Die Legende

Erzählung zum Thema Mystik

von  Saira

 

Dunkelheit um sie herum und doch nicht Finsternis. Verwirrung. Vor ihr lag eine unendlich lang erscheinende Straße unter dichtem grauem Nebel, angestrahlt vom fahlen Licht des Vollmondes, in diffus leuchtendes Nichts gehüllt. Kälte.

 
Ein Geräusch. Sie drehte sich um. Ein Auto fuhr davon, die Rücklichter verschwanden in der Schwärze. Sie wusste nicht, wo sie war. Stille - nur ihr Atem hallte viel zu laut von den Häuserwänden zurück. Knirschen. Sie erschrak, aber es waren ihre eigenen Schritte, die den feinen Sand auf dem brüchigen Asphalt zerrieben. Sie ging vorwärts, lief schneller und kam doch nicht voran. Ihre Augen blickten zur Seite. Die Häuser standen viel zu nah, schattenlos, obwohl ihr Körper Schatten in den Nebel warf.

 

Keine Fenster, keine Türen, nur tiefschwarze Löcher, aus denen stumme Schreie verzweifelter Seelen ihre Sinne schmerzhaft berührten. Sie blieb stehen und lauschte. Die stummen Schreie schwiegen. Eine Wolke verdeckte langsam den Mond. Das leuchtende Nichts vor ihr hauchte aus. Finsternis. Wieder ein Geräusch. Hecheln. Angst schnürte ihr die Kehle zu. „In ein Haus, in ein Haus“, schrie es in ihr. Sie rannte in die Richtung, in der sie die Häuserfronten eben noch gesehen hatte. Sie lief atemlos, blind, mit weit nach vorn gestreckten Armen, bereit auf eine Mauer zu prallen und sich dann tastend ein Versteck zu suchen. Doch ihre Hände griffen ins Leere.

 

Hecheln, Knurren. Nah - viel zu nah. Das kalte Grauen presste ihr den Atem aus den Lungen. „Weg, nur weg von hier“, kreischte eine verzweifelte Stimme in ihrem Kopf. Sie stolperte, stürzte, rappelte sich wieder hoch und rannte von Furcht getrieben vorwärts. Schneller, schneller! Sie blickte sich um. Grauenhaft leuchtend gelbe Augen schwebten hinter ihr und starrten sie an. Sie hetzte weiter – und kam nicht weg. Zwei riesige Arme wurden hochgerissen, um sie zu packen. Sie schrie, schrie, schrie ...

 

„Wach auf!“ rief eine Stimme und schüttelte sie. „Wach auf, Susanne!“ Sie schlug verwirrt die Augen auf und hörte noch ihren letzten Schrei. Sie zitterte. „Was ... was ist los?“, fragte sie, noch immer nicht vollständig in die Realität zurückgekehrt.

 

„Du hattest einen Alptraum, Liebling“, antwortete der Mann neben ihr. „Du hast geschrien und um dich geschlagen!“

 

Susanne erhob sich. Ihr Gesicht war nassgeschwitzt und das dünne Nachthemd, das sie über ihren nackten Körper trug, klebte an ihrer Haut. „Mein Gott!“, sagte sie kopfschüttelnd. „Das war alles so furchtbar real, Manfred!“

 

Er nahm sie in die Arme und drückte sie tröstend an sich. „Beruhige dich, Schatz“, sagte er mit leiser Stimme. „Es war nur ein Traum.“

 

„Ich weiß nicht, Manfred“, erwiderte sie. „Ich hatte schon oft Alpträume, aber so schlimm und real war noch keiner. Ich spüre noch jetzt das kalte Grauen in mir.“

 

Manfred küsste sie auf die Stirn. „Willst du mir den Traum erzählen?“, fragte er.

 

Susanne schüttelte wieder den Kopf und stieg aus dem Bett. Nachdenklich blieb sie vor dem Fenster stehen. „Die Legende!“ entfuhr es ihr plötzlich.

