Weihnachten. Vom Kitsch erwischt

Erzählung zum Thema Kunst/ Künstler/ Kitsch

von  EkkehartMittelberg

Ab dem Sommersemester 1958 studierte ich in Münster neben Griechisch und Germanistik auch einige Semester Persisch. Eine seltsame Kombination, werden Sie mit Recht denken. Doch war sie  nicht unbegründet. Damals beherrschten Perser (man sagte noch nicht Iraner) das Erdölgeschäft, und deswegen empfahl mir ein politisch erfahrener älterer Freund, neben den alten Sprachen, die damals schon vielen als brotlose Kunst erschienen, eine Sprache zu studieren, deren Kenntnis volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich gefragt war.

Ich lernte in der Mensa einen persischen Medizinstudenten kennen , der große Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte. Dies deswegen, weil ihm Kommunikation fehlte.Er war ungewöhnlich schüchtern und hatte selbst zu persischen Kommilitonen wenig Kontakt. So taten wir uns zusammen. Er half mir beim Studium der persischen Sprache und ich ihm beim Erlernen der deutschen.

Zu Weihnachten lud ich den einsamen Menschen zu mir nach Hause ein. Meine jüngere Schwester und deren Freundinnen waren entzückt; denn der Iraner sah ungewöhnlich gut aus, wusste dies aber offensichtlich nicht. Mit seiner rührenden Schüchternheit war er ein Frauentyp und auf dem Weihnachtsball der Mann, der alle Blicke auf sich zog.

Zunächst war aber deutsche Weihnacht in der Familie angesagt. Meine Eltern verstanden unter einem besinnlichen Christfest das Absingen nahezu aller damals bekannten Weihnachtslieder von „Haidschi bum Baidschi bum bum“ bis zu „Süßer die Glocken nie klingen“, jeweils mit mehreren Strophen. Unser Gast machte gute Miene zu diesem Spiel und summte ein wenig mit. Er hörte sich auch interessiert die Weihnachtsgeschichte mit den Mohrenkönigen aus dem Morgenland an.

Ich erkannte bald, dass ich berufliche Chancen mit der persischen Sprache überschätzt hatte, deren mühseliges Erlernen zu Lasten der alten Sprachen ging, die ich an der Schule zu unterrichten wünschte. Als ich dann den Studienort wechselte, verloren der Perser und ich uns aus den Augen.

Ich hatte meine erstes Staatsexamen absolviert und fuhr in die Universitätsbibliothek nach Frankfurt, um mir Fachliteratur für meine anschließende Arbeit über die Sprache der Bild-Zeitung zu beschaffen. Dort traf ich ihn wieder. Für mich unfassbar, wie er sich verändert hatte. Er sah immer noch gut aus, aber aus dem schüchternen Menschen war ein selbstbewusster, zynischer Dandy geworden. Nach kurzem Austausch von Erinnerungen an unsere ersten Studienjahre kam er unverblümt auf das Weihnachtsfest in meiner Familie zu sprechen. Das sei ja damals ein entsetzlicher kleinbürgerlicher Kitsch gewesen. Das Fatale war, dass er Recht hatte. Ich wusste das 1958 schon, aber ich mochte es mit Rücksicht auf meine Eltern, die es nicht besser wussten, ihm gegenüber nicht deutlich formulieren. Er hatte nicht in Betracht gezogen, dass ich zu dem Kitsch Distanz hatte und  hatte mich  verletzt. Wir haben uns nie wieder gesehen.

Seine schonungslose Offenheit bewirkte jedoch, dass ich mich später als Lehrer ernsthaft mit Trivialliteratur und also auch mit Kitsch beschäftigte.
An dem Weihnachtskitsch hat sich, wie Sie alle wissen, nichts geändert. Im Gegenteil, da Kitsch sich gut verkauft, ist er eher noch aufdringlicher geworden. Obwohl er mir auf die Nerven geht, weiß ich aber, dass es auch auf literarischen Plattformen Schlimmeres gibt, dümmliche Aggressionen nämlich. Man kann ihnen nicht so leicht aus dem Wege gehen wie dem Kitsch.

