Paketdienst-Paradies Deutschland

Erörterung zum Thema Konsum

von  eiskimo

Wollt ihr euch mal so richtig in die Nesseln setzen und Prügel von allen Seiten bekommen? Ja? Dann unterschreibt meine Forderung, die da schlicht lautet: Verbot des Online-Handels.
Was? Die Sparte verbieten, die gerade so richtig durchstartet? Die in allen Winkeln der Republik täglich Bescherung macht, nicht mit EINEM  vollgeladenen Schlitten – nein, da kommt eine ganze  Prozession von Lieferanten, und alle karren in neuer Rekordzeit die gerade am Vortag bestellten Schätze und Schätzchen herbei. Ganzjahres-Weihnachten  mit Sendungsverfolgung und Retoure-Schein – und dieses Mega-Glück soll verboten werden??!!
Was habe ich eingangs gesagt: In die Nesseln setzen…  Genau das will ich, und ich habe sogar ein paar durchaus nachvollziehbare Gründe für dieses Verbot .
Absolut augenfällig:  Der Online-Handel ist eine enorme, ständig wachsende Umweltbelastung. Nicht nur die Kleinlastwagen, die in großen Schwärmen durch unser Land brettern, immer unter Zeitdruck und mit reichlich Dieselabgasen, nein, auch der ganze Bestellvorgang im Internet schlägt teuer zu Buche. Man denke nur an die Millionen Rechner, die da hochgefahren werden, die gigantischen Server und ihr aufwendiges  Kühlsystem, die bereitgestellten Leitungen für Lieferlogistik und Zahlungsverkehr – von den flächenfressenden Logistikzentren am Stadtrand und dem Verpackungswahnsinn im Innern ganz zu schweigen. Krönung des Umweltfrevels sind dabei die Reklamationen und Rücksendungen – jede achte Bestellung ist eine sogenannte Retoure und  landet dann im Reißwolf!
Spätestens hier bekommt das Thema eine tiefere Dimension als nur das coole betriebswirtschaftliche Kalkül um Energiekosten und Rentabilität.
Ich frage mich, ob das noch moralisch ist und mit den guten Sitten vereinbar, nicht nur in dieser Form Ressourcen zu verschwenden, sondern gleichzeitig ein sehr fragwürdiges Kaufverhalten zu propagieren.
Fragwürdig schon, weil es so toll funktioniert ... auf dem Rücken prekär Beschäftigter, die unter ausbeuterischen Arbeitsbedingungen diesen Markt be-dienen.
Sehr fragwürdig scheint mir auch, wie der  Online-Handel  zurückschlägt auf die Lebensfähigkeit und Attraktivität der Innenstädte.  Bekanntlich setzt er dem  Einzelhandel und den kleinen Läden vor Ort  mächtig zu. Und diese sind nicht nur Versorger, sie ermöglichen Begegnung und Austausch. So bringen sie ein wichtiges Stück Lebensqualität in die Stadt. Mit den Preisen der Online-Händler aber können die „Tante-Emma-Läden“ nicht konkurrieren. Wandern die Kunden ab, bleiben sie auf den  Personal- und Mietkosten sitzen – ohne Chance gegen die Giganten im Netz. 
Die sitzen irgendwo anonym in mächtigen Bürotürmen, zahlen kaum Steuern und sind auch im Bezahlen ihrer Lagerarbeiter und Paketboten alles andere als vorbildlich.
Fatal daran ist: Der Online-Kunde ist längst zum Zocker und Rabattjäger aufgestiegen, für den es ein Sport geworden ist, im Netzt den lukrativsten Schnapp zu machen. Ging er früher in die zwei oder drei einschlägigen Läden und verglich die Produkte real – vielleicht mit sachkundiger Beratung des Fachhändlers – so klickt er sich jetzt durch Dutzende Vergleichsportale, Testseiten, Kundenrezensionen  oder Garantie- und Rücknahme-Bedingungen.
Noch fataler ist: Er tut das nicht nur für seine großen Anschaffungen wie das Auto oder eine neue Heizung. Er macht es zunehmend auch für Kleidung, Unterhaltungselektronik und sogar die täglich anfallenden Lebensmittel.
Die Zeit, die er damit an seinem Rechner oder Smartphone verbringt, ist enorm. Sie wird aber nicht als lästiger Aufwand angesehen, sondern als spannendes Spiel… bei dem er sich stets als Sieger fühlen darf.
Tatsache ist, dass Spiele dieser Art süchtig machen.  Das Steuern des Computers,  das Aussuchen und Verwerfen eines Angebots,  das Gefühl der Macht –  es ist schon  eine Lust, und für viele auch eine durchaus Sinn stiftende  Beschäftigung, die weit über das hinausgeht, was bei einem simplen Kaufakt sonst passiert. 
Die Folge sind nicht nur völlig unnötige Käufe (bzw.Rücksendungen)  und Geldprobleme, sondern viel schlimmer:  Der Verlust an anderen Interessen, die sonst die Freizeit lohnend machen. Schließlich lockt das Shoppen:  Rund um die Uhr. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zu Hause.
Kindern verbietet man, unkontrolliert lange am PC zu „daddeln“.  Was macht man mit Erwachsenen, die immer häufiger abtauchen in die süße Flut mega-geiler Superangebote ?
Meine Antwort ist klar: Bevor immer mehr Menschen dieser Faszination des Online-Shoppens erliegen, bevor immer mehr zu unnützen Käufen angestiftet, und immer mehr Waren unter massiver Umweltbelastung übers Land verteilt werden … sollte man diese  unselige Art des  Kaufens schlichtweg verbieten.
Sonst mutiert dieses Land zu einem einzigen kulturlosen Konglomrerat von Paketdienst-Revieren.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (18.11.20)
Im Großen und Ganzen bin ich mit deinem Text einverstanden. Belieferung Gehbehinderter, Alter und Kranker ist allerdings sinnvoll, wäre sogar umweltfreundlicher als wenn alle selber mit dem Auto ins Einkaufszentrum fahren. Wenn man die Geschäfte schließt, blüht der Versandhandel auf, das ist klar. Was der kontaktlose Lieferhandel derzeit bietet, ist weniger Ansteckungsgefahr.
Im kleinen Einzelhandel und nicht verketteten Restaurants steckt aber auch viel Schwarzgeld, Schwarzarbeit und im schlimmeren Fall auch Geldwäsche. Da ist es ein Nebeneffekt des Lockdowns, dass diese sich nicht mehr halten können. Auch die Kunden sind online im Verdachtsfall leichter überwachbar. Gibt jemand viel mehr Geld aus, als ihm normalerweise zur Verfügung steht?
Im Reich der Digitalisierungswahnsinnigen wird man deinen Vorschlag und deine Argumente wohl kaum hören wollen. Die Welt verändert sich zum Schlechten, bis das ganze Wirtschaftssystem zusammenkracht. LG Gina

 eiskimo meinte dazu am 18.11.20:
Danke für Kommentar und Empfehlung! Ich schätze deinen kritischen Geist, und wenn ich den halbwegs überzeugen konnte...
LG
Eiskimo

 Access (18.11.20)
...nö, unterschreibe ich nicht ...hier auf dem Land müsste ich zwischen 50 und 100 Kilometern (einfache Strecke) fahren, um an hochwertige Mal-Utensilien (Leinwände, Künstlerfarben, ect.) zu kommen. Ich hätte einen anderen Vorschlag...: wenn niemand mehr seine Klamotten bügeln würde - huiii, was würde das für Energie einsparen? Keine Herstellung von Bügelbrettern mehr, Einsparung von Strom (und Wasser, wenn es denn Dampfbügeleisen sind)....also ich finde Bügeln total, ja vollkommen unsinnig und hirnrissig aber irgendwann hat der Mensch wohl beschlossen, dass Klamotten ohne Knitterfalten den Menschen als wertvolleren, anständigeren, fleißigeren Menschen kenntlich machen...

Kommentar geändert am 18.11.2020 um 14:11 Uhr

Kommentar geändert am 18.11.2020 um 14:12 Uhr

 Graeculus antwortete darauf am 18.11.20:
Interessanter, anregender Text. Als erstes fiel mir ein, daß bereits mit Drohnen experimentiert wird, die Pakete automatisch zustellen sollen. Keine Ahnung, welche Folgen das haben wird.

Dann las ich, ebenfalls in einem Dorf lebend, den Einwand von Access. Stimmt schon, viele Dinge kann man hier in der Nähe mangels Einzelhandel gar nicht kaufen.
Und dann möchte ich noch einen speziellen Aspekt erwähnen: den antiquarischen Buchhandel. Früher hätte ich, um ein bestimmtes Buch zu bekommen, durch die halbe Republik fahren müssen, während ich es jetzt problemlos bei Booklooker oder ZVAB bekomme, allerdings online. Auch zum nächsten 'normalen' Buchhändler müßte ich 30 km fahren, würde er mir nicht die Bücher als Paket schicken.

