpel, den Pfützen alten Regenwassers und den auslaufenden Autobatterien liegt ein weißes Tuch. Blut kann ich keines entdecken, dafür eine Menge Schleifspuren im Dreck.
Einer der Sanis kommt auf mich zu.
„Was haben wir hier?“ Frage ich und zünde mir eine Zigarette an.
„Sieht mir nach Totschlag durch Unterlassen aus. Wir haben schon einen Tatverdächtigen.“
„Was ist passiert?“ Du steigst aus einem Streifenwagen, und die Leute sprechen nicht mehr normal mit dir.
„Ja, also. Angerufen wurden wir von einem Sicherheitsangestellten des Kaufhauses gegenüber,“  Er zeigt über die Straße auf einen riesigen Bau aus Glas und Beton. Der Eingang befindet sich auf der anderen Seite, wir blicken gemeinsam auf die drei Ladebuchten der Warenannahme.
Nirgendwo ist ein Mensch zu sehen, ob Angestellter, Spaziergänger oder Anwohner. Die Straßen sind leer.
„Wieso ist hier eigentlich nichts los?“
„Das ist die Lower East Side. Beim ersten Anzeichen von Blaulicht verschwinden hier alle tief in ihren Häusern, damit sie bloß nicht versehentlich irgendetwas sehen und am Ende noch eine Aussage machen müssen.“
Ich muss lachen. „Schön formuliert. Also, weiter im Text.“
„Ja, also.“ Er ist lockerer geworden, holt Luft, um zu erzählen. „Der Wachmann hat auf der Kamera, die den Warenannahmebereich überwacht, gesehen, dass auf der anderen Straßenseite jemand in diesem Müllhaufen hockt und sich an einem Körper zu schaffen macht. Für ihn sah es wohl erst so aus, als wollte irgendein Irrer eine Leiche entsorgen. Er hat sofort die Polizei alarmiert, aber der Kerl ist schon abgehauen. Das Band wurde schon sicher gestellt. Übrigens haben wir feststellen können, dass die Leiche noch nicht lange genug tot ist, um hierher geschafft worden zu sein. Im Knöchel steckt noch eine Spritze, das Tox-Screening hat bisher nichts ergeben.“
„Also haben wir zwei Junkies, einer hat 'ne Überdosis, der andere kann ihm nicht helfen, und als die Krämpfe einsetzen, der Atem stehen bleibt und sich Schaum am Mund bildet, gibt er auf und läuft weg.“
„Es sieht ganz so aus. Deswegen wurde das Drogendezernat auch zuerst benachrichtigt.“
„Und völlig zu recht. Also gut. Sie sagten, wir hätten einen Verdächtigen?“
„Sozusagen. Die Kamerabänder sind verwertbar, es sind Bilder sowohl von vorne als auch im Profil dabei. Die Zentrale lässt schon die Datenbank durchsuchen.“
„Dann ist der Fall wohl aufgeklärt, bevor er richtig ins Rollen kommt.“
„Wenn die Suche erfolgreich ist, schon.“
„Also gut. Dann unterhalte ich mich noch kurz mit den Drogenjungs, danach können wir hier aufräumen und abrücken.“

Mr. Mellencamp, vor drei Tagen, 06:30 Uhr

Zeit für ein Frühstück. Ich bekomme von den Schlafmitteln nach einiger Zeit Sodbrennen, das aber schnell verschwindet, wenn ich ein paar Scheiben Toast und eine Tasse Kaffee zu mir genommen habe. Zwei Kilometer die Straße hinauf ist ein verranztes Diner, in dem es den besten schlechten Kaffee des Viertels gibt, und auch wenn ich auf dem Weg dorthin an bestimmt fünf anderen, besseren Schuppen vorbei komme, ziehe ich es vor, meine falsche Ernährung an gewohnten Plätzen zu genießen. Manchmal treffe ich dort Angel. Ich glaube, sie heißt in Wahrheit Angie, aber die meisten der Männer nennen sie nur Angel, weil sie unter diesem Namen im Lusty Heart arbeitet. Sie bessert tags ihre finanzielle Situation im „Ted's 24“ auf und abends im Stripclub an der 43. Straße. Ich kenne beide Läden recht gut, auch wenn ich Angel noch nie nackt gesehen habe. Genau genommen habe ich sie noch nie im LH gesehen. Ich gehe dort auch nur selten hin. Einer der Türsteher versorgt die Mädchen mit sauberem Kokain, was ich eigentlich nicht gutheißen kann, aber er hat einige Verbindungen zur Drogenszene, und das hat sich mir schon das eine oder andere Mal als Vorteil offenbart. Victor, so sein Name, ist nämlich sehr gesprächig, wenn man ihm mal einen Besuch in der U-Haft vorschlägt.
Ich habe keine perfekte Vergangenheit. Damit dir deine Gegenwart perfekt erscheint, muss dir deine Vergangenheit perfekt erscheinen. Du brauchst die Illusion der Perfektion für dein Glück. Ich bin ein sarkastischer, zynischer Bastard geworden. Ich ziehe mein Glück aus dem Elend anderer, und nach euren Maßstäben ist das bestenfalls moralisch verwerflich.
Nach meinen ist es egal. Ich bin kaputt, ein Wrack, ich bin nett zu den Leuten, in denen ich einen Zweck für mich oder mein Umfeld erkenne, an guten Tagen zählen dazu sogar Leute wie die Coffeeshop-Verkäuferin, der Hotdogverkäufer oder der Elektrofachverkäufer, der mich bei einem Mikrofon gut beraten hat. An Imipramin-Tagen.

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