Franz Fühmann: "Das Judenauto". Zur Genese eines Vorurteils

Interpretation zum Thema Vorurteile

von  EkkehartMittelberg

Ich stelle meiner Interpretation dieser Kurzgeschichte eine Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich voran, die die zentralen Punkte der Erzählung so deutlich hervorhebt, dass die Interpretation verständlich werden müsste auch ohne die Wiedergabe des Originaltextes von Fühmann, der noch nicht gemeinfrei ist.

„ Inhaltsangabe:

Eine dritte Volksschulklasse wartet im Sommer 1931 auf den Beginn des Unterrichts. Da kommt Gudrun in die Klasse und erzählt Schauerliches über ein gelbes "Judenauto". In dem sitzen vier schwarzhaarige Juden mit langen blutigen Messern. Sogar vom Trittbrett tropft Blut. Mit dem Auto jagen sie Mädchen. In zwei Nachbargemeinden haben sie bereits vier Mädchen erwischt, sie an den Füßen aufgehängt, sie geschlachtet und aus ihrem Blut Brot gebacken. Obwohl keiner ihrer Mitschüler an ihrer Darstellung zweifelt, beteuert Gudrun deren Wahrheit: "Wenn ich gestern nach Böhmisch-Krumma gegangen wäre, um Heimarbeit auszutragen, hätte ich das Judenauto mit eigenen Augen sehen können!"

Obwohl Gudrun als Klatschmaul gilt, ist der neunjährige Ich-Erzähler überzeugt, dass sie nicht gelogen hat.
Ich hatte zwar noch keinen Juden gesehen, doch ich hatte aus den Gesprächen der Erwachsenen schon viel über sie erfahren: Die Juden hatten alle eine krumme Nase und schwarzes Haar und waren schuld an allem Schlechten in der Welt. Sie zogen den ehrlichen Leuten mit gemeinen Tricks das Geld aus der Tasche [...]; sie ließen den Bauern das Vieh und das Korn wegholen und kauften von überall her Getreide zusammen, gossen Brennspiritus darüber und schütteten es dann ins Meer, damit die Deutschen verhungern sollten, denn sie hassten uns Deutsche über alle Maßen und wollten uns alle vernichten – warum sollten sie dann nicht in einem gelben Auto auf den Feldwegen lauern, um deutsche Mädchen zu fangen und abzuschlachten?
Er träumt von dem Judenauto: Die Insassen zerren ein Mädchen aus dem Kornfeld. Es ist die Mitschülerin, die zwei Reihen vor dem Erzähler sitzt. Sie schreit und ruft nach ihm. Da stürmt er aus seinem Geheimgang, schlägt zwei der Juden zu Boden, klammert sich an das Heck des losfahrenden Judenautos, zertrümmert die Scheibe, wirft den Beifahrer hinaus, überwältigt den Fahrer und rettet das ohnmächtige Mädchen. In diesem Augenblick schlägt ihm der Lehrer mit dem Lineal auf den Handrücken. Alle lachen, weil er beim Schlafen im Unterricht ertappt worden ist. Und er muss nachsitzen.

Anschließend wagt er sich nicht gleich nach Hause und läuft erst noch durch die Kornfelder. Heute kommt ihm alles so seltsam vor, und dass die Grillen beim Zirpen die Flügel aneinander reiben, findet er plötzlich schamlos. Als auf dem Feldweg ein braunes Auto auftaucht, erschrickt er. Es ist eigentlich mehr gelb als braun, eigentlich gelb, ganz gelb, grellgelb. Das Judenauto! Er sieht zwar nur drei Insassen, aber der vierte Jude duckt sich wohl, um ihn besser anfallen zu können. Jemand aus dem Auto ruft etwas. Da ist es mit seiner Beherrschung vorbei; schreiend rennt er ins Dorf und stellt erleichtert fest, dass ihm das Judenauto nicht gefolgt ist.

Am anderen Morgen genießt er die Bewunderung der Klassenkameraden, denen er davon erzählt, wie ihn das Judenauto stundenlang jagte. Die Insassen: vier Juden, blutige Messer schwingend. Haken schlagend sei er entkommen, erzählt er.
„Da sah das Mädchen mit dem kurzen, hellen Haar auf, und nun wagte ich, ihr ins Gesicht zu sehen, und sie wandte sich halb in ihrer Bank um und sah mich an und lächelte, und mein Herz schwamm fort. Das war die Seligkeit [...] die Welt war wieder heil, und ich war ein Held, dem Judenauto entronnen, und das Mädchen sah mich an und lächelte und sagte mir ihrer ruhigen, fast bedächtigen Stimme, dass gestern ihr Onkel mit zwei Freunden zu Besuch gekommen sei; sie seien im Auto gekommen, sagte sie langsam, und das Wort "Auto" fuhr mir wie ein Pfeil ins Hirn; in einem braunen Auto seien sie gekommen, sagte sie [...]“
Die Mädchen kichern. Der Erzähler stürzt aus der Klasse, sperrt sich in der Toilette ein und heult.
„[...] und plötzlich wusste ich: Sie waren daran schuld! Sie waren dran schuld, sie, nur sie: Sie hatten alles Schlechte gemacht, das es auf der Welt gibt, sie hatten meinem Vater das Geschäft ruiniert, [...] und auch mit mir hatten sie einen ihrer hundsgemeinen Tricks gemacht, um mich vor der Klasse zu blamieren. Sie waren schuld an allem; sie, kein anderer, nur sie!
"Juden!", schreit er ein ums andere Mal, erbricht sich, schluchzt und ballt die Fäuste. "Juden!“
Quelle: http://www.dieterwunderlich.de/Fuhmann_judenauto.htm#cont


Interpretation

„ Motiv und Erzählform:
Die Kurzgeschichte „Das Judenauto“ führt behutsam in das Motiv der Diskriminierung von Juden ein. In einer Art Exposition nähert sich der Ich-Erzähler allmählich der eigentlichen Geschichte, die im Sommer 1931 spielt. Vorher aber thematisiert Fühmann die Erinnerung, weil ihm daran liegt, dass aus ganz persönlicher Erinnerung des Ich.-Erzählers mitgeteilt wird. Das Erinnern, unterstützt durch Erzählungen seiner Mutter, bezieht sich zunächst auf das Relief eines Zigeunerlagers. Diese Erinnerung wird noch, ausschließlich positiv assoziiert, mit einer warmen grünen Farbe in Zusammenhang gebracht, die einen Kachelofen zierte. Die zweite positive Assoziation des Erzählers erstreckt sich auf einen heruntergekommenen Großbauern, die „Spottfigur des Dorfes“. Die Mutter hat aber auf diesen Menschen nicht mehr positiv reagiert. Sie hat den Erzähler mit einem Schrei des Entsetzens von dessen Knie gerissen. So wird das Unheimliche allmählich in die Geschichte eingeführt. […] Mit der Schule schließlich wird endgültig Schreckliches thematisiert. Die Rede ist von einem düsteren Korridor, „durch den aus den Klassenräumen heraus die Menschenangst wie ein Nebelschwaden kroch.“ […]
Im weiteren Verlauf der Kurzgeschichte erweist sich, dass die Formulierung von der Diskriminierung der Juden zu kurz greift. Das Motiv ist genauer das Entstehen und die Verfestigung von Vorurteilen. Dabei interessiert das Verhalten des mit einem Vorurteil behafteten Ich-Erzählers und nicht das tatsächliche Verhalten der von dem Vorurteil betroffenen Juden.

Entwicklung des Vorurteils:
Fühmann erzählt so exakt von den Komponenten, die in dem Syndrom eines Vorurteils zusammenkommen, als hätte er ein soziologisches Handbuch benutzt. Dabei wird er aber niemals theoretisch, sondern entwickelt das Entstehen und die Verfestigung des Vorurteils folgerichtig aus seiner Erzählung.

Anfangs wird deutlich, dass vorurteilsbehaftete Menschen nicht anfällig für Klatsch sein müssen. So lassen sich auch die Jungen der Klasse von der plappernden Gudrun K. zunächst nicht beeinflussen. Es ist erst „ein ganz spitzes quiekendes Iii des panischen Schreckens“, das ihre Aufmerksamkeit erregt. Der Fantasie-Bericht der Klassenkameradin über die angeblich Mädchen mordenden Juden löst eine „seltsame Angst“ aus und wird in keinem Augenblick bezweifelt. Zu dem Nährboden des Vorteils gehören also Angst, Mangel an eigener Erfahrung (Ich hatte zwar noch keinen Juden gesehen ...“) und Stereotypen aus Gesprächen der Erwachsenen. Insbesondere sie lassen den Erzähler keinen Augenblick zweifeln.

Die Angst, die sich in seiner Fantasie eingenistet hat, bewirkt, dass dem Erzähler auf dem Heimweg selbst die vertraute heimatliche Natur als bedrohlich erscheint. “Die Wiesen dufteten sinnverwirrend,  der Mohn neben den Raden lohte drohend,  doch nun war mir, als ob sie (die Natur, E. M.) mich von sich stieße und ein Riss aufbräche zwischen meiner Umwelt und mir.“ Die Angst wird so lähmend, dass der Erzähler unter Realitätsverlust leidet.
Zwar vermeint er erst zu sehen, dass das Auto, das auf ihn zufährt, braun ist mit drei Personen darin. Aber es verwandelt sich schnell in das grellgelbe Judenauto mit vier Menschenfängern, ganz der Grauen erregenden Erzählung der Klassenkameradin entsprechend. Typisch ist auch, dass der vom Vorurteil Befallene seine Wahrnehmungen für „unwiderlegliche Tatsachen“ hält. […] Der Ausgang der Erzählung ist für den sozialpsychologisch nicht Geschulten verblüffend..

Als das von ihm verehrte Mädchen den Bericht des Erzählers nun wirklich unwiderlegbar als ein Phantom der Fantasie entlarvt hat, packen ihn tiefe Scham und Wut. Er reagiert wie viele Vorurteilsbehaftete auf die das Vorurteil entkräftenden Tatsachen irrational. Er mag sich die Schuld an seinem Fehlverhalten nicht eingestehen. Er sucht sie nun gerade bei den Juden, wobei er die alten früher gehörten Stereotypen wieder heranzieht: „...und plötzlich wusste ich: Sie waren dran schuld! … Sie hatten alles Schlechte gemacht, das es auf der Welt gibt, sie hatten meinem Vater das Geschäft ruiniert, sie hatten die Krise gemacht und den Weizen ins Meer geschüttet. ...“. Am Ende steht das verfestigte Vorurteil, der Hass.“
                                                                                                                                                    Quelle: Herbert Fuchs und Ekkehart Mittelberg: Klassische und moderne Kurzgeschichten. Varianten – kreativer Umgang – Interpretationsmethoden. Lehrerheft. Berlin: Cornelsen. 4. Auflage 1988, S. 80ff. (mit kleinen stilistischen Veränderungen)

© Ekkehart Mittelberg, August 2014

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Kommentare zu diesem Text

alpeko (69)
(07.08.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.08.14:
Danke, Alpeko, in diesem Falle bin ich sehr sicher, dass sowohl die Kurzgeschichte als auch ihre Interpretation die Entstehung eines Vorurteils richtig wiedergeben,

 susidie (07.08.14)
Eine hervorragende Interpretation eines sehr interessanten Textes, der die - für mich - zentralen Punkte deutlich heraushebt. Einmal, dass die Angst ein Nährboden des Vorurteils ist, zum Anderen der Hass als verfestigtes Vorurteil. In der dir eigenen Professionalität geschildert und verständlich gemacht.Weckt außerdem Interesse am Originaltext von Fühmann. Vielen Dank dafür. Lieben Gruß von Su :)

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 07.08.14:
Grazie, Susi. Vorurteile haben unterschiedliche Ursachen. Aber sehr oft steht die dumpfe Angst vor etwas, was der Vorurteilsbehaftete nicht kennt, am Anfang.
Dass Vorurteile in Hass umschlagen können, macht sie so gefährlich.

Liebe Grüße
Ekki
gaby.merci (61) schrieb daraufhin am 07.08.14:
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 08.08.14:
Vielen Dank, Gaby.

LG
Ekki

 TassoTuwas (07.08.14)
Hallo Ekki,
mit Spannung gelesen.
Sollte Pflichtlektüre besonders für Erwachsene sein!
Herzliche Grüße TT

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 07.08.14:
Merci, Tasso, es könnte sein, dass mancher Erwachsene, der es liest, sich ertappt fühlt.
Herzliche Grüße
Ekki
BellisParennis (49)
(07.08.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.08.14:
Danke, Carsten, das freut mich sehr.

LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (07.08.14)
(...)nun wirklich unwiderlegbar als ein Phantom der Fantasie entlarvt hat, packen ihn tiefe Scham und Wut. Er reagiert wie viele Vorurteilsbehaftete auf die das Vorurteil entkräftenden Tatsachen irrational. Er mag sich die Schuld an seinem Fehlverhalten nicht eingestehen.
Das "Heilige Land" - anno 2014 - lässt grüßen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.08.14:
Trekan, du bist bestimmt nicht der Einzige, der diese Verbindung sieht und ich vermute, dass du sehr traurig darüber bist, so wie ich.
wa Bash (47)
(07.08.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.08.14:
Ich freue mich, dass das auch ohne den Originaltext spürbar wird.

Merci
Ekki
Pocahontas (54)
(14.08.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.08.14:
Sigi, dein Kommentar trifft den wunden Punkt. Danke!!

Liebe Grüße
Ekki

 Lluviagata (14.08.14)
Vorurteile, Ängste, die einem schon als Kind eingepflanzt werden ...

Eine hochinteressante Interpretation, die ich geradezu verschlungen habe!

Liebe Grüße
Llu ♥

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 14.08.14:
Merci, Andrea. Keiner soll sagen, ihm sei es als Kind und auch später noch anders ergangen. Jeder Ehrliche muss sich in dem Text wiederfinden.

Liebe Grüße
Ekki
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