Zum Jahreswechsel etwas Epochales

Protokoll zum Thema Wandel

von  eiskimo

Endlich mal etwas Epochales schreiben –  jetzt tue ich es! 
Habe nämlich einen ganzen Stoß EPOCA gefunden, eine in den 60er Jahren sehr aufwendig hergestellte Illustrierte, die sich mit hohem Anspruch an eine „gebildete Leserschaft“ richtete.  Zwei Mark hat damals so ein bis zu 100 Seiten starkes Exemplar gekostet, großformatig, viele farbige Seiten umfassend  und gesegnet mit dem Flair der großen, weiten Welt.
Mir als älterem Semester ist EPOCA ein Begriff. Denn die lag beim Zahnarzt meiner kariösen Jugendjahre aus – allerdings nicht im Wartezimmer der Kassenpatienten, sondern in dem anderen…
„Die Wahrheit über Hamlet“ , „Die Welt von 1914“, „Haben unsere Väter versagt – Generationenkonflikte heute“  oder „Von Leonardo bis Dali“, so locken mich jetzt die verblichenen Titelseiten mit dem knallroten EPOCA-Label.  Ich  greife den Jahrgang 1963, jede Ausgabe mit ihrem kulturell wertvollen Aufmacher-Foto.
In den Innenteilen finde ich sehr  gepflegten Journalismus;  eine bunte Mischung aus Politik („Wer war J.F. Kennedy wirklich?“), Reiseberichten („Kuba – eine Art Orwell-Staat“), Literatur („Das Geheimnis der Gruppe 47“) oder Kultur  („Neue Architektur in Deutschland“,  „Die Kunst der Zaren“, „Was ist Manierismus?“) – dazu viel Platz in einem  Forum, das da heißt "Deutschland diskutiert",  z.B. über die Frage  „Geben wir unserer Jugend noch Ideale?" , worauf sich dann allerlei eloquente Experten zu Wort melden. Und, last but not least, Leserbriefe…
Was mich total anfixt beim Durchblättern dieser schön gemachten EPOCA, das ist freilich die üppig vorhandene Werbung -  in Produktauswahl und Präsentation deutlich einer besser situierten Leserschaft angepasst!
Dass hier teure Parfums und Düfte weit vorn rangieren, verwundert mich nicht. Mir sind  nur die Produktnamen nicht (mehr so) geläufig: Uralt Lavendel,  Mouson Bambus, Turnier After Shave, Prestige, Tabac, Mister L…. („Frauen  spüren es, Frauen fühlen es…..“)
Ebenfalls viel Werbe-Platz in diesem illustren Dekor haben edle Tropfen wie Courvoisier, Dujardin, Asbach Uralt, Kupferberg, Long John, wobei viel Platz auch meint: Die kriegen da alle gleich eine ganze Seite.
Epochal ist das allein natürlich nicht. Ich denke aber, dass man mit jener Werbung  schon den neu erworbenen Wohlstand in  Westdeutschland nachvollziehen  kann. Und da waren die 60er Jahre defintiv ein Einschnitt.
Weiterer Beleg für diesen Wandel:  Wie begeistert man die Elektrifizierung der Hausarbeit propagierte. Konkret:  den massenhaften Einzug neuer Haushaltsgeräte. Ganz toll rüber kommen bei mir die AEG-Waschmaschinen wie der „Turnamat, unser fahrbarer Waschautomat, der überall dort wäscht, wo Sie ihn hinrollen“, das Modell „nova regina“, das schon 14 Waschprogramme hatte „mit einem einzigen Knopf einstellbar!“ oder für die Küche das Heißwassergerät „Thermofix – der Traum jeder Hausfrau“!
Ungewohnt für unsere Augen scheint mir auch, was damals im Textilbereich beworben wurde. Zum Beispiel der „Kunert BM“, was nichts anderes ist als ein nahtloser Bein-Mieder, der keine müden Beine mehr verspricht! "Denn der Kunert Strumpf-BM beugt vor. Er stützt und massiert ihr Bein sanft und angenehm und sitzt immer faltenlos.!" Trägt heute noch jemand Bein-Mieder?
„Valmeline Diolen“ kommt auch mehrfach vor. Das ist keine Hautpommade, wie ich rasch feststelle, sondern ein „Klassiker der Mantelmode, der mit seinen Modellen Stella und Lars internationalen Stil verkörpert" – „zur Betonung der persönlichen Note!  Das eingefügte Foto zeigt ein junges Paar in sportlich-kurzen Mänteln, schlank, lässig, weltoffen, sie mit Sonnenbrille, geradezu amerikanisch anmutend.
Ich blättere weiter und entdecke in mehreren Ausgaben meiner bildungsbeflissenen Zeitschrift die Deutschen Linoleum Werke. Sie propagieren da wortgewandt ihren Coverall,  einen „samtweichen Fußgrund, der für eine Weile den harten Alltag vergessen  lässt“.  In unterschiedlichsten Qualitäten und Colorationen, versteht sich.
Da durfte der Verband der Deutschen Lederindustrie wohl  nicht untätig bleiben. Ich lese:  „Echtes Leder ist wie ein hübsches Mädchen. Man möchte  es streicheln…“  und in der Tat lächelt mich da eine hübsche Blondine aus dem Foto heraus an, die sich verträumt an ihr Handtäschchen schmiegt.
„Echtes Leder ist wie die Mutti selbst. Es umhegt und schützt…“, so dieselbe Masche in der nächsten EPOCA. Denn „Echtes Leder = echte Freude!“
Viel versprechend  auch, was "Kochs Adlernähmaschinen Bielefeld" ein paar Seiten dahinter vorstellen.. „mit bestechend einfacher Technik, daher sehr strapazierfähig, 44 Tasten, Zweifarbenband, Korrekturtaste, 2 Randsteller, 24,5cm Wagenbreite, Papierstütze…“ Es ist die ABC 2000-Schreibmaschine für 149 DM!
Aus der Zeit gefallen wie diese mechanische Metall-Tastenhauer sind auch die „Pfandbrief und Kommunalobligationen“, für die meine EPOCA damals auch immer eine ganze Seite frei machte. Überschrift „Ist Pfandbriefsparen Männersache?“ – Darunter hält eine Frau mit hochtoupierten Haaren ein Bündel Geldscheine in die Kamera.  Antwort: “Die Praxis beweist das Gegenteil. Hausfrauen stehen an der Spitze aller Pfandbriefsparer. Warum? Weil die meisten Frauen sehr gut rechnen können, und weil Frauen von Natur aus gern auf Nummer Sicher gehen…“
Fast kriege ich den Eindruck, eine Frauenzeitschrift vor mir zu haben. Aber beim Weiterblättern kommen prompt wieder sehr Männer-orientierte Inserate: Der unverwüstliche Braun-Sixtant, die Elac-Phonogeräte („für Kenner meisterlicher Musik“), knackscharfe Agfa-Filme und winzige Minox-Kameras, dazu Mercedes und BMW s in ihrer ganzen Retro-Schönheit….
Müsste ich weiter ausführen, was denn nun so „epochal“ anders war in dieser Illustrierten-Welt  von vor einem halben Jahrhundert, dann würde ich noch die deutliche Text-Lastigkeit herausheben.
Im redaktionellen Teil fallen ganze Seiten auf mit „Blei-Wüste“, also ununterbrochenen Text-Passagen, sehr belehrend geschrieben und mit vielen anbiedernden Formeln an den „werten Leser“. Und was die Werbung angeht: Auch hier scheuen die Macher sich nicht, ungemein viel Text zu gebrauchen. Lacalut Mundwasser wird beworben mit drei kleinen Fotos, aber über 200 Worten!  Noch extremer: Die Firma Schwarzkopf gibt auf einer ganzen Seite "spezielle Haarpflegetips." Siebzig Prozent Text, dreißig Prozent Fotos, natürlich von adretten Frauenköpfen.  Aber man erfährt von den Haarspezialisten wenigstens, dass das deutsche Friseurhandwerk für die Saison Frühjahr-Sommer 1964 die Frisurenmode „Angélique“ kreierte, ebenso kleidsame wie praktische Frisuren – „das Haar ist an den Seiten kurz, der Pfiff liegt in der klassisch gestreckten Silhouette!“
Als Schlusspunkt noch ein EPOCA-Werbe-Beispiel , das heute ebenfalls fast anachronistisch wirkt: „Für alle, die Freude am Schreiben haben, präsentiert Geha eine Kollektion technisch vollendeter Schreibgeräte. Ob Sie die exklusive Geha-Goldschwinge mit der großen Goldfeder oder eines der anderen formschönen Geha-Modelle wählen- stets verwöhnen wir Sie mit einzigartigen technischen Vorzügen wie Geha-Reservetank, automatischem Tintenzufluss und höchster Langlebigkeit…“
Nun, zu meiner Schande muss ich gestehen, dass  ich selber schon ewig keinen Füller mehr in der Hand gehalten habe. Dabei bewundere ich Menschen, die  diese Kunst weiter pflegen, nämlich per Hand, mit satter Tinte unverwechselbar schön schreiben zu können .
Hätte ich jetzt so einen Geha-Füllfederhalter zur Hand,  gerne mit großer Goldschwinge, dann würde ich meine Wünsche zum Neuen Jahr hier handschriftlich anfügen, gleichsam also ein höchst persönliches Ausrufezeichen setzen. Aber es geht nicht.  Ich lebe längst in einer anderen Zeit.


Anmerkung von eiskimo:

Was sich nicht verändert hat: Das Titelbild der EPOCA November 1964 zeigt Romy Schneider, jung und hübsch. Meine Fernsehzeitschrift im Dezember 2020 zeigt Sissi, jung und hübsch

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (31.12.20)
Du bist wohl nicht oft umgezogen, gell Eiskimo?

Die Zeitschrift ist mir auch noch ein Begriff und bildet eine schöne Metapher für die Vergänglichkeit des vermeintlich Epochalen.
Was bleibt - wie du sehr richtig bemerkst - sind Sissi und ein Geha-Füller!

Lächelnde Grüße
der8.Silvesterzwerg

 eiskimo meinte dazu am 31.12.20:
Danke, dass du dir diesen sehr lang geratenen Text zu Gemüte geführt hast.
Du hast das gut erkannt: Ich bin lang nicht mehr umgezogen. Ich habe auch noch im Fundus die " Magnum", eine Kunstzeitschrift des Dumont-Verlages (die Jahrgänge 1963 bis 1966), ein paar Spiegel-Ausgaben dieser Jahre, vor allem aber meine eigenen Tagebücher.
Mein erstes selbst zusammengebautes Fahrrad steht auch noch im Keller.
Eigentlich würde ich gerne die Zeit anhalten. Zumindest deutlich bremsen. Der ganze Film läuft mir viel zu schnell. Ich komm kaum mit, verstehe nur die Hälfte....
Grüße aus dem Slow
Eiskimo

 AZU20 (31.12.20)
So wiederholt sich alles.LG und guten Rutsch
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