OM AH HUNG VAJRAGURU PEMA SIDDHI HUNG
Betrachte einen einzigen Erdentag und du blickst auf ein Meer von Leiden. Ohne Anfang, ohne Ende, ohne Erkennen der Ursache, sich immer wieder wiederholend.
Und zugleich scheint doch die Sonne für jeden, zugleich keimt der Versuch des Lebens, dem Lichte nach Vollendung zu verwirklichen.
Will nicht jegliches geliebt werden?
Doch ist es nicht die Sonne, von der Lichtendes ausgeht. Es gibt viele Fixsterne im Weltall - keinem von ihnen ist Dauer beschieden.
Erleuchtung verkörpert im Vajrayana der Lehrer, von dem der Schüler durch Einweihung mit dieser hier im Folgenden kurz besprochenen Praxis vertraut gemacht wird. Erleuchtung in Körper, Rede und Geist.
Buddha, der Verwirklichte, ist jenseits von Kommen und Gehen, jenseits aller sich in Abhängigkeit verstrickender Gegensatzpaare. Der Buddhazustand ist aus sich selbst leuchtendes Licht, welches sich im Diesseits je und je manifestiert, um die Befreiung aller Wesen vom Leid voranzutreiben.
In der "Guru-Yoga" genannten Praxis wird der Lehrer im Geist angerufen, er möge den Buddha-Geist mit dem unerleuchteten seines Schülers mischen, auf daß auch dieser den Segen der Befreiung erlangen möge.
Das Band des Segens aus der Zeit des historischen Buddhas Sakyamuni ist, anders als im Westen, bis heute undurchtrennt. Es geht von Lehrer zu Schüler durch alle Entwicklungsphasen. Ohne den Segen, dh. ohne die Kraft eines verwirklichten Buddhas sind wir im Auf und Ab der Welten verloren.
Man visualisiert den Lehrer traditionell als leuchtenden Buddha auf einer geöffneten Lotusblüte über dem Kopf, wo nach Wissen der Alten das "Sahasrara-Chakra", der tausendblättrigen Lotus sich befindet: ungefähr eine Handbreite jenseits der Schädelöffnung.
Die tausend Blätter symbolisieren die zahllosen, hauchfein geordneten Energieströme, welche beim Visualisieren, einmal in Fluß gebracht, diese Form annehmen. Der Lotus ist im Orient schon immer Symbol für transzendete Unbeschmutzbarkeit durch die Welt: Er wächst aus dem trüben Wasser des Unbewußten (- der sinnlichen Begierden), um hernach als Bewußtsein zu erblühen.
Am Anfang steht die Zuflucht zu den drei Wurzeln: Lehrer, Lehre und all denen, welche die Lehre reinen Herzens praktizieren. Danach folgen weitere Herbeizitierungen, Anrufungen und Mantras. Der Lehrer - der Buddha - verspricht darauf, so der Ritus, der Bitte seines Schülers, er möge zum Nutzen aller Wesen mit dem Kontemplierenden verschmelzen und aus Barmherzigkeit nicht ins Nirvana eingehen, nachzukommen und löst sich in Licht auf, das im Herzen des Praktizierenden mit diesem verschmilzt. Beim zweiten Durchgang verschmilzt es mit dem Kehlchakra und beim dritten mal mit dem der Stirn. So sollte man es klar visualisieren. Aber auch wo es anfänglich nur undeutlich wahrgenommen wird, versagt der Segen Buddhas dewegen nicht im mindesten.
Dann folgen Vergegenwärtigungen, wie etwa diese: "Die Präsenz wurde nie geboren und ist nie zu gebären. Sie erscheint von selbst, ununterbrochen und ununterbrechbar ..." usw. Danach wird das Gute, welches aus solcher und ähnlicher Praxis entsteht, mit allen Wesen, die alle, ohne Ausnahme, die Buddhanatur haben, geteilt, dh. das Segenslicht bleibt nicht beim Schüler, sondern kommt aus dessen Herzen über alle Verdunkelung.
Das ist in einer sehr verkürzten Form eine Darstellung dessen, was beim Guruyoga evoziert wird.
Es ist auch zugleich ein "Dharmakaya-Phowa" - dh. eine Bewußtseinsüberführung in den Wahrheitszustand beim Verlassen der sterblichen Hülle.
Nach dem Verständnis der Tibeter verläßt das Bewußtsein des Verstorbenen den Körper durch diejenige Öffnung, die in direkter Verbindung mit dem Bereich steht, in dem man wiedergeboren wird. Daher wird das Verlassen durch die Schädelöffnung bevorzugt, das alleine Befreiung aus Samsara garantiert.
II
Die Praxis des Guruyoga mag westlichen Rationalisten befremdlich erscheinen. Sie seien dran erinnert, daß das Unterbewußtsein des Menschen nicht auf die Ratio hört, so klug sie auch sei, sondern einer einfacheren Dynamik folgt - der parasymphatischen der Bilder. Vor allem Urbilder wie diesen: Die Vollkommenheit des Blutes als Lebenselixier zeigt sich in der Blüte des geöffneten Lotus. Blut und Blüte - an dieser Stelle möchte ich einmal an die wunderbare deutsche Dichtersprache erinnern, welche geistiges Wachstum durch Begriffsbilder wie eine Schwangere in sich trägt, selbst heute noch, wo sie immer stärker mit bloßen Funktionsbegriffen verunreinigt wird. Blut und Blüte entsprechen einander vollkommen.
Die Farbe des Blutes ist rot und hat wiederum eine Entsprechung zum Element Feuer, dessen Wärme aufwärts steigt. Dieses "irdische" Feuer ruht latent an der Basis der Wirbelsäule, dem sogenannten "Muladharachakra" oder Wurzelzentrum. Es hat nur vier Blütenblätter, entsprechend der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde.
Sein Gegenstück am Scheitelpunkt ist der tausendblättrige Lotus, dessen weisse Licht-Qualität in absteigender Verdichtung zum Samen wird. Blut und Samen sind, wo ihre Träger sich begegnen, die Voraussetzung für neues Leben. (Auf die Krafträder zwischen Wurzel- und Scheitelzentrum kann hier nicht näher eingegangen werden. Ich verweise daher an die einschlägige Literatur, sowie ans Internet.)
Eine Lotusgeburt nennen wir dasjenige Wesen, das keine Anhaftung mehr an Illusionen hat, aber die Not in der Scheinwelt erkennt und beschließt, sich ihrer aus Mitgefühl zuzuwenden.
Solche Wesen - Bodhisattvas - manifestieren sich, statt den Weg über einen Schoß zu nehmen, gleich auf dem strahlenden Energiegeflecht ihrer vollverwirklichten Blüte, da mit den Illusionen auch logischerweise die Abhängigkeit von Zeit aufgehoben ist.
Padma Sambhava (10. Jh.- "Wenn der Eisenvogel fliegt und die Ochsen auf Räder laufen, kommt der Dharma in den Westen") gilt den Tibetern als der lotusgeborene Buddha. Sie verehren ihn als Guru Rimpoche, als vollkommenen Lehrer, der sich in vielerlei Lichtformen offenbart - so oder so - zornvoll, neutral oder friedlich, ganz wie es erforderlich ist, um uns Narren den Dämon der Narretei zu zeigen, den wir verkörpern.
Sobald einer vertrauensvoll und verbunden mit dem Kraftwort (Mantra) an ihn denkt, ist er da, schneller, als ein Fingerschnippen:
Das ist die direkte Sichtweise des tantrischen Buddhismus Vajrayana, des Buddhismus in unsrer Zeit.
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