Wie schreibt man gute Lyrik? 1. Gottfried Benn

Essay zum Thema Kunst/ Künstler/ Kitsch

von  EkkehartMittelberg

Gottfried Benn

[Kritik am sogenannten modernen Gedicht]

Ich stelle mir (...) vor, Sie richten jetzt an mich die Frage, was ist eigentlich ein modernes Gedicht, wie sieht es aus, und darauf antworten werde ich mit negativen Ausführungen, nämlich, wie sieht ein modernes Gedicht nicht aus.

Ich nenne Ihnen vier diagnostische Symptome, mit deren Hilfe Sie selber in
Zukunft unterscheiden können, ob ein Gedicht von 1950 identisch mit der Zeit ist
oder nicht. Meine Beispiele nehme ich aus bekannten Anthologien. Diese vier
Symptome sind: erstens das Andichten. Beispiel: Überschrift "Das Stoppelfeld".

Erster Vers (Sic! Gemeint ist wohl Strophe): "Ein kahles Feld vor meinem Fenster liegt
jüngst haben sich dort schwere Weizenähren
im Sommerwinde hin und her gewiegt
vom Ausfall heute sich die Spatzen nähren."

So geht es drei Strophen weiter, dann in der vierten und letzten kommt die Wend­
ung zum Ich, sie beginnt:
"Schwebt mir nicht hier mein eigenes Leben vor"
und so weiter.
Wir haben also zwei Objekte. Erstens die unbelebte Natur, die angedichtet wird,
und am Schluss die Wendung zum Autor, der jetzt innerlich wird oder es zu werden
glaubt. Also ein Gedicht mit Trennung und Gegenüberstellung von angedichtetem
Gegenstand und dichtendem Ich, von äußerer Staffage und innerem Bezug. Das,
sage ich, ist für heute eine primitive Art seine lyrische Substanz zu dokumentieren.
Selbst wenn sich der Autor dem von Marinetti1 geprägten Satz: déstruire le Je dans la littérature (das Ich in der Literatur zerstören) nicht anschließen will, er wirkt mit dieser Methode heute veraltet. Ich will allerdings gleich hinzufügen, dass es herrliche deutsche Gedichte gibt, die nach diesem Modell gearbeitet sind, zum Beispiel Eichendorffs "Mondnacht", aber das ist über hundert Jahre her.
Das zweite Symptom ist das WIE. Bitte beachten Sie, wie oft in einem Gedicht
"wie" vorkommt. Wie, oder wie wenn, oder es ist, als ob, das sind Hilfskonstruk­
tionen, meistens Leerlauf. Mein Lied rollt wie Sonnengold - Die Sonne liegt auf
dem Kupferdach wie Bronzegeschmeid - Mein Lied zittert wie gebändigte Flut -
Wie eine Blume in stiller Nacht - Bleich wie Seide - Die Liebe blüht wie eine Lilie - Dies Wie ist immer ein Bruch in der Vision, es holt heran, es vergleicht, es ist kei­ne primäre Setzung. Aber auch hier muss ich einfügen, es gibt großartige Gedichte mit WIE. Rilke war ein großer WIE-Dichter. In einem seiner schönsten Gedichte "Archaischer Torso Apollos" steht in vier Strophen dreimal WIE, und zwar sogar recht banale "Wies": wie ein Kandelaber, wie Raubtierfelle, wie ein Stern - und in seinem Gedicht "Blaue Hortensie" finden wir in vier Strophen viermal WIE: Da­runter: wie in einer Kinderschürze - wie in alten Briefpapieren - nun gut, Rilke konnte das, aber als Grundsatz können Sie sich daran halten, dass ein WIE immer ein Einbruch des Erzählerischen, Feuilletonistischen in die Lyrik ist, ein Nachlassen der sprachlichen Spannung, eine Schwäche der schöpferischen Transformation.

Das dritte ist harmloser. Beachten Sie, wie oft in den Versen Farben vorkom­
men. Rot, purpurn, opalen, silbern mit der Abwandlung silberlich. braun, grün,
orangefarben, grau, golden - hier glaubt der Autor vermutlich besonders üppig
und fantasievoll zu wirken, übersieht aber, dass diese Farben ja reine Wortkli-
schees sind, die besser beim Optiker und Augenarzt ihr Unterkommen finden.In
Bezug auf eine Farbe allerdings muss ich mich an die Brust schlagen, es ist: Blau-.
( ... )
Das Vierte ist der seraphische Ton. Wenn es gleich losgeht oder schnell anlangt
bei Brunnenrauschen und Harfen und schöner Nacht und Stille und Ketten ohne
Anbeginn, Kugelrundung, Vollbringen, siegt sich zum Stern, Neugottesgründung
und ähnlichen Allgefühlen, ist das meistens eine billige Spekulation auf die Senti­mentalität und Weichlichkeit des Lesers. Dieser seraphische Ton ist keine Überwin­dung des Irdischen, sondern eine Flucht von dem Irdischen. Der große Dichter aber ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten, (...) er belädt sich mit Wirklichkeiten, er ist sehr irdisch, eine Zikade, nach der Sage aus der Erde geboren, das athenische Insekt. Er wird das Esoterische und Seraphische ungeheuer vorsichtig auf harte realistische Unterlagen verteilen. -

( ... )
Wenn Sie also in Zukunft auf ein Gedicht stoßen, nehmen Sie bitte einen Bleistift wie beim Kreuzworträtsel und beobachten Sie: Andichten, WIE, Farbenskala, sera­phischer Ton, und Sie werden schnell zu einem eigenen Urteil gelangen.

(aus: Gottfried Benn, Probleme der Lyrik. - In: Gesammelte Werke in 4 Bänden, hrsg. von Dieter Wellershoff. Bd 1 Essays. Reden. Vorträge. Stuttgart: Klett-Cotta 1977)

1))Filippo Tommaso Marinette, geb. 1876 in Alexandria, gest. 1944 in Bellagio. Begründer des Futuris­mus und überzeugter Anhänger des italienischen Faschismus. Sein "futuristisches Manifest", das er am 20. 2. 1909 im Pariser "Figaro" veröffentlichte, proklamiert in forciertem Pathos den Bruch mit
allen Stilformen der Vergangenheit, besonders mit dem literarischen Ästhetizismus ("Ein brüllendes Automobil ist schöner als die Nike von Samothrake").

Mein Kommentar:

1. Andichten: Benns erstes Argument, das Andichten sei veraltet, kann ich nachvollziehen, jedoch nicht prinzipiell. Man kann aber die Schwäche, so zu dichten, besser erklären:
Nicht in der Schilderung der Natur liegt das Unmoderne, sondern darin, dass zum Beisiel der Autor, der über das Stoppelfeld schreibt, dieses direkt als Spiegel seines Lebens sieht Es kommt beim Andichten wohl sehr auf das Exempel und die Tonlage an. Hätte der Autor einen ironischen Ton gefunden, hätte sich der Eindruck des Veralteten wohl nicht eingestellt.

2. Benns Warnung vor dem WIE: Seine Beispiele überzeugen mich.
Man kann die Problematik des Wie schön an der Entstehung einer Metapher verdeutlichen:
Wenn es zum Beisiel heißt: „Achill war ein Löwe in der Schlacht“, dann liegt dieser Metapher als abgekürztem Vergleich die Stärke, die dem Löwen und Achill gemeinsam ist, als tertium comparationis (Das Dritte des Vergleichs, Vergleichskriterium) zugrunde. Weil das unmittelbar einleuchtet, kann man den Vergleich zur Metapher (direkten Übertragung) verdichten und sich das Wie sparen. Wenn aber ein eindeutiges tertium comparationis fehlt, greift der Autor zu dem WIE oder als ob des Vergleichs oder zu einer assoziativen metaphorischen Setzung, die emotional, aber nicht logisch nachvollzogen werden kann. Hier ist Vorsicht geboten, weil solche Vergleiche häufig hinken.

