Womöglich atembar

Sonett zum Thema Abschied

von  Isaban

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Der rote Mond rankt wächsern durch das Fenster
in Kohlewolken fläzt der nächste Schnee.
Ich züchte Kerzenschein und Fruchtgelee
vom letzten Sommer nährt die Taggespenster.

An Ästen hangelt klirrer Baumbewuchs;
wenn die Laterne aufgeht, schimmert er.
Der Himmel schweigt vereist und schwer.
Durch meinen Garten schleicht ein kalter Fuchs.

Was hier nicht hingehört, ist gut zu sehen.
Was wirklich fehlt, ist unsichtbar.
Vielleicht wird bald ein Frühlingslüftchen wehen,

der Himmel wird womöglich wieder klar,
eventuell wird er ja, wie er war,
morgen oder übernächstes Jahr.

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Kommentare zu diesem Text

Marjanna (68)
(07.01.18)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Isaban meinte dazu am 07.01.18:
Hallo du!
Es freut mich ungemein, dich hier zu lesen. Ebenso freut mich selbstverständlich, dass du dich mit meinem Text beschäftigen mochtest. Ich genieße es immer, wenn sich jemand mit den stilistischen Mitteln auseinandersetzt. Hab vielen herzlichen Dank für deine Rückmeldung und natürlich für die Interpretation.

Liebe Grüße

Sabine

 juttavon (07.01.18)
Gelungene expressionistische Bilder in den ersten beiden Strophen, in die ich mit allen Sinnen eintauche, so dass es mich fröstelt.

Dann auf einmal reflektierende Distanz: "Was hier nicht hingehört"... und Gedanken an eine Zukunft, mit zögernder bis zweifelnder Haltung ("Vielleicht", "womöglich" , "eventuell"), was die Distanz noch verstärkt.

Es bleibt ein Schweben zwischen Vergangenheit ("vom letzten Sommer"), realer eisiger Öde und Zweifel an der Zukunft.

Das ist stark inszeniert!
Danke.
HG Jutta

 Isaban antwortete darauf am 08.01.18:
Hallo Jutta,

herzlichen Dank für deine Rückmeldung und die stimmige Interpretation. Das Sonett bietet uns eine tolle Möglichkeit, These, Antithese und Synthese komprimiert und dennoch in einzelnen Bildern ausgeleuchtet darzustellen - einer der Gründe, warum ich diese Gedichtform so liebe.

Liebe Grüße

Sabine

 Irma (09.01.18)
Auf den ersten Blick ein anheimelndes Winterbild in den Quartetten: Das rote Licht des Mondes, der wie eine Laterne aufgeht, Schneefall und dampfende Schornsteine, Kerzenschein und süßes Fruchtgelee vom letzten Sommer, der Blick durchs Fenster hinaus in den Garten, durch den ein Fuchs streift, Ruhe und Stille ringsum, Gemütlichkeit pur (selbst der Schnee fläzt).

Und doch erweist sich diese Idylle bei genauerem Hinsehen als trügerisch: In den Kohlewolken verschmutzt der frische Schnee (vielleicht ist auch diese Smogwetterlage schuld am ‚roten‘ Mondlicht?). Das Fruchtgelee nährt die Taggespenster: Sorgen, gefüttert mit süßen Erinnerungen.

(Nährt die Nachtgespenster‘ wäre anaphorisch sicher toll, aber was sind schon Nachtgespenster? Sie verschwinden, wenn man das Licht anknipst. Man muss sich nicht wirklich fürchten. Taggespenster sind viel unheimlicher, realer, sie lassen sich nicht so leicht vertreiben.)

Alles Licht und das Gefühl von Wärme muss mühsam erhalten (gezüchtet) werden. Denn im zweiten Quartett dringt brutal die klirrende Kälte in das Leben ein (auffällige attributive Verbindung von 'klirren' zu 'Bewuchs'). Die Stille wird zum Schweigen des Himmels (eine Hebung fällt weg), und das Licht der Mondlaterne wird eiskalt reflektiert.

Selbst aus dem vermeintlich alten wird ein kalter Fuchs, und diese Unterkühlung spiegelt sich auch im Reim wider: wuchs - Fuchs (Verhärtung). Das umarmende Reimschema (abba) verwandelt sich damit in eine eisige Umklammerung.

Das Einfrieren / Erstarren kommt auch wunderbar durch die Verbindung / Gegenüberstellung von Wachs (polysem) und Wuchs zum Ausdruck: Das Mondlicht rankt (wächst) wächsern durch das Fenster. Der klirre (erfrorene) Baumbewuchs reflektiert im Licht der Mondlaterne. Überall Verlangsamung: Mondlicht rankt wächsern, Schnee fläzt, der Fuchs schleicht. Das Leben läuft langsam ab und am Auge von LyrIch vorbei.

Die Terzette erwecken zunächst den Anschein von Hoffnung. Aber was tot(gesagt) ist, lässt sich nicht mehr zum Leben erwecken. Das Frühlingslüftchen (Frühling = Wachs-tums-zeit) bleibt eine Illusion, und der Klammerreim der Quartette wird zu einem Festklammern an einer vermeintlichen Errettung: ‚Klar‘ - es wäre möglich. Womöglich. Scheinbar.

Die Reimverbindung (sehen - Frühlingslüftchen wehen) lässt noch einen Augenblick lang die Hoffnung auf die Wiedereinkehr von Bewegung in der Erstarrung bestehen. Aber sie wird sofort wieder ausgemerzt (ausge-märz-t). Auch wenn sich LyrIch noch so sehr an eine himmlische Errettung klammern mag (Wiederholung Z.7 Der Himmel schweigt vereist und schwer - Z.12 der Himmel wird womöglich wieder klar).

Der atemberaubende Titel (Womöglich atembar) fließt durch die Wiederholung des ‚womöglich‘ und die Endung -bar (atem-bar, unsicht-bar) sowie die Reimverbindungen zum letzten Terzett (klar, war, Jahr) zäh in die Lungen und führt zu einer schieren Atembeklemmung (nicht nur bei LyrIch, sondern auch beim Leser).

„Was hier nicht hingehört, ist gut zu sehen.“ (Z.9) Ja, es gibt hier Widersprüchliches, Ungereimtes. Was wirklich fehlt, ist unsichtbar.“ (Z.10) Es fehlt die Luft zum Atmen, Durchatmen. Und es fehlt ein wahrer Glaube an Veränderung und Verbesserung (und wieder einmal die fünfte Hebung).

Der Himmel wird rauchverhangen bleiben, er wird nicht wieder 'klar' werden (weder morgen, noch in noch so ferner Zukunft). In diesen beiden Zeilen liegt die zentrale Aussage des Sonetts.

Das einzige, was in meinen Augen wirklich fehlt und doch nicht fehlen darf, ist das Komma nach Kerzenschein in Z.3. (Es klingt zunächst schön, Kerzenschein und Fruchtgelee zu züchten, aber man stolpert dann umso härter in den vierten Vers hinein, und das muss nicht sein.)

Ansonsten ein mich nicht nur tief beeindruckendes, sondern auch ob seiner Thematik sehr berührendes Sonett. Du hast es wieder einmal geschafft, liebe Sabine, ein mich genau betreffendes Thema zu verdichten. (Meine Schwiegermutter liegt derzeit im Krankenhaus. Sie konnte sich kaum noch an der Weihnachtszeit erfreuen, sieht nur noch die schwarzen Wolken am Himmel.) Uns bleibt wenig Hoffnung auf Besserung. Klar, sie ist manchmal auch 'klar'. Aber dann grübelt sie die ganze Zeit. (Und in ‚grübeln‘ steckt halt das Wort ‚übel‘. )

Ich grüße dich lieb und wünsche dir alles Liebe und Gute für das neue Jahr, LG Irma

Kommentar geändert am 09.01.2018 um 12:43 Uhr

 Isaban schrieb daraufhin am 09.01.18:
Hallo Irmchen,

was für eine geniale Interpretation! Du machst mich - und das nicht zum ersten Mal - absolut sprachlos ob deiner Empathie. Über das Komma, das da nach meinem Gefühl irgendwie nicht hingehört, muss ich noch mal nachdenken. Vielleicht mache ich lieber einen Punkt und aus dem "und" ein "das", "mein" oder "dein", was meinst du?
Herzlichen Dank und liebe Grüße

Sabine

 Irma äußerte darauf am 23.01.18:
Ja, soweit ich weiß, muss nach Rechtschreibreform das Komma zwischen zwei durch "und" verbundenen Hauptsätzen nicht mehr stehen. Aber ich setze meine Kommata lieber noch nach den alten Zeichensetzungsregeln. Und hier würde es, wie gesagt, dem sinnerfassenden Lesen dienen. Ich habe wirklich zunächst gelesen: "Ich züchte Kerzenschein und Fruchtgelee / vom letzten Sommer".

Mit Punkt ginge natürlich auch, wobei ich dann tatsächlich das neutrale "Ich züchte Kerzenschein. Das Fruchtgelee" wählen würde, da "mein" oder "dein" die Aussage in die ein oder andere Richtung verändert. LG Irma

 AZU20 (11.01.18)
Wenn man sieht und handelt, wie Du in den ersten beiden Strophen, dann kann man nur froh sein, wenn der Frühling nicht mehr lange auf sich warten lässt. Hoffentlich. LG

 Isaban ergänzte dazu am 13.01.18:
Im Garten sprießen schon die ersten Schneeglöckchen und Winterlinge und frühe Narzissengrünspitzen recken sich dem Licht entgegen - Mr. F. wird wohl nicht mehr gar so lang auf sich warten lassen, Armin.

LG Sabine
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