Pilger 2017
Saint Léger, Saint Aubin, Saint Martin, Sainte Pereuse, Saint Didier.... es gibt in diesem kargen, rauen Morvan (Burgund) nicht nur diese von starker Frömmigkeit geprägten Ortsnamen, man sieht auch bei allen Dörfern, zu denen man vordringt, als erstes den Kirchturm oder zumindest den Friedhof, und das Kreuz dabei als eindeutiges Signal.. Katholisches Frankreich also in markanter Ausprägung, wäre man geneigt zu sagen, denn auch Kindtaufen, Hochzeiten oder Beerdigungen finden mit der gebührenden Feierlichkeit statt.... in den kantig-trutzigen Kirchen zwischen den Bergen, meist mit lustigen, trinkfreudigen Großfamilien.
Alors, wer dort im Jahre 2017 noch ein bisschen religiös unterwegs ist, der wird diesen patrimoine religieux, die christlichen Wegmarken noch allenthalben wahrnehmen können: Vézelay, die Abbaye de la Pierre qui vire, die Kathedrale Saint-Lazare in Autun – alles frühere Stationen auf den Pilgerwegen Richtung Cluny und weiter in Richtung Santiago de Compostella. Klingende Namen, Jahrhunderte lang auch Garant für klingende Kassen bei all denen, die von dieser aktiven Frömmigkeit drum herum lebten. Aber heute?
Unsere Wahrnehmung als Deutsche, die wir seit 30 Jahren den Morvan Jahr für Jahr bereisen und erleben, lautet: Wir haben einen dramatischen Auflösungsprozess, ein rapides Verschwinden der religiösen Praxis hier zu verzeichnen, sozusagen vor der eigenen Haustür. Denn unsere résidence secondaire, sprich Ferienhütte liegt unmittelbar neben der Kirche von Anost, und wenn wir dort früher jeden Sonntag zugeparkt wurden von den zur Messe strömenden Katholiken, so hat sich dieser Rhythmus um ein Vielfaches gelängt – höchstens alle sechs Wochen noch läutet die Glocke zu einer Sonntagsmesse, und ojeh, dann streben nicht mehr die Massen, nein, dann kleckern noch maximal zwei Dutzend Gläubige heran, und unser Hof bleibt von fremden Autos völlig frei.
Der Pfarrer, le Curé Robert Meunierr, lebte früher hier vor Ort in der Cure, in seinem stattlichen Pfarrhaus, und war präsent, er war immer ansprechbar und ein echter Aktivposten auch der Zivilgemeinde .... Nach seinem Tod vor 12 Jahren gab es keinen Nachfolger. Wie in vielen Kirchen Europas begann nun auch hier in Anost, was schönfärberisch "Zusammenlegung" genannt wurde: Alt eingesessene, gewachsene Pfarr-Sprengel wurden zu Groß-Pfarreien vereinigt, die Sonntagsmesse wird seitdem reihum abgehalten, und die jeweils nicht „heimischen“ Gläubigen müssen per Auto herankutschieren (-kutschiert werden) – der Schwund ist enorm und geht dramatisch schnell.
Ich hatte den Curé Meunier sehr gemocht, wir haben uns des öfteren getroffen und nach der Messe auch schon einmal diskutiert – Robert konnte gut predigen und sehr konkret werden dabei, da konnte man durchaus etwas mitnehmen von seinen Gedanken. Zudem war er ausgemachter Fan von guter (Kirchen-)Musik und er mochte auch gute Effekte. Also hatte die armselige Kirche von Anost – nein, keine schwachbrüstige Orgel oder tragbares Harmonium, sondern eine studioreife Beschallung, und der Curé ließ die Wände wackeln, mit Reglern und Knöpfen, die er geschickt an Altar und Lesungs-Pult installiert hatte. Man glaubte sich in Chartres oder Notre Dame de Paris, so gewaltig tönte es schon ein mal aus dem frommen Gemäuer. Passend zu diesen Effekten kamen aber auch gute Leute in diese Kirche, Persönlichkeiten wie der Bauer Pierre Fignon, der mit seinen 1,90m nicht nur dem Pfarrgemeinderat vorstand, sondern auch Vorbild war für Tatkraft und Verlässlichkeit. Ich vergesse nie, wie er und einige andere Aktive in der Karfreitags-Liturgie die Passion Christi mit verteilten Rollen vorlasen – als wären sie Augenzeugen gewesen. Das war gelebter Glaube – ohne jedes Getue! Und nach dem Verlassen der Kirche waren Fignon und seine Mitstreiter wieder für jeden Schabernack zu haben – so zum Beispiel den Versuch, einen verstockten Deutschen mit in den Kreis der „Aufrechten“ hereinzulocken. Erst bekam ich während einer der nächsten Messen im Flüsterton mitgeteilt, dass der Lektor nicht erschienen sei – ich möge bitte den Lesungstext verlesen- wie hätte ich das ablehnen können? Dann brauchte man dringend Helfer für das anstehende Pfarrfest, und auch da mochte ich mich nicht verweigern, zumal die Kontakte über diese „kirchliche Schiene“ mit großer Freundlichkeit und echtem Interesse einher gingen.
Auch Pierre Fignon starb viel zu früh, kaum dass sein geistlicher Gegenpart, Robert Meunier, Anost verlassen hatte, und das erklärt vielleicht noch besser, warum die Kirche hier so rapide leer blutete.
Es war sicher auch ein Generationen-Bruch, der noch dazu kam. Eine ganze Altersgruppe war weg gestorben, und von Seiten der Jüngeren rückte niemand nach.
Ich selber hatte genau über diese Älteren Anschluss gefunden... und folglich auch wieder verloren. Und jedes Mal, da ich in jüngerer Vergangenheit wieder einmal die Messe besuchte, war es ein trauriges Erlebnis: Keine inspirierende Musik, keine bewegenden Worte, leere Bänke. Vorn am Altar gab es einmal sogar – welch ein Kontrast zu den alten Mütterchen drum herum - einen blutjungen Pfarrer.. aus Vietnam. Er sprach nur bruchstückhaft Französisch, und selbst , was er vom Blatt runter las, konnte ich kaum verstehen.
Fast nostalgisch hänge ich aber noch immer an dieser damals so lebendigen Gemeinde. Als jüngst die Notre Dame – Statue restauriert werden musste (eine überlebensgroße Maria mit Kind, die auf einem Berg oberhalb von Anost aufgestellt wurde als Dank für die Befreiung von der deutschen Besatzung) , da habe ich sofort und gerne dem Spendenaufruf Folge geleistet. Ich sah das als kleine „deutsche“ Geste der Wiedergutmachung; und gäbe es die Prozession noch, die früher am 15. August (Mariä Himmelfahrt, in Frankreich ein Feiertag) immer stattfand, ich würde mit hoch pilgern auf diesen Anoster Berg, zu dieser Maria. Aber auch dieses fromme, einmal von den meisten Katholiken hier befolgte Ritual, ist inzwischen weg gebrochen. Ja, es ist ein merkwürdiges geistliches Niemandsland, das sich jetzt auftut. Und das nicht nur in Anost, es ist im ganzen Morvan so, wo nun überall die Kirchen zugeschlossen und die religiöse Praxis nahezu „tot“ sind.
Genau in diese unheilige, von Religion abgekehrte Zeit hinein, kamen dann „Heimsuchungen“, die mich verkappten Pilger dann doch in der Seele wieder wachrüttelten.
So waren wir Pfingsten 2016 für ein paar Tage in unser Anoster Haus gekommen- es ist um diese Jahreszeit besonders schön im Morvan – also lohnen da auch fünf knappe Tage, die man sich da aus dem quirligen Deutschland fortstehlen kann. Pfingstsonntag hatten wir bei Bekannten abends noch zusammen gesessen und just das Wegsterben der katholischen Kirche und ihrer Präsenz im öffentlichen Leben kommentiert – es fielen kritische Worte, kirchenfeindliche und auch solche, die man früher als gotteslästerlich bezeichnet hätte– Tenor: Diese moralische Bevormundung “von oben” brauchen wir nicht mehr. Ich lauer Christ traute mich nicht zu widersprechen.
Am Pfingstmontag beschlossen wir spontan, ins sechzig Kilometer entfernte Vézelay zu fahren. Das Wetter und der in Frankreich wenig ausgeprägte Feiertag luden förmlich dazu ein. Meine Frau sagte noch:”Dann wird in Vézelay auch nicht viel los sein, und wir haben diese tolle Basilika mal ganz für uns...”
Als wir ankamen, empfingen uns Polizisten in schuss-sicheren Westen. Taschenkontrolle vor den Zugangswegen und eine fast surreale Stimmung. In der Tat, kaum Touristen. Als wir aber an der Wallfahrtskirche oben angekommen waren, sahen wir duch die Portale ...Massen von Pfadfindern. Es waren Hunderte, die Kirche platze förmlich aus allen Nähten. Ich drängte mich hinein, und sah die jungen Leute auf dem Boden hocken, den Pilgerstab zwischen den Knien, sie beteten und meditierten - Frömmigkeit zum Greifen. Am gewaltigsten ergriff es mich, als diese Menge von jungen Männern (Mädchen waren fast keine dabei, auch keine “schrillen Typen”, und auch keine “mit Migrationshintergrund”....),ja, als sie anfingen zu singen. Die Mauern Vézelays bebten und vibrierten mit, es war wie ...Mittelalter! Hatte die “Instanz da oben” mir lauem Christen noch einmal richtig zeigen wollen, was “Kirche” auch sein kann? Jedenfalls war ich von so lebendigem Pilgertum dort im Morvan tief ergriffen, ein echtes Pfingst-Wunder!
Ein zweites Morvan-Erlebnis mit “Pilgerstab” hatten wir jetzt, 2017. Es war wieder auf einer Fahrt Richtung Vézelay. Diesmal hielten wir einige Kilometer vor dem Wallfahrtsort an, weil wir ein geeignetes Picknick-Plätzchen suchten. Nicht weit vom Château de Vauban sahen wir eine Kuppe mit Kapelle, hoch über der Landschaf. Dort hätte man sicher einen tollen Blick auf Vézelay und das nette Flusstal der Cure, und wir wären schön für uns...dachten wir. Als wir über kleine verworrene Wege endlich oben an der Kapelle waren, da sahen wir doch etliche Leute um die Kapelle herum lagern. Das ist ja so wie früher, durchzuckte es mich! Pilger! Die machen noch einmal Station kurz vor Vézelay, sammeln sich, gehen in sich.....Kirche lebt also doch noch??! Nein, weit gefehlt. Die vermeintliche Pilger hatten keinen Wanderstab, sie hielten in ihren Händen..... Handys. Und sie beteten nicht, sie ..quatschten. Sie palaverten ohne Unterlass. Sie redeten ins Off hinein zu Leuten weit weg, jeder zu einem unsichtbaren Gegenüber.
Welch ein Picknick. Wieder etwas surreal. Aber diesmal ohne Pfingstwunder. Denn die Leute hier oben auf dem Berg, die waren nicht etwa gekommen, um Gott näher zu sein – sie waren so hoch hinauf gestiegen, weil sie dort das fanden, was man als den neuen Lebensinn der heutigen Zeit ansehen könnte, gerade im hügeligen Morvan mit den vielen tiefen Tälern!) - sie hatten dort .. NETZ!