3. Umgang des Lyrikers mit Farben
Diesen kritischen Ansatz halte ich für verengt, weil das Problem nicht primär in der klischeehaften Verwendung von Farben liegt, sondern in der stereotypen und überflüssigen Verwendung von Adjektiven überhaupt. Der Lyriker sollte grundsätzlich überlegen, ob er mit Adjektiven seine Wahrnehmung genauer darstellt oder sie nur künstlich aufschmückt.

4. seraphischer Ton
Diese „himmlische“ Unart ist auf Internetforen und selbst in anerkannten Anthologien so verbreitet, dass sich weitere Beispiele erübrigen. Achten Sie nur mal bei kV darauf, wer sich träumend zu den Sternen aufschwingt und dabei die Bodenhaftung verliert im Glauben, das Irdische zu überwinden. Aber ich weiß, das Benns Forderung, der Dichter solle allen Wirklichkeiten nahe sein, eine Setzung ist, die wie ein Axiom vorgibt, nicht hinterfragt werden zu dürfen. Was wollen Sie machen, wenn einer die These vertritt, es sei Aufgabe der Dichtung, die Bindung an Wirklichkeiten durch eine Anderswelt des schönen Scheins zu ersetzen?
Sie können sich freilich mit ihm streiten, aber keiner wird den anderen überzeugen.

© Ekkehart Mittelberg, September 2013

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (21.09.13)
Ich bin nun kein Lyriker, kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass Benn - ein gutes Stück weit pseudoargumentativ - sagen will: Früher war alles besser. Das wird besonders deutlich, wenn er Stilmittel kritisiert, gleichzeitig aber hervorhebt, das der oder jener gut mit ihnen umgegangen ist.

Außerdem sehe ich bei dabei das Grundproblem aller Literaturkritik: Kein Kritiker würde je sagen "Das gefällt mir nicht", denn dann würden seine geneigten Zuhörer/Zuleser ja merken, dass er vor allem eines hat: Eine Meinung! Und die ist womöglich nicht so objektiv und mit Argumenten unterfüttert, wie es scheinen mag.

Nicht das du mich falsch verstehst: Es gibt sicherlich schlechte Gedichte, so wie es auch schlechte Prosa gibt. Wenn aber z.B. einen Text schlecht findet, nur weil die Rechtschreibung grausig ist und einen gut findet, weil jedes Kommata sitzt und die Form stimmt, der hat - 'tschuldigung - den Schuss nicht gehört.

(Zur Rechtschreibung einmal eine Anmerkung: Große Verlage haben extra Abteilungen, die sich die geplanten Veröffentlichungen daraufhin ansehen. Die Rechtschreibprüfung ist ist keine originäre Aufgabe des Lektorierens!)

Eine Frage wegen dem 'Wie':
Was ist, wenn man aus dem "Mein Lied rollt wie Sonnengold" z.B. "Ein Lied von Sonnegold" macht?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.09.13:
Deinem ersten kritischen Gedanken stimme ich zu: Benn bringt seine Thesen zu dem WIE und den Farben dadurch um ihre Wirkung, dass er sie gleich relativiert.

Bei deinem zweiten Gedanken würde ich streng zwischen Rechtschreibung und Form (Metrum, Rhythmus, Reim etc.) differenzieren. Schlechte Rechtschreibung/Zeichensetzung verändert die sensible Aussage eines Gedichts, Verstöße gegen die Form machen es ungenießbar.

Zu deiner Frage wegen dem WIE: Ich finde beide Versionen misslungen.

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 22.09.13:
Noch einmal zur Rechtschreibung und Form:
Die kann man beim Bearbeiten in Ordnung bringen und wenn der Inhalt... ich sag mal: stimmig ist, lohnt sich dieser Aufwand sogar. Ein korrektes Gedicht, dessen Aussage gegen Null tendiert, kann man aber nur dem Lyrikfriedhof, auch Papierkorb genannt, übergeben.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 22.09.13:
Es gibt in der Lyrik keine korrekte Form ohne Inhalt. Sie sind eine untrennbare Einheit.

 Bergmann (21.09.13)
Benns Aspekte sind durchaus brauchbar, auch für die Analyse von Gedichten auf kv, weil viele von ihnen weit hinter die 50er Jahre zurückfallen und gar nicht erst in den Analysehorizont gelangen.

Lyrik unserer Tage kann kaum noch an Benns Aspekten oder Kriterien gemessen werden, weil diese nicht mehr relevant sind angesichts der komplexen Modi des Sagens, neuer Wörter, Themen und Strukturen.

So sehr ich Benns Gedichte liebe, so sehr befreie ich mich von den zeitgebundenen Ansichten des Dichters vor über 60 Jahren.

Nützlich bleibt aber, denke ich, die Kritik am WIE und am SERAPHISCHEN TON (heute oft pseudoliturgisch, oder neupathetisch).

Bin gespannt auf das zweite Kapitel (den zweiten Dichter) dieser interessanten Textreihe.

LG, Uli

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 21.09.13:
Grazie, Uli, ich stimme dir weitgehend zu und halte auch die Kriterien WIE und SERAPHISCHER TON für noch empfehlenswert.
Dieter Wal (58)
(21.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 21.09.13:
Vielen Dank für deinen Kommentar zu diesem diffizilen Thema, Dieter. Ich meine jedoch, dass du mit Benn zu hart ins Gericht gegngen bist. Er hat versucht, Kriterien für die Qualität der subjektivsten literarischen Gattung zu finden. Dass ihm das nicht zufriedenstellend gelungen ist, ist weniger ihm als der Schwierigkeit der Aufgabe geschuldet.
Dennoch ist die Bemühung um Kriterien für die Bewertung von Lyrik unverzichtbar, wennn nicht jedes Urteil über ein Gedicht völlig beliebig sein soll.

Benn war eine Zeitlang bekennender Nazi, aber mir ist neu, dass sich das an seiner Sprache belegen lässt.
Dieter Wal (58) meinte dazu am 21.09.13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.09.13:
Ich werde mich sehr gerne in der nächsten Woche bei dir melden, Dieter.
chichi† (80)
(21.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.09.13:
Grazie, Gerda, auf diesen Text habe ich tatsächlich viel Zeit und Mühe verwandt.
LG
Ekki

 loslosch (21.09.13)
nur zum punkt WIE: wie schon andere hier schreiben: er schränkt ein mit gegenbeispielen, wie rilke. JWG vergaß er völlig: "ich ging im walde so für mich hin ..." irma hat wohl zu viel benn gelesen. statt langer worte hier zu meinem kommi bei  Niederschmetternd

eine zeitangabe, wann benn den text geschrieben hat, wäre hilfreich.

ps: "Niederschmetternd", nomen est omen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.09.13:
Kannst du Gedanken lesen, Lothar? Irmas Vorbehalt gegenüber dem WIE hat mich auf die Idee gebracht, bei Benn nachzuschauen und diesen Text hier einzustellen.
Man wird noch mehr gelungene Vergleiche finden, nicht nur bei Goethe. Gleichwohl ist die Warnung Benns vor dem Wie berechtigt, weil man noch mehr Beisiele für misslungene Vergleiche finden wird.

"Am 21.4.1951 hielt Benn in Marburg einen Vortrag mit dem Titel Probleme der Lyrik, dessen Thesen über ein Jahrzehnt die Lyrik-Debatten in Deutschland beeinflussten. (Wikipedia)

 loslosch meinte dazu am 21.09.13:
also vermutlich auf dem vortrag 1951 aufbauend. hier sein einziger auftritt im dt. fernsehen, mit thilo koch:  hier. ab 1938 ging benn auf konfrontation mit den nazis. im interview wirkt benn zurückhaltend und bescheiden.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.09.13:
Ich hatte den Ausschnitt aus dem Interview, das einem den Menschen Benn näher bringt, bisher noch nicht gesehen und danke dir dafür.
Pocahontas (54)
(21.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.09.13:
Muchas gracias, Sigi, das sind doch Argumente, ganz gleich, ob sie jemand Punkt für Punkt teilt.

Mir ging es letztlich darum, überhaupt Kriterien für die Bewertung von Lyrik zu diskutieren anhand von Äußerungen erfahrener Lyriker und nicht einfach frei Schnauze in Wohlgefallen zu schwelgen oder abzuqualifizieren.

Liebe Grüße
Ekki
wa Bash (47)
(21.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.09.13:
Merci, wa Bash. Ich finde es schon sinnvoll, dass Benn erklärt hat, wie ein modernes Gedicht nicht sein soll.
Natürlich hat er mit seinen eigenen Gedichten "die herausragenden Stilcharakteristika der aktuellen Zeit" Gestalt werden lassen. Er war wohl zu wenig Pädagoge, um sie auch theoretisch zu erklären. )
LG
Ekki

 toltec-head (21.09.13)
Benn hätte nie den Titel "Wie schreibt man gute Lyrik?" gewählt. Man beachte auch den humoristischen Ton seiner Ausführungen. Kochbücher für Gedichte kann es dem Wesen der Sache nach nicht geben. Ich denke, es ging ihm mit seiner Kritik um ähnliches wie mir mit der Kategorisierung von Menstruationslyrik. Man versteht atmosphärisch das Gemeinte, konkrete Hilfestellungen oder gar eine Dogmatik bleiben indes unableitbar.

3 Gegenthesen:

1. Wie-Vergleiche sind das Wesen jeder Poesie, egal ob das Wörtchen in einem Gedicht nun fällt oder nicht. Es liegt daran, dass der Gegenstand von Dichtung immer unbestimmt bleibt. Denn wäre er bestimmt, fiele er ja in den Zuständigkeitsbereich der Wissenschaft. A rose is a rose is rose. Wer Lyrik zu schätzen weiß, wird wissen, dass hier natürlich von Pferden die Rede ist.

2. Ähnlich wie in der Musik ist in der Lyrik synästhetisches Farbempfinden das A und O. Ein Gedicht, das nicht seine Farbe hat, ist keines.

3. Seraphischer Ton: Ob nun Seraphim, Cherubim oder Persil. Ganz ohne Weißwaschmittel kommt niemand aus, der nicht in der Alltagssprache stecken bleiben will.

Hier noch ein Gedicht. Es handelt sich um Benns

Blaue Stunde

Ich trete in die dunkelblaue Stunde -
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen – Du!

Wir wissen beide, jene Worte,
die jeder oft zu anderen sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
dies ist das Ganze und der letzte Zug.

Das Schweigende ist so weit fortgeschritten
und füllt den Raum und denkt sich selber zu
die Stunde – nichts gehofft und nichts gelitten –
mit ihrer Schale später Rosen – Du.

Verglichen wird immerhin nur mit nichts und gesündigt wird nur mit der Farbe Blau. Weder Seraphim noch Cherubim standen Pate, es riecht auch nicht nach Persil, aber der Altmännerduft ist doch ganz himmlisch.
(Kommentar korrigiert am 21.09.2013)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.09.13:
Toltec, dein geistreicher Kommentar ließ mich schmunzeln. Ich habe deine Gegenthesen cum grano salis gelesen. Für den, der bereit ist, deinen Abstrahierungsschritt mitzumachen, stimmen sie.
Danke, auch für die schöne Beigabe der Blauen Stunde.
LG
Ekki
Schrybyr† (67)
(30.09.13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.09.13:
Vielen Dank, Karlheinz, dein Zitat ist insofern wichtig und weiterführend, als Benn darin positiv ausdrückt, worauf es bei innovativer Lyrik ankommt, nämlich Worte zu verwenden, die es noch nicht gibt. Mir leuchtet ein, dass ein revolutionärer Gedanke der sprachlichen Erneurung bedarf.
LG
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram