Die Teppichknüpferin

Kurzgeschichte zum Thema Fantasie

von  EkkehartMittelberg

Ihr Leben ist hart. Der Lohn reicht kaum, den Hunger ihrer Familie zu stillen. Meistens denkt sie während der mechanisierten Bewegungen darüber nach, wo sie nach dem langen Arbeitstag zu besonders günstigen Bedingungen einkaufen kann. Aber diese Gedanken erschöpfen sich schnell und dann dehnen sich die Stunden bis zum Ende der Schicht, in denen sie sich rastlos ohne neue Belebung immer wieder im Kreise drehen.

Doch seit einigen Tagen vergeht die Zeit nicht mehr so quälend langsam. Sie arbeitet an einem Teppich mit einem Liebesmotiv aus Tausend und einer Nacht und sie hat sich in den Prinzen verliebt. Sie weiß, wenn er sie heiratet, dass sie nur eine von vielen Frauen im Harem sein wird.

Aber sie wird um seine Liebe kämpfen, um von ihm bevorzugt zu werden. Sie malt sich den Garten des Palastes aus, in dem sie die schönsten Blumen für ihn pflücken wird. Sie stellt sich das glitzernde Wasser der Ouelle vor, das sie für ihn schöpfen wird. Sie denkt an seinen schönen Körper, den sie zart wie keine andere streicheln wird. Sie erfindet erotische Verse, die sie ihm ins Ohr flüstern wird und sie hat Erfolg.

Heute hat er zum ersten Mal die Reihenfolge durchbrochen, nach der er in jeder Nacht eine andere liebt. Sie darf auch in der folgenden Nacht zu ihm kommen. Die Zeit wird knapp, sich eine Überraschung auszudenken, die für ihn neu ist.

Jetzt schrillt die Glocke für eine kurze Pause. Hoffentlich ist die bald vorbei, denn sie muss sich das immer gleiche frustrierende Geschwätz ihrer Kolleginnen anhören, das sie von ihrem Prinzen ablenkt.

Am nächsten Tag ist Zahltag. Nachdem sie die paar Dinare nachgezählt hat, zerreißt das feine Gewebe ihrer Fantasie. Sie macht sich Vorwürfe, diesmal nicht an ihre hungrige Familie gedacht zu haben. Schuldbewusst eilt sie zum Markt und hofft noch ein Schnäppchen zu machen.

Als sie todmüde in den Schlaf fällt, freut sie sich auf ihren Prinzen. Es weiß ja keiner, dass er existiert und solange sie an diesem Teppich arbeitet, bleibt das Serail ihrer Liebe für Eindringlinge verschlossen.




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Kommentare zu diesem Text


 Regina (21.11.23, 02:50)
Sie flieht in eine Traumwelt, um der beinharten Realität zu entkommen. Wobei das Handwerk vor allem dann zur Quälerei wird, wenn die Arbeitsbedingungen, also Tages- und Wochenstunden, Urlaub und Pausenregelungen unmenschlich sind.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.11.23 um 10:36:
Merci, Regina, es geht mir um die Flucht ihn die Traumwelt.

LG
Ekki

 AchterZwerg (21.11.23, 06:52)
Lieber Ekki,

deine Kurzgeschichte erinnert mich spontan an Virginia Woolf's "Ein Zimmer für sich allein."
Auch bei dir möchte die Protagonistin endlich etwas für sich haben. Etwas, das ihr hilft, den harten Alltag zu ertragen.
Obwohl es sich hier um einen unerfüllbaren Traum handelt, schenkt ihr allein die Vorstellung (punktuell) Zufriedenheit und Glück.

Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 21.11.23 um 10:41:
Grazie, Piccola, nicht jede Flucht muss negativ beurteilt werden.

Herzliche Grüße
Ekki

 willemswelt (21.11.23, 08:04)
Sehnsucht und Träume machen für mich die Hälfte des Lebens aus-ein solch gelungenes Bild ist dir sehr gelungen,Ekki,einen Gruß zum Morgen,Willem

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 21.11.23 um 10:43:
Gracias, Willem, ich freue mich über deine Anerkennung.

LG
Ekki

 Saira (21.11.23, 10:44)
Lieber Ekki,
 
Ich habe zu diesem Thema folgendes Zitat aus  https://www.kinderarbeitstoppen.at/unsere-ziele kopiert:
 

 Indien: Kinderarbeit in der Teppichproduktion
Indien ist weltgrößter Exporteur von handgewebten Teppichen, die auch bei uns im Handel erhältlich sind. Allein im sogenannten Teppichgürtel arbeiten rund 200.000 Kinder als Teppichknüpfer*innen. Viele Kinder erleiden durch die Arbeit an den Webstühlen dauerhafte Gesundheitsschäden, die Wollfasern belasten ihre Atemwege, die Chemikalien zur Behandlung der Garne führen manchmal zu Vergiftungen, die lange Arbeit in gebeugter Haltung beeinträchtigt Muskeln und Knochen. Nur jedes dritte Kind, das in der Teppichindustrie arbeitet, besucht die Schule. Die Dreikönigsaktion unterstützt in Indien Partnerorganisationen, die sich für die arbeitenden Kinder einsetzen.

 
Kinder und Frauen werden in der Dritten Welt unmenschlich ausgebeutet. Verdienen tun die Händler.
 
Du hast ein sehr berührendes Bild von einer Teppichknüpferin aufgezeigt.
 
Herzlichst
Sigi

Kommentar geändert am 21.11.2023 um 10:44 Uhr

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 21.11.23 um 10:54:
Liebe Sigi,
ich danke dir sehr für den realen Hintergrund zu meinem Text.

Herzlichst
Ekki

 diestelzie (21.11.23, 15:47)
Manchmal sind es die Träume, die das Leben aushaltbar machen.

Liebe Grüße
Kerstin

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 21.11.23 um 17:13:
Vielen Dank, Kerstin. Sie sind zwar Flucht. Aber ich würde sie nicht kritisieren.

Liebe Grüße
Ekki

 Teo (21.11.23, 18:14)
Hallo Ekki,
Sigi hat das Thema nochmal ausführlich betrachtet. Ausbeutung, Kinderarbeit und Armut. Trotz einer Tätigkeit, die aber jämmerlich entlohnt wird. Das man sich da in eine Scheinwelt flüchtet, ist nur zu gut zu verstehen.
Macht nachdenklich, deine Kurzgeschichte.
Gruß 
Teo

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.11.23 um 20:21:
Merci für deine Empfehlung, Teo
Gruß
Ekki
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