Othersyde

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden Ihren Morgen beginnen - sechs Stunden, nachdem der allgemeine Morgen begonnen hat - und feststellen, dass dieser Tag völlig anders verlaufen wird, als Sie es gewohnt sind. Damit ist keine Veränderung des Tagesablaufs gemeint, deren Ursprung und Hergang für Sie nachvollziehbar und zu erklären sind, sondern Veränderungen, die für Sie aufgrund der Unerklärbarkeit, mit der sie vonstatten gingen, verstörend und morbid erscheinen, was noch dadurch geschürt wird, dass Ihnen niemand erklären kann, was überhaupt passiert ist. Sie unterliegen vermutlich dem Irrglauben, dass der durchschnittliche Tagesverlauf eines Menschen mittleren Alters mit einer durchschnittlichen Familie in einer Durchschnittskleinstadt mit einem Durchschnittsfahrzeug und einem leicht überdurchschnittlichen Einkommen immer der selbe ist, egal, von welchem Durchschnittsmenschen mittleren Alters wir sprechen, also Aufstehen-Duschen-Arbeiten-Mittagessen-Feierabend-Abendbrot-Schlafen, ADAMFAS.
Dem ist nicht so.
So ähnlich sich diese Tagesabläufe, diese ewig gleichen Algorithmen menschlicher Verhaltenmuster, auch sein mögen, sie alle unterscheiden sich in mindestens einem Punkt.
Angenommen, Ihr Nachbar hat den gleichen Büroberuf wie Sie, arbeitet in der gleichen Firma wie Sie, auf der gleichen Etage eine Bürokabine weiter, hat das gleiche Einkommen, eine vergleichbare Familie, das gleiche Auto, die gleichen Nachbarn, die gleichen Arbeitskollegen, meinetwegen sogar die gleichen Interessen wie Sie.
Auch dieser Mensch beginnt zur gleichen Zeit wie Sie sein ADAMFAS, braucht für die einzelnen ADAMFAS-Komponenten exakt so lange wie Sie und beendet ADAMFAS zur gleichen Zeit wie Sie.
Es mag so wirken, als würden Sie neben sich selbst wohnen.
Der Unterschied dieser Tagesabläufe ist bei genauer Betrachtung so gravierend, dass man sagen möchte, Sie und Ihr hypothetischer Nachbar folgen zwei grundverschiedenen Tagesabläufen.
Der Unterschied ist folgender: Jeder Tagesablauf gehört zu einem bestimmten Menschen, und nur zu diesem Menschen. Sie sind untrennbar durch das Schicksal verschweißt, sie können sich zwar überkreuzen, aber niemals wird sich ein Tagesablauf an einen anderen Menschen binden.
Und jetzt stellen Sie sich vor, genau das würde passieren.

Sie stehen morgens auf und gehen Duschen. In Ihrer Dusche sind der Warm- und der Kaltwasserhahn seitenvertauscht. Sie suchen die Toilette auf und stellen fest, dass Sie, statt dem gewohnten großen Spülknopf, nun zwei etwas kleinere, aber größenunterschiedliche haben, für große und kleine Geschäfte. Ihre Hosen sind im Schrank auf der falschen Seite einsortiert und nicht mehr nach Farben geordnet. Beim Frühstück gibt es keinen Bohnenkaffee, sondern nur entkoffeiniertes Kaffeelyophilisat. Ihr Kühlschrank enthält keine Fleischprodukte mehr. Sie finden im Auto auf dem Weg zur Arbeit keine CDs mehr von Pink Floyd, Grand Funk Railroad, Foreigner, Steppenwolf und Iron Maiden vor, sondern eine CD von Scooter und eine CD von Deep Purple. Sie geben Ihrem Navigationsgerät die Aufgabe, Sie zur Arbeit zu lotsen, und landen nicht in einem großen Bürogebäude, sondern in einem kleinen Chemielabor.
Das ist nur die erste Stunde Ihres neuen ADAMFAS.
Sie stellen fest, dass Sie unverheiratet sind. Sie haben keine Kinder, Ihre Arbeitskollegen und Nachbarn sind andere Menschen, als Sie kennen gelernt haben, und trotzdem scheint Sie jeder zu kennen. Es scheint, als würde jeder glauben, Sie zu kennen, und zwar Sie in ihrem neuen ADAMFAS. Wen auch immer Sie fragen, Sie bekommen immer die Antwort: "Das war schon immer so."
Es gibt keinen Ausweg. Sie werden nicht einschlafen und am nächsten Morgen wieder in Ihrem eigenen Leben aufwachen. Sie sind nicht in einem Hollywood-Film, in dem Ihnen plötzlich die Erkenntnis kommt und Sie eine Hintertür finden, ein Schlupfloch im Konzept, dass Ihnen der Deus Ex Machina geschrieben hat, in dem jedoch auch dieses Schlupfloch vorgesehen war. Sie sind ja kein dummer Mensch, deswegen wird Ihnen auf kurz oder lang die Idee kommen, den Menschen zu suchen, der jetzt in Ihrer Rolle steckt.
Aber abgesehen davon, dass Sie den Ort nicht kennen und aufgrund der Durchschnittlichkeit des ADAMFAS auch nicht bestimmen können, an dem der neue Besitzer Ihres ADAMFAS lebt - Sie werden feststellen, dass es Ihnen nichts nützt, den Menschen zu suchen. Es ist nicht so, dass Sie in einem neuen Tagesablauf gelandet sind, nein - ein neuer Tagesablauf ist in Ihrem Leben eingezogen. Wenn Sie Ihr altes ADAMFAS finden wollen, dann dürfen Sie nicht den Menschen suchen, der es besitzt, sondern das ADAMFAS, das den Menschen besitzt. Und das ist nicht möglich, weil Sie, wie ich schon sagte, keinen Anhaltspunkt zur Lokalisation haben. Und genau dann werden Sie feststellen, dass Sie, obschon Sie seit vielen Jahren in diesem ADAMFAS leben, nicht in der Lage sind, es zu finden. Jetzt werden Sie feststellen, dass Sie sich selbst nicht kennen. Das hat einen einfachen Grund: Sie betrachten Ihr ADAMFAS als selbstverständlich, als etwas, das zu Ihnen gehört. Wenn Sie sich selbst kennen lernen wollen, dann geben Sie diese Denkweise auf. Und was das ADAMFAS angeht, dass Sie nie mehr wieder finden werden:

"Alles, was du besitzt, besitzt irgendwann dich."
-Chuck Palahniuk-

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Angelika Dirksen (62)
(07.06.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 bluedotexec meinte dazu am 07.06.09:
Ich denke eher, ein solcher Tausch würde zum absoluten Identitätsverlust führen.
Menschen heutzutage brauchen ihre Identität ja nicht finden. Sie ist ja da. Sie sollten sie bloß auch sehen und offen für sich selbst sein. Dazu reicht schon, seinen eigenen Tagesablauf nicht als selbstverständlich anzusehen.
Liebe Grüße,
Patrick
(Antwort korrigiert am 07.06.2009)
tausendschön (33)
(18.06.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 bluedotexec antwortete darauf am 18.06.09:
Das war gar nicht die Aussage. Mir ging es mehr um ein Nichtakzeptieren des Absolutismus des ADAMFAS. Wie gesagt: Ein Leben führen, ohne in einem Leben zu... leben...-.- ist nicht möglich. Aber man kann ein Leben führen, ohne die Dinge, die einen umgeben, als selbstverständlich hinzunehmen. Dadurch landet man nämlich irgendwann in der LETHARGIE, und... also... die ist doof.
Liebe Grüße,
Patrick
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram