Der Fingerzeig

Erzählung zum Thema Glaube

von  Bluebird

Illustration zum Text
(von Bluebird)
Am nächsten Tag informierte ich telefonisch meine Eltern, dass ich bei der Diplomarbeit durchgefallen war. Natürlich waren sie nicht gerade begeistert. „Und“, fragte mein Stiefvater, „wirst du die Arbeit noch einmal schreiben?“
    Die Frage hatte ich natürlich erwartet und beschlossen, nicht groß drum herum zu reden. „Du“, sagte ich, „ehrlich gesagt weiß ich das noch gar nicht so genau. Ich kann mir auch gut vorstellen, es dabei bewenden zu lassen.“
    Ein Moment des Schweigens am anderen Ende der Leitung. Dann sagte er: „Nun gut, das ist dein Leben und natürlich deine Entscheidung. Ich werde Dir bis auf Weiteres die Miete überweisen, aber für deinen sonstigen Lebensunterhalt wirst du ab nächsten Monat dann schon selber aufkommen müssen."
    Ich schluckte kurz:„Ja, danke“ entgegnete ich, „ das ist fair!“ „Überleg dir das“, setzte er noch einmal an, „falls du die Diplomarbeit noch einmal schreibst, erhältst du auch wieder die volle Unterstützung.“

Das Gespräch hatte den erwarteten Verlauf genommen. Die Entscheidung lag nun bei mir. Sollte ich jetzt Gelegenheitsarbeiten nachgehen? Oder doch die Diplomarbeit wiederholen? Oder gab es vielleicht noch eine ganz andere Lösung? Was war der Wille Gottes in dieser Situation?
    Plötzlich fiel mir ein, dass am darauf folgenden Samstag ein berühmter Prediger  ins Jesus-Haus kommen würde. Solche Männer schienen immer einen besonderen  Draht nach oben" zu haben. Vielleicht kann ich ihn ja um ein Gebet bitten? Und vielleicht lässt Gott mir dann ja durch ihn eine Antwort zukommen. Ich beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

An dem darauf folgenden Samstagabend ging ich dann tatsächlich nach der Predigt zu jenem bekannten Prediger, dessen Name ich allerdings hier nicht nennen möchte. Ich erklärte ihm kurz meine Situation und bat ihn für mich zu beten. "Ich hätte gerne eine Antwort von Gott, was ich nun tun soll", sagte ich.
  Zu meiner großen Überraschung machte er gar keine Anstalten zum Gebet, sondern griff stattdessen hinter sich. und hielt mir seine in schönes Leder eingebundene Bibel hin. „Da brauchen wir Gott gar nicht erst zu fragen. Die Antwort steht hier drin“. Ich blickte ihn fragend an. Machte er "Witze"?
  „Ja“, meinte er, „die Antwort steht im Brief des Paulus an die Thessalonicher.“  Er schlug die Bibel auf, blätterte kurz darin herum und hielt sie mir dann hin. „Hier lies vor! 2. Thessalonicher 3 Vers 10!“ Ich nahm die Bibel und las vor: "Denn als wir bei euch waren, haben wir euch die Regel eingeprägt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. „Siehst du“, sagte er,  "da hast du deine Antwort.“
    Für einen Moment war ich wie vor den Kopf geschlagen und überlegte, wie ich reagieren sollte. Mal abgesehen von seinem ziemlich arroganten Verhalten schien mir dies keine Antwort auf meine Frage zu sein. Es war ja nicht so, dass ich nicht arbeiten wollte. Meine Frage hatte ja gelautet, ob ich mir jetzt  - in dieser ungeklärten Situation - eine Arbeit  suchen sollte.
    Ich entschied mich,  keine Diskussion mit ihm zu beginnen. Vielleicht war ihm ja genau diese Antwort gerade eben eingegeben worden. Und so sagte ich nur: „Gut, danke schön!“ und gab ihm seine Bibel ohne einen weiteren Kommentar zurück.

Am Montag machte ich mich dann vormittags auf den Weg zur studentischen Jobvermittlung. Wenn der Prediger wirklich mir den göttlichen Willen verkündet hatte, würde ich hier vermutlich auch einen Job finden.
Ich musste nicht lange warten, bis ich aufgerufen wurde. Und dann ging Alles ganz schnell. „Sie kommen wie gerufen“, sagte der Sachbearbeiter. „Gerade eben ist ein Arbeitsangebot für zwei Wochen eingegangen.“
    Wenig später radelte ich mit meinem Fahrrad in Richtung Hafen.Hat der Prediger also doch recht gehabt!  ging es mir durch den Kopf.

Der Vertrag mit der Firma war schnell geschlossen und der Personalleiter führte mich persönlich an meinen Arbeitsplatz. In einer großen Lagerhalle saßen an mehreren langen Tischreihen einige ältere Männer, die nun von ihrer Arbeit aufschauten.
    „So“, sagte der Personalleiter, als wir in der vorderen Reihe an einem leeren Tisch angekommen waren. „Das ist für die nächsten zwei Wochen Ihr Arbeitsplatz. Herr Gunter“, er zeigte auf den Mann am rechten Nebentisch, „wird Ihnen alles Weitere erklären.“ Nach diesen Worten drehte er sich um und bewegte sich wieder Richtung Ausgang. Einen Moment lang stand ich etwas irritiert da, dann hielt ich Herrn Gunter die Hand hin und sagte: „Hallo, mein Name ist Heiner!“

Meine Aufgabe - und die der Anderen - bestand nun darin, kleine Baukästen genau nach Vorschrift zusammenzubauen und sie dann in eine große Kiste hinter mir abzulegen. Einen Baukasten schaffte man in etwa eine Viertelstunde, so dass vier  Baukästen in der Stunde der übliche Schnitt waren.
    Herr Gunter neben gab mir anfangs einige praktische Tipps. Und als er sah, dass ich es verstanden hatte, stellte er die üblichen persönlichen Fragen. Wie alt ich sei, was ich sonst so mache usw.. Und natürlich so laut, dass auch die Neugier der Anderen gestillt wurde.
    Nachdem ich einige Auskünfte gegeben hatte, begann er mir der Reihe nach die Vornamen und die Dauer der Firmenzugehörigkeit der im Raum Anwesenden zu nennen. Ich staunte nicht schlecht, dass einige schon über dreißig Jahre in der Firma beschäftigt waren.
    „Und“, fragte ich, „wird das denn nicht auf Dauer langweilig, immer diese Baukästen zusammenzubauen?“ Herr Gunter und einige Andere lachten. „Nein, das mit den Baukästen ist doch nur eine auf zwei Wochen befristete Auftragsarbeit. Danach gibt es dann einen anderen Auftrag.“  Ein Anderer ergänzte: „Es ist natürlich schon etwas stupide, aber irgendwie müssen wir ja leben. Und der Job hier ist so gut oder schlecht wie jeder andere, der für uns in Frage käme.“
Der Nachmittag verging bei Arbeit und angeregten Gesprächen wie im Fluge. Hat richtig Spaß gemacht, dachte ich, als ich mich auf dem Heimweg befand. Ich war mir sicher: Die zwei Wochen werde ich locker überstehen.

Am nächsten Morgen fuhr ich in aller Frühe los, so dass ich pünktlich um sieben Uhr an meinem Arbeitsplatz saß. Meine Euphorie vom Vortage war verflogen. Aber das konnte auch an der Tageszeit liegen. Die war nun wirklich nicht unbedingt mein Fall.
  Die Anderen schienen ihr Interesse an mir verloren zu haben. Jeder arbeitete stumm vor sich hin. Nur hin und wieder fand ein kurzer Wortwechsel statt.
    Nachdem ich drei Bausätze zusammengebaut hatte, begann ich mich zu langweilen. Es war einfach eine  stupide Arbeit, wenn man ansonsten dabei keine Ablenkung hatte. Aber gut, ich bin ja nicht zu meinem Vergnügen hier, dachte ich und schaltete auf Durchhaltemodus um. So schaffte ich es dann einigermaßen gut in die Mittagspause.
    Aber dann  am Nachmittag brachen bei mir alle Dämme. Ich quälte mich regelrecht durch die Stunden. Auch meine ständigen flehentlichen Blicke zur großen Wanduhr halfen nicht. Die Zeit verstrich elendig langsam. Dann endlich gegen 16 Uhr ertönte die erlösende Schlusssirene.
    Auf dem Heimweg gingen mir die verschiedensten Gedanken durch den Kopf: Wenn die Arbeit Gottes Wille wirklich ist, wieso geht es mir auf einmal so schlecht damit? Will Er mich prüfen? Oder mir zeigen, dass nun der Ernst des Lebens begonnen hat?  Wie soll ich die nächsten Tage überstehen? Allein schon bei dem Gedanken an den nächsten Morgen graute es mir. Erneut würden acht quälende Stunden vor mir liegen.
    „Ach was soll`s!?“ sagte ich zu mir. „Ich fahr heute Abend erst einmal zum Hauskreis von Silke und Thomas. Vielleicht komme ich ja da auf andere Gedanken.“