Das macht aber eiskimos Überlegungen nicht wertlos. Die Sache hat unweigerlich zwei Seiten, und er zeigt die dunkle auf.

 eiskimo schrieb daraufhin am 18.11.20:
Danke für Eure Einwände. Die sind natürlich - für sich genommen - berechtigt. Einmal an die Vorteile der Frei-Haus-Zustellung gewöhnt, will man nicht mehr zurück.
Freilich hat damit unser Wirtschaftssystem des "Alle sollen möglichst alles sofort haben können" noch einen Turbo-Gang hinzugelegt. Spätestens Weihnachten werdet Ihr konkret sehen, was ich damit meine.

 Graeculus äußerte darauf am 18.11.20:
Das Problem existiert und ist mir bewußt. "alles sofort" ist mir freilich zu polemisch. Ich habe bei Booklooker Bücher gefunden, die jahrzehntelang vergeblich gesucht hatte.
Die Antiquariate haben übrigens früher gedruckte Kataloge verschickt; das gibt es jetzt kaum noch - wie überhaupt der Briefverkehr abgenommen hat.

 Access ergänzte dazu am 18.11.20:
...ich bin aufgrund der hier wirklich sehr dünnen Besiedlung ein Fan des online-Handels (vor allem, weil ich Geschenke an meine Patenkinder direkt zustellen lassen kann)...dennoch: ich würde nicht auf die Idee kommen, mir zwei Gramm Zitronengras nach Hause liefern zu lassen, da suche ich dann lieber vor Ort (wir haben hier schon nette kleine (Bio-)läden und Donnerstags ist Markt) und wenn es das nicht gibt, was ich möchte, dann suche ich halt eine gute Alternative (z.B. meine selbst angebaute Zitronenverbene)....heee, aber was sagt ihr zu der "Nicht-mehr-Bügeln-Möglichkeit?" Da sitzen wir doch wohl deutlich in gesellschaftlichen Stereotypien fest? Da gibt es sicherlich Verfechter*innen, die sich jetzt aufregen, man könne doch nicht mit ungebügeltem Hemd/Bluse bei der Bank/Versicherung/im Gericht sonstwo so verknittert vor sich hin arbeiten...?

 eiskimo meinte dazu am 18.11.20:
Ich denke, Ihr versteht beide, klug und selektiv die Möglichkeiten des Online-Handels zu nutzen. Ihr gehört auch sicher nicht zu den Strategen, die fünf Blusen in unterschiedlicher Machart ordern, um vier davon zurückgehen zu lassen. Trotzdem sollte uns der explosionsartige Zuwachs dieser Konsum-Schiene nicht egal sein, denn da vamit verändert sich mehr als uns lieb sein kann.
PS: Ich habe sicher dreißig Jahre lang nichts mehr gebügelt.

 Graeculus meinte dazu am 18.11.20:
Bügeln gehört zu meinen Problemen nicht. Allerdings kenne ich eine Bank auch nur als Kunde.

 Graeculus meinte dazu am 18.11.20:
Ich bin gespannt auf das große Zeitalter der Handels-Drohnen. Es kann alles immer noch schlimmer werden.

 eiskimo meinte dazu am 18.11.20:
Schlaraffenland 2.0! Aber mit Rundum-Tracking. Das heißt: Du hast dich ja durch das Online-Bezahlen schön durchsichtig gemacht...

Antwort geändert am 19.11.2020 um 14:49 Uhr

 niemand (18.11.20)
Na, ja, die Wahrheit liegt wohl auf keiner Seite. Ich habe mit dem Einzelhandel [Fahrradhandel] saumäßige Erfahrungen gemacht.
Vom gänzlichen Desinteresse [nach der Bezahlung] an berechtigten Reklamationen, Unfreundlichkeit, künstlichen Verzögerungen von Bestellungen [online klappt das in kurzer Zeit]
bis hin zum kaputt machen des Gekauften und der Behauptung
man hätte das selber gemacht [mir stehen die Haare zu Berge]
bis hin zum ... ich will es lieber nicht noch gründlicher ausführen,
hängt mir der ach so gelobte Einzelhandel zum Halse raus.
Wenn ich kann, dann lieber online. Viel mehr Rechte stehen mir da auch noch zur Verfügung. Obwohl ich Deinem Text zum Teil zustimmen möchte, würde ich nicht "umsatteln" wollen.
LG niemand

 eiskimo meinte dazu am 18.11.20:
Das ist ja das Schlimme am Online-Handel: Er bietet vordergründig so viele Vorteile. Man muss aber auch die z.T. sehr problematischen Hintergründe in die Rechnung mit einbeziehen ...
LG
Eiskimo
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