© Ekkehart Mittelberg, Dezember 2014

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(26.12.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.12.14:
Danke. Ein Kommentar, dem ich voll zustimme. So taktlos seine Offenheit war, sie beschäftigte mich deshalb nachhaltig, weil er nicht unrecht hatte.
B-Site (30)
(26.12.14)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 26.12.14:
Gibt es Rachekommentare? Die sie schreiben, werden es heftig bestreiten und behaupten, dass man berechtigte Kritik mit Rache verwechsle. Ich gebe dir Recht. Es gibt Rachekommentare, die mit Kritik nichts zu tun haben. Wer das nicht glaubt, möge lesen, welche Rachefeldzüge so berühmte Kritiker wie Karl kraus und Alfred Kerr gegeneinander führten. „Alfred Kerr nannte er ein reklamesüchtiges Intrigantchen, das Einsamkeit mimt, und eine "Feuilletonschlampe", dessen "Stil die letzten Zuckungen des sterbenden Feuilletonismus" darstelle. Kerr bezeichnete seinerseits Kraus als "Zwanzigpfennig-Aufguss von Oscar Wilde" als "Nietzscherl", der an "doppelter Epigonorrhöe" leide.“ http://www.ursulahomann.de/VerhasstUndVerehrtSeinCharakterbildSchwanktInDerGeschichteDerPublizistKarlKraus/kap001.html
Gruß
Ekki

 TrekanBelluvitsh (26.12.14)
Wie so oft ist es eine Frage der Einordnung. Ist man sich bewusst, dass man Kitsch vor sich hat oder hält man den Kitsch für das Leben? Bei Ersterem spricht nichts dagegen, Kitsch zu genießen, bei Letzterem wird es bedenklich.

 loslosch schrieb daraufhin am 26.12.14:
... Bei Ersterem spricht nichts dagegen, Kitsch zu genießen ...

auf der hammond-orgel spielen: "wir sind im wahren christentum. o herr, wir danken dir." da lebte ich auf!

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 26.12.14:
@Trekan und loslosch: Danke. Ich denke auch, dass alles darauf ankommt, ob man sich selbst durchschaut, wenn man Kitsch genießt. Wer es nicht tut, lebt mit dem Kitsch in einer irrealen Welt der manipulativen Übertreibung.
BellisParennis (49)
(26.12.14)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 26.12.14:
Danke Carsten, das Interesante ist, dass der von dir zitierte Spruch mit ganz unterschiedlichen Intentionen verwendet wird. Die einen benutzen ihn, um ihr Schwelgen im Kitsch zu rechtfertigen, die anderen, um eben dies undiskutiert zu kritisieren.

 Regina (26.12.14)
Der vormals Schüchterne greift schonungslos an, weil er seine Schüchternheit überwinden will. Wie so oft, findet der Mensch die Balance nicht, sondern verfällt von einem Gegenteil ins andere. "Heidschi, bumbeidschi" ist auch meiner Meinung nach eines der kitschigsten Lieder, die ich kenne, aber ich ringe jetzt gerade um eine Definition von Kitsch. Noch einen frohen zweiten Weihnachtsfeiertag. Reg

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.12.14:
Merci, Regina. Eine Definition von Kitsch ist schwierig und es gibt zahlreiche Beispiele, bei denen man trefflich darüber streiten kann, ob es sich um Kitsch handelt oder nur um triviale, also abgenutzte Stereotypen.
Ich biete hier eine Definition an, auf die man sich vielleicht verständigen kann:

"Wer von "Übertreibungen" spricht, gerät leicht in den Verdacht, dass er mit erhobenem Zeigefinger das rechte Maß der bürgerlichen Mitte gegen Extreme und Extremisten aller Arten zu verteidigen sucht. Das liegt mir fern, und deshalb beginne ich meinen Rundgang durch die Welt der manipulativen Übertreibungen mit der (klein)bürgerlichsten unter ihnen, mit dem Kitsch. Ich stütze mich dabei zunächst auf das von Gerd Richter vorgelegte "Kitsch-Lexicon von A bis Z" (Bertelsmann, Gütersloh, 1972; die Hervorhebungen in Zitaten aus diesem Buch wurden von mir vorgenommen. H. Sch.). In diesem auch bibliophile Leser ansprechenden Buch beschränkt sich Richter nicht darauf, sich ästhetisch anspruchsvoll von kleinkariertem Kitsch zu distanzieren, sondern er geht verständnisvoll auf ihn ein und verdeutlicht ihn in all seinen Facetten. Unter Verweis auf Walther Killy "Deutscher Kitsch, Versuch über den literarischen Kitsch", Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen, 1961) bietet Richter auf S. 11 eine erste Charakterisierung an: "Ein Kriterium des Kitschs ist die Häufung bestimmter stilistischer oder kompositorischer Elemente. Alles tritt im Übermaß auf, wird im Übermaß angewendet ... Also ist im Kitschwerk das Edle nur und ausschließlich edel, das Gemeine nur und ausschließlich gemein, das Süße nur süß ... Von allem wird die zehnfache Dosis gegeben". Im Unterschied zum Kunstwerk sei das Kitschwerk eben ein Werk der eher "billigen" Effekte, wenn auch, wie Walther Killy schrieb, gelegentlich im "gehobenen Stil", wo "alles aufgeboten (wird), was gut und teuer ist". Natürlich meint hier "billig" den Geschmack, und "teuer" nur den manchmal übertrieben hohen Preis!"
www.hansschauer.de/html/dir4/ch07s04.html
janna (66)
(26.12.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.12.14:
Liebe Janna, nach der wissenschaftlichen Definition von Kitsch (siehe unter Regina) war der von dir geschilderte häusliche Weihnachtsschmuck wahrscheinlich kein Kitsch, weil darin kein Übermaß erkennbar ist. Die von dir erwähnten illuminierten Häuser sind deshalb oft kitschig, weil die Tendenz zur Überteibung deutlich wird und weil die verwendeten Symbole mit dem Kern des Weihnachtsfests, der Geburt Christi, nur entfernt oder gar nichts zu tun haben

 AZU20 (26.12.14)
Man sollte natürlich auch aufpassen, nicht zu überheblich über andere zu urteilen. Für deine Eltern, lieber Ekki, war das Weinachtsfest in dieser Form offensichtlich wichtig un d deshalb auch richtig. Sie sind mir allemal lieber als Dein persischer Dandy. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.12.14:
Danke, Armin. Das Verhalten des Iraners war tatsächlich taktlos bzw. überheblich. Ich hatte ihn ja nicht gebeten, seine Meinung zu sagen.

LG
Ekki

 TassoTuwas (26.12.14)
Ich stelle mir eine Skala vor die von Kunst bis Kitsch geht, mit zahlreichen Zwischenstufen und ich denke mir, die gleiche Sache wird von verschiedenen Menschen an unterschiedlichen Punkten dieser Skala festgemacht.
Es stellt sich die Frage, gibt es eine objektive Beurteilung.
Weihnachten mag Kitsch sein, oder Tradition oder Teil unser Kultur. Jeder so wie er mag. Manchmal bedarf es des Taktes andere in ihrem subjektiven Verirrung zu belassen.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.12.14:
Merci, Tasso, so denke ich auch. Man sollte nicht gerade Weihnachten anfangen, die Welt verändern zu wollen.
Herzliche Grüße
Ekki
Gringo (60)
(26.12.14)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.12.14:
Grazie für den Klartext, Gesine.

Liebe Grüße
Ekki

 Sanchina (29.12.14)
Ich bin mir fast sicher, die persische Mutter hätte ihrem Flegel eine Rüge erteilt, hätte sie gewusst, wie er sich im Gastland benommen hat.
Zur Gastfreundschaft gehört doch auch, dass sie vom Gast gewürdigt wird.
Danach erübrigt sich die Frage, was Kitsch ist. Kitsch ist meiner Meinung nach undefinierbar, weil zu subjektiv empfunden.
Gruß, Barbara

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.12.14:
Danke, Sanchina, ich könnte mir auch gut einen Verweis von der persischen Mutter vorstellen.
Aber wenn du im thread weiter noch oben schaust, wirst du feststellen, dass Kitsch definierbar ist, jedenfalls in der Literaturwissenschaft. Selbstverständlich gibt es eine Grauzone, innerhalb derer der eine strenger, der andere großzügiger urteilt.
Als unbestrittenes Beispiel für Kitsch innerhalb der Trivialliteratur muss immer wieder Hedwig Courths-Mahler herhalten.

Gruß
Ekki
(Antwort korrigiert am 02.01.2015)
(Antwort korrigiert am 02.01.2015)

 TrekanBelluvitsh (06.01.19)
Die Kritik ist angebracht. Jedoch wird Tradition, die der Tradition willen betreiben wird, immer zu Kitsch. Und das auch leider nur im besten Fall. Inhaltlich ausgehöhlte, sich ständig wiederholende Gewohnheiten sind die Grundlage einer jeder Art von Fundamentalismus.

Doch wenn du 30 Minuten Zeit hast, kannst du dir hier - zumindest im Augenblick noch - einen sehr vergnüglichen und unter der Oberfläche ernsten Blick auf das anschauen, was Tradition wirklich sein bzw. bewirken sollte:  Neues aus Büttenwarder - Folge 20: Silvester.
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