Dialog zwischen dem Tod und einem Sterbenden

Dialog zum Thema Sterben

von  EkkehartMittelberg

Der Tod: Deine Zeit ist abgelaufen. Ich komme, dich zu holen, mein Freund.

Der Sterbende: Ich habe dich erwartet und bin bereit.

Der Tod: Ich treffe nur selten jemanden, der nicht um eine Verlängerung seines Lebens kämpft und bereit ist mitzukommen.

Der Sterbende: Wenn du es so sagst, wird es so sein. Doch welchen Sinn hätte es, sich zu sträuben? Du hast gesagt, dass meine Zeit abgelaufen ist. Es wird das Beste sein, dir zu vertrauen. Das macht das Unausweichliche leichter.

Der Tod: Hast du Wünsche, die deine Vergangenheit betreffen? Nicht, dass ich das Vergangene ändern könnte. Ich bin nur ein Instrument des Schicksals. Aber deine Antwort interessiert mich, weil du so gefasst bist.

Der Sterbende: Meine Vergangenheit ist nicht zu ändern. Aber Wünsche hat man bis zum Schluss. Ja, ich wünsche mir, dass meine besseren Eigenschaften in meinen Kindern fortleben und ich hoffe,
dass die Menschen mir verzeihen können, denen ich Unrecht getan habe.

Der Tod: Ich habe viel gesehen und weiß aus Erfahrung, dass dein erster Wunsch nicht unmöglich ist, aber auch von den Willensentscheidungen deiner Kinder abhängt. Dein zweiter Wunsch wird teilweise in Erfüllung gehen; denn die Zeit schafft Distanz und gibt denen, die du gekränkt hast, die Möglichkeit, über deine Motive und ihr eigenes Verhalten nachzudenken, sodass ihnen das, was du für Unrecht hältst, in einem milderen Licht erscheinen kann.

Der Sterbende: So will ich bis zuletzt hoffen und glauben, dass sich die optimistische Seite deiner Antwort erfüllt.

Der Tod: Ich bin nicht befugt, dir zu sagen, was jetzt auf dich zukommt, weil meine Aufgabe nur darin besteht, dich in eine Anderswelt zu geleiten. Aber magst du mir auch mitteilen, welche Vorstellungen du von dieser anderen Welt hast?

Der Sterbende Warum nicht? Ich habe oft genug darüber nachgedacht. Ich erwarte, dass ich bald in einen tiefen, traumlosen, ewigen Schlaf versinke. Ganz sicher bin ich mir nicht, denn ich bin im Vergleich zum Universum nur ein unermesslich winziges Staubkorn. Aber klügere Staubkörner als ich es bin, glauben oder schließen zumindest nicht aus, dass im Universum eine schönere Welt auf uns Menschen wartet als die, die ich jetzt verlasse. Du weißt: Sie nennen sie symbolisch Paradies. Und andere kluge Staubkörner halten es für möglich, dass wir in einer anderen Gestalt zu einem neuen Leben wiedergeboren werden. Ich glaube nicht an das Paradies, halte aber eine Wiedergeburt für möglich.. Aber ich lasse mich überraschen.
Nur eines erwarte ich mit Gewissheit nicht: irgendein Strafgericht mit anschließenden Höllenqualen. Deshalb sterbe ich ruhig.

Der Tod: Ich danke dir für deine bereitwillige Auskunft, mein Freund. So nimm denn meine Hand. Ich werde dich behutsam führen.

Der Sterbende schließt die Augen und meint, der Tod habe gelächelt.

© Ekkehart Mittelberg, September 2013, überarbeitet im April 2021

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Terminator (19.04.21)
Was hat denn physische Größe mit Bedeutung zu tun? Eine einzige menschliche Seele ist wichtiger als 1000 mit Staubkörnern und anderen physikalischen Objekten volle Weltäller.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.21:
Die Staubkörner nehmen sich und andere Staubkörner zu wichtig, so wichtig, dass sie das Partikelchen Erde, auf dem sie wohnen, mit Atomwaffen bedrohen. Angesichts der Allmacht des Todes sind wir nichts. Danke für deine Frage.

 harzgebirgler (19.04.21)
vermutlich bleibt eh in der agonie
ein solcher dialog mehr utopie.

lg
henning

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 19.04.21:
Merci, Henning,

für die Mitteilung unserer letzten Gedanken
setzt der Tode sehr hohe Schranken.

LG
Ekki

 Graeculus (19.04.21)
Das erscheint mir weise und gefaßt.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 19.04.21:
Gracias, Graeculus,
was vor deinem Urteil Bestand hat, kann nicht schlecht sein.
LG
Ekki

 indikatrix (19.04.21)
Ein Freund machte mich auf den Liedtext "Death 's Love Song" von Reina del Cid aufmerksam. Da gibt es Verwandtschaft, fand ich, zu deinem tröstlichen Text.
Danke und Liebe Grüße,
Indikatrix

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 19.04.21:
Vielen Dank, Indikatrix, dieser Song von Reina del Cicf ist wirklich eine schöne Ergänzung. Mit dem Tod als suitor and lover kann man in einen Dialog eintreten. Es ist erstaunlich, dass sich eine so junge Frau diesem Thema öffnet.
Liebe Grüße
Ekki

 Soshura (19.04.21)
In größter Notwendigkeit Dein Freund, der Tod, Dich befreit.