 

Manfred schaute sie verdutzt an. „Die Legende? Was für eine Legende?“


Sie drehte sich zu ihm um. „Die Legende vom Schmied. Welche Legende sollte ich sonst meinen?“

 

„Quatsch!“, sagte Manfred. „Die Legende vom Schmied ist ein Märchen, Schatz. Irgendein fantasievoller Spinner hat sie sich ausgedacht, um kleine Kinder zu erschrecken.“

 

„Das glaube ich nicht“, widersprach Susanne. „Der Schmied wurde damals wirklich umgebracht und auch seine Ex!“

 

„Ja, ich weiß“, schnitt ihr Manfred das Wort ab. „Das ist aber auch schon das Einzige was an dieser blöden Geschichte stimmt! Mach’ dich bitte nicht lächerlich, Liebling!“

 

Die Legende war vor etwa 200 Jahren im Nachbarort entstanden, nachdem der Schmied von seiner untreuen Ehefrau und deren Geliebten auf bestialische Weise umgebracht worden war. Er soll noch im Sterben seine Seele verflucht und so daran gehindert haben, in den Himmel aufzusteigen, um Rache zu üben. Es hieß, dass das Mörderpärchen nur kurze Zeit später schrecklich zugerichtet in seinem Bett aufgefunden worden war. Die Legende berichtet weiter, dass der Rachedurst des Schmieds bis heute nicht gestillt sei, betrogene Eheleute ihn anrufen und um Vergeltung bitten könnten. In der niedergeschriebenen Legende steht:

Anrufer,
flüstere dreimal meinen Namen und gebe als Preis zehn Jahre deines Lebens und einen halben Liter Blut, damit der Schmied sein Werk vollbringen kann.


Verdammter,
wenn der Nebel von Kromabaak über dich kommt und die unendliche Straße der verdammten Seelen vor dir liegt, schließe mit dem Leben ab. Du wirst gehen und doch nicht gehen, du wirst laufen und doch nicht laufen, du wirst sehen was du nicht fassen kannst und du wirst hören den Gesang der Verfluchten.


Susanne zog sich schweigend an. Manfred ging zu ihr und legte die Arme um sie. Er schaute sie an. „Bist du jetzt beleidigt?“, fragte er.

 

„Nein!“, antwortete Susanne. „Ich dachte eben nur an Joachim.“


Er ließ sie los. „Ach ja“, sagte er bitter. „Dein Mann kommt ja heute zurück.“

 

„Du hast keinen Grund eifersüchtig zu sein.“

 

„Mir behagt die Vorstellung nicht, dass du ihm heute Nacht zu Willen sein wirst!“

 

„Er ist immerhin mein Mann. Wenn ich nicht mehr mit ihm schlafen würde, könnte er leicht Verdacht schöpfen!“

 

Manfred nickte. „Du hast Recht, Schatz“, sagte er. „Damit ich am Abend nicht daran denken muss, werde ich mir ein paar Drinks hinter die Binde gießen.“

 

Susanne schaute ihn an. „Du bist mir doch nicht böse, dass ich jetzt schon gehe?“, fragte sie und schlüpfte in ihre Schuhe. „Ich brauche einfach noch etwas Zeit für mich, bevor Joachim kommt.“

 

Manfred schüttelte den Kopf und ging zum Kleiderschrank, um sich ein sauberes Hemd herauszuholen.

 

„Wir sehen uns übermorgen“, sagte Susanne, küsste ihn und verließ die Wohnung.

 

Susanne öffnete die Tür. Sie erschrak. „Du siehst furchtbar aus, Liebling“, sagte sie und ließ ihren Mann vorbei. „Was ist passiert?“

 

Joachim stellte die Tasche ab, zog das Sakko aus und hängte es an die Garderobe. „Es geht mir gut, Susi“, antwortete er. „Ich habe nur eine sehr anstrengende Reise hinter mir. Ich werde eine Dusche nehmen und mich eine Stunde auf’s Ohr legen. Du wirst sehen, danach bin ich wie neu!“

 

Susanne beobachtete ihren Mann, während er das Hemd auszog und über die Couch warf. Sein linker Unterarm war verbunden.

 
„Was ist mit deinem Arm?“, fragte sie besorgt. „Hast du dich verletzt?“


„Ich habe mich gestoßen“, erwiderte er. „Mach’ dir keine Sorgen, es ist nichts Schlimmes.“

 

Sie blickte ihn nachdenklich an. „Mein Gott“, dachte sie, „alt ist er geworden und ich habe es die letzten Jahre nicht einmal bemerkt.“


Joachim hatte nun auch die Schuhe abgestreift und die Hose ausgezogen. Er gähnte. „Wir essen heute Abend bei den Schallerichs“, meinte er und ging die Treppe zur oberen Etage hinauf. „Zieh dir also etwas Nettes an.“

 

Die Uhr schlug sieben Mal. Joachim trug einen dunklen Zweireiher und Susanne hatte ein hellblaues Cocktailkleid angezogen.


„Hübsch siehst du aus“, stellte er fest. Susanne antwortete mit einem Lächeln. Sie verließen das Haus. Die große, schwarze Limousine stand bereits in der Einfahrt. Der Chauffeur hatte den Wagen aus der Garage gefahren. Joachim verzichtete an diesem Abend auf den alten Max, er wollte den Wagen selbst lenken.

 
Die Fahrt ging über die Hauptstraße zur Ortsgrenze. Die Schallerichs, eine alteingesessene Bankiersfamilie, lebte am Rande des Nachbarortes.

 

Susanne blickte ihren Mann von der Seite an. „Er ist immer noch sehr blass“, dachte sie und fragte sich, ob er vielleicht krank war und er es ihr verheimlichte?

 

Joachim steckte sich ein Zigarillo an. Er steuerte den Wagen aus dem Ort heraus und bog auf halber Strecke nach links ab.

 
„Das ist der falsche Weg“, rief Susanne. „Zu den Schallerichs geht es rechts entlang!“

 

Joachim öffnete das Seitenfenster und warf das Zigarillo hinaus. Als das Fenster wieder geschlossen war, sagte er mit belegter Stimme: „Du betrügst mich!“

 

Susanne schluckte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie wollte etwas entgegnen, aber es kam kein einziges Wort über ihre Lippen. Stattdessen erzählte Joachim, wie er mit Hilfe von Detektiven hinter ihre Affaire gekommen war.

 

Fast unbemerkt fuhren sie durch eine Nebelwand, die so schnell verschwand, wie sie auftauchte. Susanne blickte sich irritiert um, aber sie sah nur die sternenklare Nacht.

 

 „Das war kein Ausrutscher. Den hätte ich dir verzeihen können“, sagte Joachim zum Schluss. „Aber du hast mich jahrelang betrogen und belogen, dich großzügig an meinen Konten bedient und das Geld mit deinem Lover durchgebracht.“

 

„Was hast du vor, Joachim?“, fragte Susanne ängstlich. Joachim antwortete nicht. Er bremste den Wagen ab, beugte sich über sie und öffnete die Beifahrertür.

 

Susanne schaute zur Seite. Die Straße war zwar nur spärlich beleuchtet, aber sie erkannte das Haus, in dem Manfred’s Apartment lag. Sie blickte ihren Mann fragend an.

 

„Hier gehörst du hin“, sagte er. „Steig aus!“

 

Susanne zögerte eine Sekunde, dann kletterte sie wortlos aus dem Auto. Joachim zog die Beifahrertür zu.

 

„Hatte er nicht eben gelacht?“ Susanne drehte sich noch einmal zu ihrem Mann um und beugte den Kopf etwas hinunter, um ihn besser durch das Autofenster sehen zu können. Joachim blickte sie mit ernstem Gesicht an.

 

Sie ging auf das Haus zu. Plötzlich verschwamm die Tür vor ihren Augen und schien sich aufzulösen. Ihr Zeigefinger, mit dem sie die Klingel drücken wollte, tauchte ins Leere.


Dunkelheit um sie herum und doch nicht Finsternis. Verwirrung. Vor ihr lag eine unendlich lang erscheinende Straße unter dichtem grauem Nebel, angestrahlt vom fahlen Licht des Vollmondes, in diffus leuchtendes Nichts gehüllt. Kälte.

 
Susanne drehte sich hastig um. Ein Auto fuhr davon, die Rücklichter verschwanden in der Schwärze. Sie zuckte zusammen. Eine leise, ängstliche Stimme rief ihren Namen und eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf.

 

Manfred! Seine aufgerissenen Augen blickten sie verstört aus kalkweißem Gesicht an.

 

Verzweifelte Schreie drangen aus ihren Kehlen. Sie wussten, wo sie waren ...

 

 

 

© Sigrun Al-Badri/ 2024

 



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Kommentare zu diesem Text


 GastIltis (27.02.24, 18:04)
Liebe Sigi,
wenn man wie ich, am Tag vor deinem Text ausnahmsweise einen TV-Abend mit einem Film von Schirach über die Themen Untreue, Vergewaltigung, Trennung, Scheidung, Gericht usw. eingelegt hat, das auch noch im ähnlichen Milieu spielt (er Aufsichtsratsvorsitzender, sie Moderatorin), bei dir kommt auch eine Bankiersfamilie vor, ist man, in dem Fall, bin ich, etwas irritiert. Zumal auch im Film das Ende zwar nicht ganz, aber halbwegs offen bleibt. Deine mystische Legende ist am Anfang sowie am Ende sehr gruselig, dazwischen ist mir der Übergang von einem Partner zum anderen etwas krass. Dagegen waren die Liebenden im gestrigen Film, die sich von ihren Familien halbherzig nicht, und untereinander eigentlich überhaupt nicht trennen wollten, ein wenig überzeugender. Aber da war das Ende, außer den familiären Schnitten, ja offen.
Ansonsten melde ich mich noch per PN.
Liebe Grüße von Gil.

 Saira meinte dazu am 27.02.24 um 22:38:
Lieber Gil,

ich nehme an, du beziehst dich auf den Film "Er sagt, sie sagt". Die Vorschau habe ich gesehen, den Film leider nicht. Daher kann ich ihn auch nicht mit meiner Erzählung vergleichen. Gerne hätte ich es gekonnt, um vom Film lernen zu können.

Meine "Legende" ist halt nur eine mystische Erzählung, die meiner Fantasie entsprungen ist und mit dem gestrigen Film in keinster Weise mithalten wollen würde, aber deine Gedankenanstösse im Kommentar und per PN übernehme ich sehr gerne, sodass ich eine Überarbeitung in Betracht ziehe. Hab herzlichen Dank für deine konstruktive Kritik!

Liebe Grüße
Sigi

 AchterZwerg (28.02.24, 07:07)
Liebe Sigi,
mir gefällt die Geschichte ausgesprochen gut, gebe aber Gils Kritik in einem Punkt Recht: Ein (etwas) offeneres Ende wäre vermutlich schmückender ...
Ich würde nach "tauchte ins Leere" einfach Schluss machen.

Spannend erzählt und in der Art der "Bestrafung" folgerichtig. Besonders aufgrund der Blässe des Ehemanns (Blutarmut) und der vorzeitigen Alterung.

Herzliche Grüße
Heidrun

 Saira antwortete darauf am 28.02.24 um 10:08:
Liebe Heidrun,
 
deine Anregung, ergänzend zu Gils, ist für mich eine Überlegung wert, meine Erzählung zum Schluss hin zu kürzen. Auf diese Weise bliebe der Fantasie des Lesers viel Raum.
 
Für deine Gedanken (Blutarmut des Ehemanns ) und dein Lob danke ich dir!
 
Herzlichst
Sigi

 plotzn (28.02.24, 08:58)
Liebe Sigi,

was für eine gruselige Geschichte! Musste erst mal zwei Folgen Sandmännchen gucken, bevor ich einschlafen konnte...

Nein, im Ernst, stark geschrieben. Die stakkatohaften Ein- und Zwei-Wort-Sätze lassen Spannung und Puls steigen und am Ende schließt sich der Kreis (in erweiterten Sinne).

Herzliche Grüße
Stefan

P.S.: Der von Gil erwähnte Film ist nicht nur vom Inhalt sondern auch von den schauspielerischen Leistungen her absolut sehenswert.

 Saira schrieb daraufhin am 28.02.24 um 10:14:
Lieber Stefan,

Sandmännchen hilft immer oder aber ein Kissen vor´s Gesicht halten, was für ich beim Schreiben gar nicht so einfach war :dizzy:

Deine Wertung freut mich sehr!

Danke und liebe Grüße
Sigi

P.S.: Ich werde mir den Film noch anschauen. Man kann ihn sicherlich streamen.

 Teo (28.02.24, 09:39)
Moin Sigi,
meine Güte, du machs mich am gruseln!
Wie soll ich nur in meinen Mittagsschlaf kommen. Ich bin viel zu aufgeregt.
Egal....Klasse geschrieben!
Lieben Gruß 
Teo

 Saira äußerte darauf am 28.02.24 um 10:17:
Moin Teo,

Mittagsschlaf? Nix da, ab in den nebligen Wald ...

Danke für dein Lob! Freu mich :) 

Liebe Grüße
Sigi

 TassoTuwas (01.03.24, 11:34)
Liebe Sigi,
Liebe - Lüge - Leidenschaft!
Spannende Beschreibung des Netzwerks, das wir spinnen und in dem alle Beteiligten irgendwann zappeln.
Traum - Wirklichkeit - Alptraum.
Das kann sich keiner aussuchen!
Herzliche Grüße
TT

 Saira ergänzte dazu am 01.03.24 um 18:01:
Lieber Tasso,
 
das Leben schreibt wohl die schönsten Geschichten, aber dann gibt es die Fantasie, die fantastische spinnen kann. Bei Legenden wissen wir nicht, inwiefern ihr Kern der Wahrheit entspricht …
 
Ich danke dir für deine Gedanken dazu!
 
Herzliche Grüße
Sigi
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