Das Fotoalbum

Text

von  Mondscheinsonate

... meiner Großeltern machte mich so glücklich, dass ich darin versank. Man sah Urlaubsbilder vom Campingplatz, Opa und Oma beim Tanzen aufgenommen, aber wohlgemerkt Swing, ausgelassen, Oma lachte, auch posierte sie wie ein Hollywoodstar am Steg, spielte mit Opa Federball, schwamm im See - Opa nahm sie permanent auf - auch setzte er ihren modischen Hut auf, lachte, sie lachte auch. So viel Glück auf einem Platz. 


Auf den letzten Seiten fielen alte Dokumente heraus, manche mit Arierstempel, natürlich gebührenfrei mit Rufzeichen. Die gehörten allerdings meiner Urgroßmutter, auch Dokumente von deren Eltern. Damals war stets ein aufgeblähter Beamtenapparat, was für Nachkommen schön anzusehen ist, denn man erfährt aus einem Dokument dutzende Informationen. Hier, ein Trauungsschein vom 25.7.1887  wie neu liegt er vor mir, er dürfte seit 70 Jahren in dem Album geblieben sein:

Erzdiözese: Olmütz, Dekanat: M.Schönberg, R.k.Pfarre: Groß Ullersdorf. Ich sehe im Internet nach...

Eine reizende kleine Gemeinde in Tschechien.

Dort sind die Wurzeln auf Oma-Seite, obwohl sie in Ungarn auf die Welt kam.

In dem hiesigen Trauungsbuche Tom.K Fol.59 wird hiemit amtlich bezeugt, dass in der Pfarrkirche zu Groß Ullersdorf am fünf und zwanzwigsten Juli Eintausend acht hundert sieben und achzig, auch 25.7.1887 vom hochwürdigen Herrn Pfarrer Karl Nießer in Gegenwart von Zeugen: Ignaz Kapš, Drechsler in Kozianau, und Anton Ruprecht, Weber in Römerstadt nach römisch- katholischen Ritus kirchlich getraut wurden der Bräutigam (mein Ur-Urgroßvater) Müller Josef, Weber in Groß-Ullersdorf Nr 2, 24 Jahre alt, römisch-katholisch, ledig; Sohn des Josef Müller, Webers in Römerstadt, und dessen Gattin Juliana, geborenen Josef Schwarzer, Weber in Harrachsdorf; 

Braut ist die Schwetz Anna, wohnhaft in Groß-Ullersdorf Nr.5, 21 Jahre alt, römisch-katholisch, ledig; Tochter des Josef Schwetz, Papiermachergehilfe in Groß Ullersdorf, und dessen Gattin Anna, geborenen Franz Köhler, Häusler in Neudorf.


Meine romantische Ader sah sofort die Adressen und stellte sich diese Nachbarschaftsliebe vor. Ihr Großvater war arbeitslos, bettelte. Häusler waren Bettler. Ich stelle mir eine zierliche Frau vor, die es nicht leicht hatte. Und bei ihm war es vorbestimmt, dass der Sohn in die Fußstapfen des Vaters kam und die Ehe seiner Eltern war längst arrangiert von den Eltern der Eltern. Zwei Weber, die sich absprachen: "Meine Juliana bekommt der Josef!" 

Ich bin entzückt, so viel Information auf einem Dokument.

Und da noch ein Dokument aus 1862, da wurde Josef Müller, mein Ur-Ur-Großvater und deren Vater, also mein Ur-Ur-Ur-Großvater, war Taglöhner, Florian Müller in Glemkau geboren und dessen Gattin Eleonora, geborene Schneider, auch Taglöhner in Glemkau, beide römisch-katholisch. 

Juliana, deren Mutter Bibiana war, geborene Johann Grohmann, Weber in Harrachsdorf, auch römisch-katholisch. Der Pate mit h war Albert Brauner, Weber in Römerstadt und Genovefa, Tochter des Hilar Hofmann, Weber in Harrachsdorf. Hebamme war Katharina Just aus Römerstadt. 

Oh ja, die Ur-Ur-Großmutter litt sicher, der Familienstand war sicher nicht der, den sich die Weber vorstellten, aber die Liebe war stärker. Ich seufze.

