Savoir Vivre oder nur eine Art des Überlebens

Bericht zum Thema Freizeit

von  eiskimo

Als deutscher Rentner genieße ich es, in Frankreich zu sein und das Leben vor Ort zu beobachten – speziell das der  jüngeren Leute, schon, weil die ja viel präsenter sind als die Alten.
Dort in einem 500-Seelen-Dorf groß zu werden, gut 40 Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, das ist schon „un peu spécial“. Die Tankstelle macht um 19 Uhr dicht. Die Kneipe, wo es auch Zigaretten und morgens das Brot gibt, schließt spätestens zwei Stunden später. Aber dort mal einen trinken, das wäre für die Jugendlichen eh zu euer - ein Kronenbourg käme 2,40 Euro.
Also ist der allabendliche Treff „le terrain omnisport“, ein Holzgehege mit zwei Basketball-Körben, ursprünglich einmal mit Kunstrasen ausgelegt, inzwischen aber zur Boule-Bahn umfunktioniert. Dicht davor geparkt stehen dann zwei oder drei aufgemotzte Renault Clio oder schrottreife Peugeot 206, Fahrertüre offen, um die Rap-Musik der Bordanlage schön launig auf das Gelände zu übertragen. Auf den Kühlerhauben warten die Sixpacks mit Discounter-Bier, auch zwei oder drei Flaschen Vodka, Rauch-Utensilien. Um die Autos herum balgen sich Leico und Chouette, zwei unschöne Promenadenmischungen, und turnerisch unterwegs sind auch ein paar jüngere Besucher –  vielleicht 12- oder 13jährige Burschen, die auf ihren ramponierten BMX- oder VTT-Rädchen vergeblich nach Aufmerksamkeit suchen.
Die gestandenen Cracks erkennt man an der Zigarette, dem nackten Oberkörper und den zur Schau gestellten Tattoos. Lässig halten sie ihre blitzenden Wettkampf-Kugeln bereit, lässig bewegen sie sich zur Abwurfmarke, und noch lässiger zelebrieren sie ihre Wurf-Technik. Die Mitstreiter lehnen derweil ebenso lässig an der Holz-Balustrade, kippen sich ihr Bier rein und begleiten den jeweiligen Akteur mit flapsigen Kommentaren oder Gesten.
Es sind eingespielte Teams und eingespielte Rituale, vielleicht um die 20 Personen – die Stimmung ist „relaxe“. Immer wieder mal  schallt lauthals Zuspruch für einen besonders gelungenen Wurf auf oder auch ein deftiger Fluch, wenn ein sicher geglaubter Punkt doch noch verloren wird. Meist aber hat die Wummer-Musik das Sagen, es sei denn, neue Mitspieler kommen dazu, die mit ihren laut knatternden Trial-Motorrädern dann noch einmal alles übertönen.
Zwei der neu Eingetroffenen sind junge Frauen. Sie werfen ihre Motorradjacken ins Gras, bedienen sich beim Alkohol und den Zigaretten, reihen sich cool ein  – nichts Damenhaftes ist an ihnen auszumachen, und natürlich beherrschen sie das Spiel.
Es wird dunkel, die Flaschen sind leer. Sie werden ordentlich weggeräumt. Natürlich setzen sich einige noch ans Steuer. Schon gegen 22 Uhr ist Ruhe – denn am nächsten Abend werden ja alle dorthin wiederkommen, zu ihrem sozialen Treff, zum wichtigsten Ort im Dorf.
Zwischendurch kann man ihnen aber auch ganz zivil begegnen. Denn sie sind Dachdecker, Mechaniker, Koch-Lehrling im Hotel des Nachbardorfes oder einfach nur bei der freiwilligen Feuerwehr oder noch Schüler.
„Pas de problème“, also. Der deutsche Rentner könnte beruhigt sein. Denn er hat das gesehen, was dort gemeint ist mit Savoir Vivre. Oder müsste es nicht heißen: Savoir Survivre?

PS: Da er selber in einem Dorf groß geworden ist, kann er nicht umhin zu vergleichen. Er hatte als Jugendlicher dort Strukturen wie Handballverein, Pfadfinder, Kirche. Und weder hätte er sich täglich Zigaretten und Alkohol geschweige denn ein Motorrad leisten können. Und abends gab es für ihn tatsächlich noch so etwas wie Familienleben. Feste Essenszeiten. Feste Zeiten, wenn alle im Bett sein mussten. Kein Gedanke, sich alleine auszuklinken, um irgendwo abzuhängen ohne jede Kontrolle...

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (23.08.19)
Meine F-Erfahrungen sahen anders aus. Meine D-Erfahrungen als Stadtbewohnerin auch. Eine davon: Ganztagsschule in F, dann noch Hausaufgaben = durchstrukturierter Tag. Auch: Gemeinsame Abende bei Menü und Konversation, Jgdl. u. Kinder dabei, bis sie einschlafen. In Südfrankreich. LG Gin

 eiskimo meinte dazu am 23.08.19:
Diese sehr behüteten und streng gehaltenen Heranwachsenden gibt es natürlich auch, und sicher auch in überwiegender Zahl. In "meinem" Dorf ist, wie gesagt, jene offene Szene so präsent. Sehr beliebt scheinen sie nicht zu sein bei den Bourgeois....
cordialement
Eiskimo

 LottaManguetti (23.08.19)
Deine Schilderung ist sehr lebendig, wenngleich die Wertung unterschwellig durchscheint. Darf sie auch in Maßen. Sie ist gut bebildert und jeder darf sich seinen Teil dazu denken oder einfach nur die Atmosphäre auf sich wirken lassen.
Dein Erzählstil gefällt mir sehr! Ich empfinde ihn ungezwungen und flüssig. Für mich als Leser ein Genuss!

Lotta

 eiskimo antwortete darauf am 23.08.19:
Merci!
Ich gucke gern bei so etwas zu und versuche, es halbwegs stimmig ´rüberzubringen. Das Dorf ist ja ein Mikrokosmos. Wenn ich da unterschwellig zeige, dass ich nicht alles gutheiße - ja, aber man muss dem ja nicht folgen
lG
Eiskimo
Cora (29) schrieb daraufhin am 23.08.19:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 LottaManguetti äußerte darauf am 23.08.19:
Nichts anderes schrieb ich.

😉

 AchterZwerg (24.08.19)
Ehlich gesagt verstehe ich deine unteschwellige Missbilligung nicht.
Was ist denn so schlimm an solchen Treffen?
In Berlin hat man sich früher mangels Geld abends auf Spielplätzen mit ähnlichen Ritualen (Kippen, Mopeds ,Cola, Bier) getroffen. - Eine echte Verwahrlosung ist meines Wissens daraus nicht entstanden.
Du hast auch nicht bedacht, dass Heranwachsende an familiären Abendessen häufig (!) null Interesse zeigen und froh sind, wenn sie die unbeschadet überstanden haben. Ausschlaggebend ist für sie die Peergroup.

Herzliche Grüße
der8.
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