Der Abend im Hauskreis verlief für mich nicht gut. Ich war von Anfang an irgendwie genervt und das Meiste rauschte einfach so an mir vorbei. Immer wieder ging mir meine Arbeitssituation durch den Kopf. Dann, nach der Andacht und einer kleinen gemeinsamen Gebetszeit, begann der sogenannte gemütliche Teil des Abends. Ich hatte mich gerade mit einem Teller Kartoffelsalat auf das Sofa verzogen, als sich plötzlich Silke neben mich setzte. Sie lächelte mich an und sagte: "Wie geht`s dir, Heiner?“
  Ich stocherte mit der Gabel im Salat rum und entgegnete: „Wie soll`s schon gehen? So wie immer!“ „Wirklich?“, entgegnete sie. „Also auf mich wirkst du heute Abend so, als wenn dir mächtig der Schuh drücken würde. Du wirkst ziemlich gereizt und abwesend. Ganz anders als sonst.“
    Okay, sie hatte mich durchschaut! Und vielleicht half es ja, wenn ich mit irgend jemanden über die ganze Angelegenheit sprach. "Ach“, sagte ich, „das ist vermutlich wegen dieser neuen Arbeit. Ich muss mich wohl erst einmal daran gewöhnen.“ „Du arbeitest?“, fragte sie erstaunt.
   
Und so erzählte ich ihr dann die ganze Geschichte, angefangen vom Scheitern in der Diplomarbeit, dem Gespräch mit meinem Stiefvater, dann dem Rat des Predigers und nun meiner stupiden Arbeit in der Firma. „Tja“, sagte ich“, aber das ist nun mal Gottes Wille. Da muss ich jetzt irgendwie durch."
    Silke, die die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, entgegnete ohne zu Zögern: "Nein“, sagte sie, „wenn dir das so schwerfällt, dann ist das bestimmt nicht Gottes Wille. Er überfordert uns nicht!“ Ich schaute sie verblüfft an. Dann wurde ich richtig sauer: „Das ist doch Blödsinn! Natürlich ist das Gottes Wille. Du siehst doch, wie eins zum Anderen passt!“ „Nein“, sagte sie, "da passt in meinen Augen gar nichts! Vielleicht solltest du zuhause noch einmal über diese Sache beten!“
    Das gibt es doch nicht, dachte ich frustriert. Wie kommt sie dazu, so etwas zu behaupten? Wenig später verließ ich den Hauskreis und fuhr mit meinem Fahrrad durch die dunkle Nacht nach Hause.

Am nächsten Morgen stand ich gegen 5.30 Uhr auf. Ich fühlte mich elendig. Während ich mir einen Kaffee zubereitete, fielen mir wieder die Worte von Silke ein: „Frag doch einfach noch einmal bei Gott nach, ob die Arbeit wirklich das Richtige für Dich ist.“
    Ich wollte mich gerade schon wieder ärgern, als ich plötzlich dachte: Warum eigentlich nicht? Schaden kann es ja eigentlich nicht! Und so stellte ich die Kaffeetasse erst einmal beiseite und setzte mich hin. Nach einem kurzen Moment der Besinnung betete ich dann: „Herr, ich will jetzt nicht viele Worte machen. Bitte zeige mir, ob die Arbeit das Richtige für mich ist oder nicht. Amen!“
    Einen Moment saß ich noch still da, als mir plötzlich einfiel, dass es kurz vor Monatsende war und ich überhaupt kein Geld mehr hatte. „Ach ja“, begann ich erneut, „und bitte lass mir doch etwas Geld zukommen. Vielleicht durch jemanden, der mir etwas leiht. Amen“  Danach trank ich meinen Kaffee aus und verließ die Wohnung-.

Draußen war es noch dunkel und regnete es. So zog ich mein gelbes Regencape über und fuhr los. Ich mochte vielleicht ein Drittel des Weges zurückgelegt haben, als ich plötzlich im rechten Augenwinkel ein Auto wahrnahm. Es näherte sich langsam von einer Seitenstraße her. Da ich mich aber auf einer Hauptstraße befand, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber. Spätestens am Stoppschild würde er schon anhalten.
    Als der Wagen dann Sekunden später  im Zeitlupentempo direkt auf mich zurollte, war es zum Reagieren schon zu spät. Ungläubig nahm ich wahr, wie die rechte vordere Wagenseite sich knirschend ins Hinterrad bohrte. Dann standen Wagen und Fahrrad still.

Ich stieg vom Rad und starrte fassungslos auf das völlig demoliertes Hinterrad. Ein Mann mittleren Alters stieg aus dem Wagen und fragte besorgt: "Haben Sie sich verletzt?" Ich schüttelte den Kopf. "Soll ich die Polizei rufen?", fragte der Mann weiter. "Nein", sagte ich," es ist alles in Ordnung!" Ich hob das Hinterrad etwas an und schob mein Fahrrad auf den Seitenstreifen.
    Plötzlich stand der Mann neben mir. „Es tut mir leid! Ich weiß nicht, wieso ich Sie nicht gesehen habe. Ich kann mir das nicht erklären.“ „Ist schon gut," sagte ich, „ es ist ja nichts Schlimmes passiert." Er starrte nun auf mein Hinterrad: „Schlimm genug! Kann ich Ihnen denn wenigstens etwas Geld als Entschädigung anbieten?“ "Nein“, entgegnete ich, „ich komme schon klar!“ Ich wollte jetzt einfach nur meine Ruhe haben und alleine sein.
    Aber er ließ nicht locker: " Sie brauchen doch ein neues Hinterrad. Kommen Sie, ich gebe Ihnen etwas Geld! Wie viel wollen Sie haben? Reichen 50 DM?" Plötzlich fiel mir ein, dass ich ja ein halbe Stunde zuvor Gott um etwas Geld gebeten hatte. Wollte Er es mir etwa auf diesem Wege zukommen lassen? Gut", entgegnete ich, "geben Sie mir 20 DM!"
    "Aber das ist viel zu wenig", protestierte er, "also wenigstens 30 DM sollten Sie schon nehmen." Er griff in seine Jackentasche und holte ein Portemonnaie hervor. Kurz darauf hielt er mir einen Zwanziger und einen Zehner hin. Ich nahm den Zwanziger und sagte "Danke. Gute Weiterfahrt!" Der Mann steckte den Zehner wieder ein, stieg in seinen Wagen und fuhr los.

Ich war noch wie benommen, als ich jetzt mit meinem Fahrrad und dem Zwanzigmarkschein in der Hand am Straßenrand stand. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Ich versuchte, dass Hinterrad gerade zu richten. Zwecklos! Es war völlig demoliert und eine Weiterfahrt nicht zu denken. Und nun? , dachte ich, was soll ich nun machen?
    Einen Moment überlegte ich, ob ich das Fahrrad abstellen und eine Straßenbahn nehmen sollte. Ich würde zwar mit Sicherheit zu spät auf der Arbeit ankommen, aber es war ja sozusagen "höhere Gewalt" gewesen. Moment mal, dachte ich, ich habe vorhin doch gebetet, dass Gott mir zeigen möge, ob die Arbeit das Richtige für mich ist. Und ich habe um etwas Geld gebeten. Ich schaute erst das Fahrrad und dann den Zwanziger an.
    Und auf einmal begriff ich. Ich hatte soeben einen unmissverständlichen Fingerzeig Gottes erhalten. Mein Weg zur Arbeit war gestoppt worden und etwas Geld hielt ich jetzt auch in den Händen, so dass ich den Rest des Monats überstehen würde.
    "Danke!", sagte ich, meinen Blick himmelwärts gerichtet, und schob dann mein Rad auf dem Vorderrad Richtung Jesus-Haus. Das Thema Arbeit war für mich damit erst einmal erledigt!


Anmerkung von Bluebird:

Folge 20 meiner autobiografischen Kurzgeschichten-Sammlung und Fortsetzung von meiner autobiografischen Bekehrungsgeschichte  hier aus dem Jahre 1985

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