Sie sind weggezogen, nach Reifendorf, denn meine Ur-Großmutter Leopoldine Müller kam am 21.11.1897 zur Welt.

Und dann kamen weitere Dokumente und es wurde immer klarer, warum sie so weitreichend zurückliegend, zusammenlagen, denn sie wurden für zwei Dinge gebraucht: 1. Ariernachweis, 2. Meine Ur-Großmutter wechselte 1937 zum evangelischen Glauben, warum, ist unklar, denn sie heiratete 1927 Wilhelm, obwohl meine Oma bereits 1918 auf die Welt kam, definitiv nicht von ihrem Mann war, wer der Vater war, fehlt, es liegt aber ein Schreiben von der Allgemeinen Invalidenversicherungsanstalt vor von 1952, wo die Ur-Großmutter Bescheid bekam, dass ihre Verstorbenenrente vom Verstorbenen des Ersten Weltkrieges gewährt wurde. Meine Güte, die große Liebe, gefallen im Krieg, übrig blieb das Kind. So jung, die Witwe. Mein Herz krampfte sich zusammen. Dasselbe wiederholte sich bei meiner Großmutter mit ihrem Sohn im Zweiten Weltkrieg. (Glaubte man, er verschwand nach Berlin, nach dem Absturz und sie bekam DAS TELEGRAMM!)

Nun, sie konvertierte 1952 wieder zum katholischen Glauben. Aber, sie dürfte nicht mit diesem Mann verheiratet gewesen sein, meine Oma also nur anerkannt, weil meine Oma hatte den Nachnamen der Weberfamilie, also Müller. 

Ich steige geistig aus. Aber, diese Dokumente sind schön, sie geben mir ein Stück mehr Identität. Auch war Leopoldine eine Arbeiterin und meine Oma wurde Krankenschwester, hatte aber das Mundwerk eines damaligen Arbeiters, so wie man es aus Zeitdokumenten kennt. Ich lache, finde das gerade schön. Weber - ich hatte in textilen Werken immer schlechte Arbeiten abgeliefert, mochte Arbeiten mit Stoff überhaupt nicht. Nein, meine Herkunft liegt mir nicht im Blut. Aber, jetzt würde ich doch gerne etwas von meinem Ur-Großvater erfahren. Schade. Wer er wohl war? 18 oder 20 Jahre alt. Sie kannte ich nur als verbitterte, bösartige alte Frau. Aber, das Leben machte sie zu dem, was sie wurde. 


Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Aron Manfeld.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Gabyi (06.07.24, 15:25)
Interessante Familiengeschichte. Ich habe noch eine Idee, warum du Textilarbeit nicht kannst oder magst. Es ist die reinste Epigenetk. Dein Körper hat die Aversion vorher gespeichert, in der DNA, RNA. Durch negatives Erleben oder so ähnlich.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 06.07.24 um 17:21:
Das mag sein, aber der Papiermachergehilfe, der ist in mir. Ich liebe Papier. Bei uns schlagen die Frauen durch :) Lieb finde ich Juliana, Bibiana...🥰

 AchterZwerg (06.07.24, 17:18)
"... 25.7.1887 vom hochwürdigen Herrn Pfarrer Karl Nießer in Gegenwart von Zeugen: Ignaz Kapš ..."

Ignaz Kapš hätte später eine sog. arische Hochzeit sicherlich nicht bezeugen dürfen, ahnt

der seufzende8.

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 06.07.24 um 17:23:
Nein, wohl nicht. Auf einem Dokument steht "dem angetrauten Weibe". Die Sprache finde ich großartig. Die Frauen stammen immer nur vom Vater ab. Weberfamilie. Dort dürfte eine große Fabrik gewesen sein, ich vermute es einmal.

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 06.07.24 um 17:29:
Schau! Furchtbar, aber man sieht die Pfarrkirche. Auch lieb.
https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenprozesse_von_Gro%C3%9F_Ullersdorf

 DanceWith1Life (07.07.24, 18:14)
ach ne, unsere Urgroßeltern lebten in derselben Gemeinde, schon lustig.

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 07.07.24 um 19:12:
Witzig. Die haben sich sicher gekannt.

 DanceWith1Life ergänzte dazu am 07.07.24 um 19:13:
gut möglich
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram