Stop ou encore? (Genug oder weiter mit dem roman policier?)
Roman zum Thema Mord/Mörder
von eiskimo
Kapitel 1
Am Sonntag ist die Caserne de la Gendarmerie Nationale à Lucenay l´Evêque stets nur mit zwei Kräften besetzt. Lucenay L´Evêque, das ist ein 300-Seelen-Dorf in Burgund, 15 Kilometer von Autun entfernt, und dass in diesem Nest dort am Rande des Morvan-Gebirge überhaupt eine kleine Polizeistation existiert, hat seinen Grund darin, dass der Ort einmal bedeutsam war und tatsächlich einen Trésor Public beherbergte – ein eigenes winziges Finanzamt, was aber längst nach Le Creusot verlegt wurde.
Dienst in dieser Caserne tut an diesem grauen Apriltag die 27jährige Gendarmette Sandrine Constant. Sie ist allein, obwohl laut Dienstplan neben ihr jetzt auch Laurent Castel sitzen müsste. Der aber hat sich eine Stunde zuvor krank gemeldet – nicht so richtig krank, dafür aber richtig verkatert. Er klang wirklich schlimm am Telefon. Ja, der Junggesellenabschied seines Bruders im Kreise der Fußballmannschaft, mit all den Nachbarn in ihrem Alter und dann diese selbst zusammengemixte Sangria – kurzum: sie solle ihn anrufen, wenn wirklich Not am Mann wäre. Er habe es ja nicht weit von Cussy-en-Morvan, gerade mal zehn Minuten. Und na klar, spätestens um Elf sei er wieder fit und zu Stelle. So lange solle Sandrine mal alleine ihren Mann stehen, n´est-ce pas, chère camarade!
Die junge Mutter einer zweijährigen Tochter kann Laurent ganz gut leiden, der macht so etwas ja nicht jedes zweite Wochenende. Sie selber übernimmt die Sonntagsschicht schließlich ganz gern, weil da selten mal etwas passiert. Speziell heute, mit dieser gerade begonnenen Schicht, ist sie gar nicht unglücklich, denn Yves, ihr Mann, hat seine Mutter zu Besuch – gleich für das ganze Wochenende - und Schwiegermama kann gar nicht genug bekommen von Enkeltöchterchen Charlène.
Sandrine hat es sich gemütlich gemacht in der dunkel getäfelten Wachstube. Die Neonröhre an der verschossenen Decke hat sie ausgeschaltet. Ihr reicht das fahle Licht, das durch das vergitterte Bürofenster hereinfällt, um ein bisschen in ihrer „Femme actuelle“ zu blättern. Mehr Aufmerksamkeit schenkt die dunkelblonde, kräftig gebaute Polizistin aber ihrem Smartphone. Klar, wäre jetzt Caporal Meunier da, der Dienststellenleiter, dann gäbe es natürlich kein Geträller aus dem „portable“ – bestenfalls den knisternden Polizeifunk.
Sonntags liefe aber auch nicht „Stop ou Encore“, eine von Sandrines Lieblingssendungen auf Radio Luxembourg. Da schlägt der Sender für die programmation des Morgens einen Musik-Star vor, und die Hörerschaft ist aufgerufen, per Telefon mit „Stop“ oder „Encore“ - also „Genug oder Weiter!“ – zu votieren. Erreicht das „Encore“ mehr jeweils als 50 Prozent, können von besagtem Star bis zu fünf Titel eingespielt werden. Und – Sandrine ihr hat sich natürlich schlau gemacht für diesen langen öden Vormittag – es tritt da kein anderer an als Christophe Maé, ein bisschen der Stevie Wonder Frankreichs, den Sandrine bereits als Fünfzehnjährige so unendlich cool fand.
Doch schon mit seinem ersten Titel „Mon paradis“ droht Christophe abzustürzen. Die Stimme des Moderators beschwört noch einmal alle Maé-Fans, bloß jetzt die Nummer für das „Encore“ einzugeben, sonst wäre der so markante Südfranzose schon nach nur einem Titel durchgefallen. Klar, dass die Gendarmette da proaktiv werden muss. Sie greift zum Smartphone, um vom Radio- in den Telefonmodus zu schalten und dann ein mehr als nachdrückliches „Encore“ abzugeben … da schrillt vor ihr auf dem Schreibtisch das dicke, speckige Diensttelefon. Und es schrillt unverschämt laut!
Sandrine erschrickt nicht nur, sie ist auch verärgert. Welcher Depp ruft an einem Sonntagmorgen, Schlag 9.17 Uhr die Polizei an? Soll sie da überhaupt drangehen? Denn schon rattert der alte Philipps-Cassettenrekorder los, der alle Anrufe automatisch aufzeichnet. Soll sie nicht doch schnell noch für ihren Christophe Maé voten, bevor der bei seinem so miserabel gestarteten Stop-ou-Encore womöglich durchrasselt - oder besser doch nicht?
Zwei Minuten später aber ist Gendarmette Constant völlig aus dem Häuschen. Nein, nicht etwa, weil ihr Lieblingssänger tatsächlich an der 50 Prozent-Regelung gescheitert wäre. Das hätte die Polizistin auch gar nicht mehr mitbekommen. Denn sie war letztlich ihrem Dienstgewissen gefolgt und hat nach dem fünften oder sechsten Klingeln doch noch zum Hörer gegriffen. Und mit diesem fest an ihr Ohr gepresst weiten sich ihre Augen. Während die letzten Töne von „Mon Paradis“ auf dem Smartphone verrauschen, stammelt sie nur:
„Mon Dieu!“
Ihre „Femme actuelle“ landet unsanft auf dem Fußboden, weil der Notizblock her muss, ganz schnell, und wo ist der Stift für die wichtigsten Informationen, die sie da mit mühsam beherrschter Stimme abfragt, und weil am anderen Ende der Leitung offenbar einiges durcheinander geht, lässt sie sich das Wichtigste noch einmal eigens bestätigen. „Beruhigen Sie sich und bleiben Sie vor Ort!“ beschwört sie am Ende mechanisch die Person in der Leitung, „und fassen Sie nichts an! Wir sind in zwanzig Minuten in Bonnard!“
„Du hast genau zehn Minuten, um in Uniform an der Tür zu stehen!“ herrscht sie eine Minute später den schlaftrunkenen Kollegen Castel an. Sie brüllt kurz den Grund für ihre Hektik in ihr Telefon. „Und Du hast Glück, dass Cussy auf der Strecke zu unserem Tatort liegt. Ich hole dich bei dir ab, und halte dich bloß ran!“
Es dauert tatsächlich nur zehn Minuten, dann steht der dunkelblaue Dacia-Kombi mit dem Aufdruck „Gendarmerie“ vor dem lotissement des zweiten diensthabenden Polizisten, der sich noch hastig den Gürtel der Diensthose nachstrafft. Nein, er sieht wirklich nicht sehr fit aus. Immerhin hat er eine Flasche Mineralwasser als Kopf-Klar-Macher in der Hand. Sandrine bleibt am Steuer sitzen. Durchs Seitenfenster kommt nur knapp „Wir müssen nach Bonnard. Die Details erzähle ich Dir im Auto!“
Und dann braust sie los, neun Kilometer durch eine sehr hügelige, dicht bewaldete Berglandschaft. Die Straßen im Morvan sind eng und kurvenreich. Sandrine lässt die Reifen ordentlich quietschen. Gut, dass da sonntags noch weniger Verkehr ist als unter der Woche. Auch in Bonnard selbst. Da muckst sich kaum einer der 500 Einwohner. Aber einer von ihnen, der kann sich seit ein paar Stunden schon gar nicht mehr mucksen.
Anmerkung von eiskimo:
Es ist schon Wahnsinn, was ich hier im ansonsten so beschaulichen Burgund erlebe. An einem heiligen Sonntag. Ich weiß gar nicht, ob ich so unschöne Dinge, die sich da bedrohlich andeuten, weiter verfolgen soll. Mesdames et messieurs, stop ou encore?