Ich mag den Freund, sowohl den am Anfang, als auch den am Ende.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 19.04.21:
Merci Soshura, ich habe gerade festgestellt, dass du heute Geburtstag hast und hoffe, dass dein Freund dir noch etliche Geburtstage gönnt. Herzlichen Glückwunsch
Ekki

 AchterZwerg (19.04.21)
Der Weise kann loslasssen und geht in Frieden. :)

Liebe Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.21:
Grazie, Piccola, mir fällt dazu das Wortspiel ein: Das Loslassen ist die Lösung.

Liebe Grüße
Ekki

 eiskimo (19.04.21)
Eine sehr lesenswerte Annäherung an das Ende... Sie endet mit einem Lächeln.
vG
Eiskimo

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.21:
Merci, Eiskimo, ich wollt diese Variante auch mal erwähnen. Man liest die tragischen so oft.
LG
Ekki
Stelzie (55)
(19.04.21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.21:
Vielen Dank, Kerstin, es ist wichtig, früh den Perspektivwechsel zu vollziehen, dass das leben zum Tod gehört.
Liebe Grüße
Ekki

 Moja (19.04.21)
Als ich Deine Geschichte las, Ekki, erinnerte ich mich, wie der Sterbende am Ende lächelte, als der Tod gelassen im Zimmer stand, nur ich war überrascht, dass es plötzlich so einfach sein sollte, die andere Grenze zu überschreiten.
Danke für den schönen Dialog und lieben Gruß,
Moja

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.21:
Liebe Moja, vielleicht ist die Grenzüberschreitung viel leichter als wir denken. Etwas anderes sind physische Schmerzen, die uns hoffentlich erspart bleiben.
Liebe Grüße
Ekki

 Artname meinte dazu am 19.04.21:
Auch mir fiel das Lächeln des Todes besonders auf. Allerdings eher als das versteckte Lächeln von jemanden, der es besser weiß... aber selbst das empfinde ich im sanften Licht der Geschichte nicht so tragisch... das ist eben die Stärke von Eckhards Erzählweise.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.21:
Merci, Artname, es ist in meinem Sinne, dass das Lächeln des Todes unterschiedlich gedeutet wird. Nur eine Deutung schließt der Kontext aus, es ist nicht hinterhältig.
Sin (56)
(19.04.21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.04.21:
Gracias, mein Freund, ich kann mir nur vorstellen, dass das Strafgericht in unserem eigenen Gewissen liegt. Aber wer bin ich, dass ich irgendjemanden missionieren möchte?
LG
Ekki
Sin (56) meinte dazu am 19.04.21:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 TassoTuwas (20.04.21)
Hallo Ekki,
also so ein Strafgericht fände ich nicht schlecht. Nicht dass ich glaube dort unbehelligt heraus zu kommen, ich denke ein paar Jahre Fegefeuer könnte es geben.
Gäbe es aber kein himmlisches Gericht, können sich alle irdischen Schwerverbrecher die Hände reiben!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.04.21:
Merci Tasso,
falls Schwerverbrecher gläubig sind, machen sie es wie die Mafiosi. Sie morden munter weiter, lassen sich danach die Absolution erteilen und reiben sich dann die Hände.
Herzliche Grüße
Ekki

 Dieter Wal (20.04.21)
In der fiktiv-prophetischen Schrift Khalil Gibrans "Der Prophet" gibt es zwei Kapitel, die ich besonders liebe. Das Erste und das Vorletzte: "Von der Liebe" und "Vom Tod".

Der offensichtlich mystisch erfahrene Gibran fand in "Der Tod" sehr viele überwältigend schöne, tiefsinnige Metaphern für Leben und Tod, die er als vielfältige miteinander wechselseitig verbundene Einheiten darstellt.

Meine liebste Stelle:

"Eure Angst vor dem Tod ist nichts als das Zittern des Hirten,
wenn er vor dem König steht, der ihm zur Ehre die Hand auflegen wird.
Freut sich der Hirte unter seinem Zittern nicht, dass er das Zeichen des Königs tragen wird?

Doch gewahrt er sein Zittern nicht viel mehr?

Denn was heißt sterben anderes, als nackt im Wind zu stehen und in der Sonne zu schmelzen?
Und was heißt nicht mehr zu atmen anderes, als den Atem von seinen rastlosen Gezeiten zu befreien, damit er emporsteigt und sich entfaltet und ungehindert Gott suchen kann?"

(Übersetzt aus dem Englischen von Karin Graf.) Patmos-Verlag 2010.

Das Zittern des Hirten kenne ich. Danach sind alle Fragen nichtig. Er beschreibt Sterben als Gotteserfahrung und ein irgend geartetes Weiterleben als fortgesetzte Gottessuche. Das halte ich für einen erhabenen Standpunkt.

Dein versöhnt skeptizistischer gefällt mir auch sehr.

Kommentar geändert am 20.04.2021 um 11:30 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.04.21:
Hallo Dieter, ich finde die Metaphern von Khalil Gibran auch begeisternd schön. Gracias.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram